Es ist beinahe offiziell: Geld verdirbt den Charakter
Sinn und Konsum

Es ist beinahe offiziell: Geld verdirbt den Charakter

Ein KR-Leser wollte wissen, was es mit Menschen macht, wenn sie reich werden. Ich habe mir die Forschung dazu angeschaut: Die Ergebnisse sind nicht sehr schmeichelhaft.

Profilbild von Corinna Mayer

Wagen wir ein Gedankenexperiment: Auf diesen Artikel hin meldet sich ein edler Spender oder eine edle Spenderin bei mir, mit der Botschaft, dass er oder sie mich von heute an bis ans Ende meiner Tage mit monatlich 20.000 Euro fördern will. Die Überraschung kommt selbstredend unerwartet, daher platze ich fast vor Freude und kann mein Glück kaum fassen. Von nun an gehöre ich zu den wohlhabenden Menschen in Deutschland. In meinem Leben ändert sich binnen weniger Wochen einiges.

Die Veränderung vollzieht sich jedoch nicht nur auf meinem Konto und in meinem Kleiderschrank, sondern tatsächlich auch in meinem Gehirn.

„Wenn wir schnell zu viel Geld kommen, geraten wir unter Druck“, sagt Thomas Druyen, Professor für Vergleichende Vermögenskultur und Vermögenspsychologie in Wien. „Ist unser Gehirn überfordert und mit Emotionalität überschüttet, dann öffnet sich sozusagen ein Überdruckventil.“ Statt rationalem Denken komme das Bauchgefühl zum Tragen.

Wenn Druyen recht hat, mache ich mit meinem neuen Wohlstand das Gleiche wie viele Lottogewinner: erst mal Urlaub, Freunde beschenken, ein schickes Auto oder teure Klamotten kaufen. Langfristig glücklich werde ich allerdings nicht. Schnell gewöhne ich mich an meine neuen Umstände als Privilegierte und Abgesicherte und sinke zurück auf mein gewohntes „Glücksniveau“.

Aber auch mein Verhalten ändert sich. Ich sehe die Menschen auf der Straße kürzer an oder nehme sie insgesamt weniger wahr, entdeckten Forscher der New York University. Schenkt man den Ergebnissen einer Studie im Wissenschaftsmagazin Science Glauben, so halte ich als Reiche künftig größeren körperlichen Abstand zu meinen Mitmenschen.

Wirklich? Ich kann mir das Szenario kaum vorstellen, doch die Studien sprechen für sich.

Klar ist, dass Studien grundsätzlich nur Hinweise und Tendenzen geben können und nie eine abgeschlossene Wahrheit darstellen. Es liegen viele Nachforschungen zu dem Zusammenhang von Geld und Moral vor. Alle haben die gemeinsame Schwäche, dass tatsächlicher Reichtum schwer zu erforschen ist: Reiche Menschen stellen sich ungern bei Umfragen und Erhebungen zu Verfügung - und es gibt einfach vergleichsweise wenig von ihnen. Die unteren Beispiele zeigen „Workarounds“ der Forscher. Ebenso konnten die Forscher nicht final ausschließen, dass die Menschen, die im Experiment einen unsozialen oder distanzierten Charakter gezeigt haben, diesen nicht auch schon vorher hatten. Nichtsdestotrotz: auch, wenn sie im Einzelnen nicht repräsentativ sind, so zeigt sich - nach derzeitigem Stand der Forschung - im Gesamtbild doch eine Tendenz.

Reiche Menschen nehmen andere Menschen weniger wahr

Die zwei New Yorker Forscher haben auch untersucht, wie sich unsere soziale Schicht auf unser Sozialverhalten beziehungsweise auf die empfundene Relevanz anderer Menschen auswirkt. Hierfür wurden 61 Menschen mit Google-Brillen durch New York geschickt. Offiziell ging es darum, die Nutzerfreundlichkeit der Brillen zu testen, tatsächlich wurde aber die Augenbewegung der Testpersonen aufgezeichnet, also wen oder was sie wie lange ansahen.

Vor dem Test mussten die Teilnehmer in einem Fragebogen unter anderem angeben, welcher gesellschaftlichen Schicht sie sich selbst zuordnen würden: arm, Arbeiterklasse, Mittelklasse, obere Mittelklasse oder Oberschicht. Das Ergebnis: Die nach eigenen Angaben besser situierten Testpersonen beachteten andere Menschen auf der Straße kürzer, als es die Testpersonen aus unteren Gesellschaftsschichten taten.

Die Forscher mutmaßen, dass unsere Psyche darauf trainiert ist, die Umwelt nach den Menschen zu scannen, die unser Leben zum Positiven oder Negativen beeinflussen könnten. Reiche Menschen reagieren demnach unbewusst weniger intensiv auf andere Menschen, weil sie sich durch ihre finanzielle Absicherung als unabhängiger einschätzen.

Allein der Gedanke an Geld verändert uns innerhalb von Minuten

Das Science-Magazin berichtet von einem anderen bemerkenswerten Forschungsergebnis. Für insgesamt neun Experimente wurden zufällig ausgewählte Studenten verschiedener Studiengänge von Universitäten in USA, Kanada, China und Hongkong während der Experimente bewusst oder unbewusst an Geld „erinnert“. Ziel war, herauszufinden, inwiefern allein der Gedanke an Geld das Verhalten beeinflusst.

In einem Experiment mussten 36 Studenten sechs Minuten lang in einem abgetrennten Zimmer an einem Schreibtisch sitzen und Fragebögen ausfüllen. Scheinbar zufällig stand auf dem Schreibtisch ein Computer, der einen Bildschirmschoner abspielte. Bei der einen Testgruppe zeigte er Fische, die über den Desktop schwammen, bei der nächsten Gruppe zeigte er Geldscheine, der Bildschirm der dritten Gruppe war leer. Nach der Bearbeitung des Fragebogens sollte jede Testperson neben sich für einen anderen Teilnehmer einen zweiten Stuhl stellen, um gemeinsam den Fragebogen zu besprechen. Die Testpersonen positionierten den Stuhl – und damit war das Experiment beendet. Ergebnis: die Probanden, die durch den Bildschirmschoner unbewusst an Geld erinnert wurden, platzierten den Stuhl für den Kollegen weiter entfernt von dem eigenen als diejenigen, die Fische oder gar nichts auf dem Bildschirm sahen.

Sechs Minuten reichten also aus, um durch die unbewusste Erinnerung an Geld das Bedürfnis nach einer größeren Distanz zu anderen hervorzurufen.

Reiche Menschen sind lieber allein und unabhängig

Auch weitere Experimente dieser Studie zeigen, dass Geld offenbar dazu führt, dass sich Menschen beziehungsunabhängiger machen. Das bedeutet, dass wir weniger Hilfe suchen, weniger Hilfe anbieten und tendenziell lieber allein sind, „work alone, play alone“, heißt es. Das macht natürlich insofern Sinn, als dass Wohlhabende tatsächlich unabhängiger sind. Der Wissenschaftsautor Bas Kast schrieb dazu einmal in einem Zeit-Artikel: „In einer wohlhabenden Dienstleistungsgesellschaft ist man zum Überleben gar nicht mehr auf persönlich-intime Beziehungen – intakte Familienstrukturen, Freunde oder hilfreiche Nachbarn – angewiesen. Es stehen uns ja an allen Ecken und Enden Profis zur Verfügung, von Umzugsfirmen bis hin zu Altersheimen, die uns, wenn die Bezahlung stimmt, nur allzu gerne „zur Seite stehen“.

Reiche Menschen handeln öfter unmoralisch

Leider ist es damit nicht getan. Wohlhabendere Menschen sind, statistisch gesehen, nicht nur distanzierter und ignoranter – sondern auch unmoralischer. Zumindest, wenn man der Studie über unethisches Verhalten der Wohlstandsklasse glaubt, die das Wissenschaftsmagazin PNAS 2011 veröffentlichte. Demnach haben Forscher festgestellt, dass in den USA Fahrer billiger Autos öfter an Zebrastreifen anhalten, um Passanten den Vortritt zu lassen, während die Fahrer teurer Autos sich selbst öfter die Vorfahrt gönnen. Haben sie es vielleicht eiliger, weil sie tendenziell stressigeren Jobs nachgehen?

Weitere Experimente derselben Wissenschaftler sprechen dafür, dass ein überhöhtes Selbstverständnis der Grund sein könnte. So bedienen sich – laut besagter Studie – wohlhabende Menschen auch leichter am Eigentum anderer, schwindeln bei Verhandlungen eher und schummeln beim Spielen schneller, um bessere Gewinnchancen zu erhalten. Die University of California, die an der Studie beteiligt war, hat die Ergebnisse in diesem Video zusammengefasst:

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„Vermögen verändert, weil man in materieller Hinsicht mehr machen kann“, meint Thomas Druyen. „Dieses Mehr-machen-können verwechseln einige Menschen aber mit ihrem Selbstwertgefühl. Weil sie mehr haben, glauben sie, mehr zu sein.“

Geld und Macht verändern unser Verhalten

Dass Macht ähnliche Auswirkungen auf uns hat wie Geld, erklärt dieser Artikel: Auch Macht, etwa die eines Vorgesetzten, reduziert demnach die Notwendigkeit, die anderen ständig „lesen“ zu müssen. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Experiment „The Cookie Monster”: Die Testpersonen wurden in Dreiergruppen aufgeteilt, einer von ihnen wurde willkürlich zur Führungsperson ernannt. Gemeinsam sollte die Gruppe eine ermüdende, langweilige Aufgabe erledigen. Nach der Hälfte der Arbeitszeit brachten die Forscher einen Teller ins Zimmer, auf dem vier Kekse lagen. In rund 66 Prozent der Fälle waren es die ernannten Führungspersonen, die zum letzten Keks griffen. Das heißt: Mit dem Gefühl der Überlegenheit nimmt im Gehirn die Empathiefähigkeit ab.

Zusammenfassend stellen Wissenschaftler ein Paradoxon der Macht fest: Im echten Leben gewinnen Menschen zwar oft aufgrund ihrer guten Eigenschaften an Macht, legen dieselbe aber sehr schnell ab, sobald sie „oben“ angekommen sind. Die einzige gute Nachricht ist: Normalerweise klingt dieser Effekt auch genauso schnell wieder ab, wenn uns das Privileg wieder entzogen wird.

Verantwortungsbewusstsein durch Bildung und Empathie

Aber der Wiener Wissenschaftler Druyen glaubt, dass wir – trotz der verheerenden Studienergebnisse – nicht alle Reichen und Mächtigen unter Generalverdacht stellen sollten: 70 Prozent der Reichen arbeiteten für ihr Geld, schafften dadurch Arbeitsplätze und trügen maßgeblich zum Wohlstand der Gesellschaft bei. „Es gibt wie in jedem Milieu die Normalen, die Guten und die Schlechten.“ Allerdings steht für Druyen auch außer Frage, dass viel Geld eine Herausforderung für den Charakter ist.

Gibt es ein allgemeingültiges Rezept, mit dem ich mich – im Falle des plötzlichen Reichtums – charakterlich „absichern“ kann? Der Schlüssel für Druyen ist Verantwortungsbewusstsein. Dieses müsse jedoch erst wachsen: „Verantwortung kann man nicht befehlen. Sie kann nur durch Bildung, Herzenswärme und Empathie gestärkt werden. Verantwortungsbewusstsein ist die Lebenshaltung der Zukunft.“


Den Artikel hat KR-Leser Roland angeregt. Er wollte in Zusammenhang mit dem Nazi-Erbe-Artikel in unserer Facebookgruppe wissen, was eigentlich im Gehirn passiert, wenn ein Mensch unerwartet reich wird. Vielen Dank!

Redaktion: Esther Göbel; Redaktion: Theresa Bäuerlein; Fotoredaktion Martin Gommel (Aufmacherbild: Unsplash / Susie Burleson); Schlussredaktion: Vera Fröhlich.