In dem Café, in dem ich meine ersten Kellnerschritte gemacht habe, kam stets der Moment, an dem die Reste des Wochenend-Buffets in den Mülleimer wanderten. Anfangs konnte ich kaum fassen, welche Mengen wir da entsorgen „mussten“. Es tat richtig weh.
Drei Jahre später. Mein Vater steht in der Küche, die vier jüngeren Geschwister krähen „Nachtisch“. Er weiß, dass das sein Budget als alimentierender Wochenend-Vater belastet. Außerdem ist Sonntag. Da ruft meine Chefin aus dem Café an: Ihr ist der noch warme Zupfkuchen zerfallen.
Normalerweise würde sich der missglückte Kuchen jetzt zu den Buffet-Resten in den Müll gesellen. Seitdem ich jedoch vor ein paar Monaten nachgefragt habe, ob wir diese sonntags abholen könnten – das Fragen fiel mir wahrlich nicht leicht! – klingelt das Telefon regelmäßig. Und so haben meine Geschwister den Zupfkuchen glücklich schmatzend vor dem Mülleimer gerettet.
Das Private ist politisch, das Politische privat: Vor 50 Jahren bezogen sich diese Worte auf Frauenrechte, auf Macht und Sexualität und neue Familienentwürfe. Heute will ich sie in einen neuen Zusammenhang setzen: an den Esstisch. Da kommt schwere Themenkost zusammen: Regenwälder, Schlachthöfe, Niedriglöhne. Die Preise, die wir für Lebensmittel bezahlen, bilden diese Schwere nicht ab. Deswegen bemerken wir sie kaum. Ebenso wenig wie die Verschwendung von Lebensmitteln, die nicht erst heute ein ernstes Problem ist – wie ernst, darauf komme ich noch.
Trotzdem will ich innerlich müde abwinken, wenn Leser mich immer wieder nach einer Lösung dafür fragen. Es ist einfach ein undankbares Thema: Schnell erheben sich zwischen den Zeilen – beinah reflexartig – Zeigefinger und Moralkeulen.
Halb resigniert und voller Zweifel ringe ich mit mir: Probiere ich es trotzdem? Ich probiere es.
Beim Kellnern wurden für mich die großen Zahlen greifbar
Wir wissen spätestens seit zwei Jahrzehnten, dass das Wegwerfen von Lebensmitteln eine Energie- und Ressourcenverschwendung in einer komplett unterschätzten Dimension darstellt: Der Lebensmittelsektor macht aktuell circa 30 Prozent des globalen Energieverbrauchs aus. Wenn wir Essen wegwerfen, schmeißen wir damit auch Energie, Arbeitsleistung, Tierleid und unzählige Liter Wasser weg, die in seine Produktion geflossen sind.
Elf Millionen Tonnen: So viele – größtenteils noch genießbare – Lebensmittel werden in Deutschland pro Jahr entsorgt (laut einer Studie von 2012. Weltweit ist es eine Milliarde Tonnen, das ist etwa die Hälfte aller produzierten Nahrungsmittel. Demgegenüber stehen je eine Milliarde Menschen, die unterernährt sind, und eine Milliarde, die Hunger leiden.
Viel zu groß, diese Zahlen. Viel zu abstrakt. Greifbarer wurden sie für mich erst, als ich mit dem Kellnern angefangen hab. Ich weiß nicht, wie oft ich das Buffet abgeräumt habe, nur um die Reste hilflos wütend in den Müll zu kippen … Wohin mit meiner Wut? Und wohin mit dem ganzen Essen?
Ich und „containern”? Was sind die Alternativen?
Ich habe mit Freunden gesprochen, die „containern” gehen, auch „Mülltauchen” genannt, und dabei stumm gedacht: Dafür bin ich zu feige. Mein Herz schlägt mir schon bis zum Hals, wenn ich eine Station mit der S-Bahn schwarzfahre. Soll ich da mit Taschenlampe, Strumpfmaske und Brecheisen in verschlossene Lebensmittel-Container steigen, um weggeworfene Lebensmittel zu retten? Eher nicht. Ich verabschiede mich von der Idee. (Wer Lust auf Abenteuer in dieser rechtlichen Grauzone hat, für den haben die Kollegen vom transform Magazin hier die rechtlichen Regelungen zusammengestellt.
Ich streue den Gedanken, dass ich Lebensmittel retten will, weiter im Bekannten- und Freundeskreis. Bald meldet sich eine Freundin meines Vaters und erzählt von ihrem wöchentlichen „Einsatz“ bei einem sozialen Verein, der für den Müll bestimmte Lebensmittel von einem Bio-Markt einsammelt und weiter verteilt – es ist so viel, dass sie meist nur die Hälfte los wird.
Bedürftigkeit ist kein Kriterium (mehr)
Nach diesem Prinzip funktioniert auch die Plattform foodsharing.de, auf der heute 200.000 Mitglieder registriert und nicht nur untereinander, sondern auch mit Restaurants und Supermärkten vernetzt sind. Deren Überschüsse stehen – legal – zur Abholung bereit. Die Plattform macht es Betrieben deutlich leichter, ihre überschüssigen Lebensmittel abzugeben, weil sie damit zuverlässig planen können.
Eine Frage, die dazu oft gestellt wird: Entgehen die geretteten Lebensmittel dann nicht der Tafel und den tatsächlich bedürftigen Menschen? Nein. Denn die Tafel ist zentral organisiert, wird durch Großpartner versorgt und hat so viele Überschüsse zur Verfügung, dass sie oft nicht weiß, wohin damit.
Ich erinnere mich an mein erstes Mal Foodsharing: Mit Plastiktüten, Stoffbeuteln und einem großen Korb bewaffnet, stapfen Papa und ich los. Ich aufgekratzt und voller Tatendrang, er neben mir zurückhaltend, fast beschämt.
Diesen Unterschied habe ich erst im Nachhinein richtig verstanden: Während für mich „Lebensmittel retten“ nach Weltverbesserung, Mission und Engagement klingt, schwangen für meinen Vater darin Bedürftigkeit, Armut, Demütigung mit. Im Laufe der nächsten Monate stecke ich ihn mit meiner ungläubigen Begeisterung an: Eine ganze Stiege Bio-Himbeeren! Zwei Kilo Avocados! Mein Lieblingsbrot (das im Bio-Laden fünf Euro kostet)!
Die knappste Ressource ist die Zeit
Mit der Zeit habe ich die rosarote Brille abgesetzt. „Oh Mann”, stellte ich fest, das war richtig Arbeit. Ein- bis zweimal pro Woche einen Termin ausmachen, zum Ort der Abholung laufen, faulige Früchte von denen trennen, die nur ein paar weiche Stellen haben – und vor allem im Anschluss die „Beute“ verkochen, verwerten, an Freunde weitergeben. Mir eingestehen, dass ich nicht jede Tomate dieser Welt retten kann.
Lebensmittel retten erfordert also Zeit. Mir ist bewusst, dass viele diese Zeit erstmal nicht haben. Deshalb hängt ein neuer Umgang mit Lebensmitteln auch mit neuen Arbeitsmodellen zusammen. Aber auch mit einem Perspektivwechsel: Seit ich Lebensmittel rette, gebe ich im Monat deutlich weniger Geld für Essen aus. Und die Zeit, die ich früher beim Einkauf verbracht habe, ist auch frei geworden.
Das Geld ist knapp – fair erzeugtes Essen ist teuer
Im Supermarkt stand ich jedes Mal vor einem Dilemma: Im Kopf musste ich Kontostand, Verpackungsmüll, Preis-Leistungs-Ethik, meine Pläne für die nächsten Tage und Appetit abwägen. Ich habe Lust auf Schoko-Müsli, Ananas, Kartoffelauflauf mit viel Käse. Kakao, Südfrüchte und Milchprodukte: Wie viel davon ist okay? Und muss ich das Zeug wirklich bei Lidl oder Netto einkaufen?
Das, was gesund ist und aus fairem Handel kommt, kann ich mir nur ausnahmsweise leisten, und das, was ich mir leisten kann, kann und will ich nicht mit meiner Vorstellung davon, was es eigentlich kosten müsste, vereinbaren. Am Ende bin ich überfordert, frustriert und hungrig – und damit scheine ich in guter Gesellschaft zu sein. Faule Kompromisse und Faulheitspakte schmecken … tja, irgendwie faul.
Mir dämmert, dass mein Kauf- und Konsumverhalten oft mehr entscheidet als mein Wahlzettel. Kaufe ich zum Beispiel keine Eier aus Käfighaltung mehr, gibt es für den Produzenten keinen Grund mehr, solche Eier auf den Markt zu bringen. Die Bedingungen, unter denen Legehennen gehalten werden, sind noch immer weit entfernt vom Idealzustand, haben sich aber stetig verbessert – was nicht zuletzt wir als Käufer mitentschieden haben. Der deutsche Philosoph Harald Lemke hat recht, wenn er sagt: Essen hat „Weltveränderungspotential“.
Italien, Frankreich und Dänemark machen es vor
Ich habe mich umgeschaut und in Europa einige Länder entdeckt, die gegensteuern. Die italienische Regierung hat 2016 fast einstimmig ein Gesetz verabschiedet, das die Lebensmittelverschwendung von fünf Millionen auf eine Million Tonnen pro Jahr reduzieren soll. Das Gesetz macht es Betrieben und Bauern leichter, nicht verkaufte Lebensmittel zu spenden, und schafft Steueranreize für Unternehmen, die weniger wegwerfen.
Frankreich hatte ein paar Monate zuvor als erstes Land überhaupt Großhändler verpflichtet, mit Organisationen zu kooperieren, die ihnen überschüssige Lebensmittel abnehmen. Wer jetzt noch wegwirft (oder genießbare Lebensmittel durch Chlor ungenießbar macht), muss eine Geldstrafe von 3.500 Euro zahlen. Diese Maßnahme wurde – auf eine Petition hin – im französischen Parlament einstimmig beschlossen. Restaurants, Kantinen und Bäckereien sollen in Zukunft auch in die Pflicht genommen werden.
Grundsätzlich wird mir jedoch schnell klar, dass die Lebensmittelverschwendung von unten nach oben angegangen wird: Oft sind es Aktivisten, auf deren Aufrufe oder Projekte dann einzelne Supermärkte reagieren, die wiederum dafür sorgen können, dass andere einflussreiche Akteure nachziehen. In Dänemark wurde sichtbar, wie Einzelne so ein ganzes Land bewegen können.
Die USA hängen dagegen weit hinterher. Doch auch hier tut sich was: Die University of California hat ein Gerät entwickelt, das pro Tag 100 Tonnen lokal anfallende Essensreste schlucken kann. Mikroorganismen verwandeln diese Reste in Biogas für Busse und Müllabfuhr. Und mit „ReFED“ haben sich US-Unternehmen, Stiftungen und NGOs zusammengetan, um unter anderem fehlendes Kapital zu mobilisieren und Datenmaterial für Unternehmen zur Verfügung zu stellen.
Fazit: Gute Ideen gibt es. Geld für die Umsetzung und verbindliche Gesetze dürfen folgen.
„Jeder weiß, wie schlimm das ist, und macht es trotzdem”
Eine weitere tolle Initiative, über die ich gestolpert bin, ist das EU-Forschungsprojekt REFRESH. Das Projekt startete 2015 und läuft über vier Jahre, mit dem Ziel, Lebensmittelverschwendung im Einzelhandel und beim Konsumenten bis 2020 zu halbieren (Punkt 12.3 der „Nachhaltigen Entwicklungsziele“). Aktuell nehmen daran 27 Partnerorganisationen aus 12 europäischen Ländern und China teil.
In vier Pilotländern (Deutschland, den Niederlanden, Ungarn und Spanien) sind Plattformen gestartet: Akteure aus Industrie, Handel, Verwaltung und Zivilgesellschaft kommen zusammen und setzen 2017 bis 2019 – nach Phasen der Diskussion und Planung – spezifische Maßnahmen in die Praxis um, zum Beispiel in Form von Schulungen für Supermarkt-Mitarbeiter.
Ein wichtiges Aha-Erlebnis mit REFRESH war für Keighley McFarland (Mitarbeiterin am Ecologic Institute): Das Ausmaß und die negativen Konsequenzen der Lebensmittelverschwendung sind den meisten bewusst, stellte sie fest. „Jeder weiß, wie schlimm das ist, und macht es trotzdem“, fasst sie die Umfrage-Ergebnisse der Projektpartner zusammen. Bloße Problembeschreibungen erreichen uns als Menschen, Konsumenten kaum noch – positive Beispiele und Lösungen dagegen schon.
Wenn der Eindruck entsteht, es sei die Norm, Lebensmittel nicht zu verschwenden, dann hat das weitaus mehr Wirkkraft als die geschwungene Moralkeule.
Was wir auch ohne den Staat tun können:
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Vorausschauend(er) einkaufen, am besten mit Einkaufszettel. Gilt insbesondere für Studierende wie mich.
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Hässliche Lebensmittel als ess- und sogar genießbar anerkennen (Zwei Millionen Tonnen pro Jahr landen nur deswegen in der Tonne). Hier gibt es eine Kiste mit Gemüse, das nicht den Schönheitsidealen entspricht.
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Regional und saisonal einkaufen: Die Sachen halten länger und werden seltener beim Transport beschädigt. Viele Bauernhöfe bieten die Zusammenstellung und die Lieferung nach Hause an. Solidarische Landwirtschaft unterstützen.
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Klug und übersichtlich lagern.
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Einfach nachfragen: Ich traue mich immer öfter, in Läden zu fragen, ob Reste anfallen, die ich mitnehmen oder später abholen kann. Mal kriege ich ein Ja, mal ein Nein. Logisch, Unternehmer würden lieber verkaufen als verschenken. Aber auch sie schmeißen nicht gerne weg. Sonst gibt es da auch noch die App „Too good to go“: Dort stellen Restaurants kurz vor Schließung Gerichte extrem vergünstigt ein.
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Grundannahmen überprüfen: Die meisten von uns wissen, dass Lebensmittel Tage bis Wochen über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus genießbar sind. Auf das Bauchgefühl (notfalls Erfahrungswissen …) und den gesunden Menschenverstand vertrauen.
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Stark bleiben bei Sonderangeboten, Großpackungen und Rabatten!
Produktion: Rico Grimm; Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel (unsplash / Jeremy Ricketts).