Eine zuckerfreie Ernährung ist praktisch unmöglich

© Bernd Roeder

Sinn und Konsum

Eine zuckerfreie Ernährung ist praktisch unmöglich

Ich habe in den letzten Wochen sehr viel Zucker gegessen – wie ist es, plötzlich darauf zu verzichten? Zunächst einmal: gar nicht so einfach. Denn ich finde kaum Lebensmittel ohne Zucker. Dann aber hilft mir ein Freund aus der Patsche. Er kann wirklich erzählen, wie es ist, komplett auf Süßes zu verzichten.

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Mein erster und einziger zuckerfreier Einkauf endete mit einer Packung Paprika, einer Flasche Mineralwasser und der Gewissheit, dass zuckerfreie Einkäufe wohl keine Zukunft haben werden.

Knapp vier Wochen hatte ich mich jetzt von Süßigkeiten ernährt, obwohl ich vorher nie welche gegessen habe. Ich hatte die Überdosis probiert, rein aus wissenschaftlichen Zwecken natürlich, und in die Kita bin ich gegangen, um (fast) allein unter Kindern festzustellen, was die eigentlich essen, wenn Eltern nicht dabei sind. Jetzt, wo ich langsam eine Art Antwort finden sollte – über die richtige Menge, das „gesunde“ Maß für Zucker –, hatte ich mir vorgenommen, genauso rabiat auf Zucker zu verzichten.

Gar keinen mehr. Vollständige Entwöhnung. Cold Turkey. Hatte das Auswirkungen? Ich meine: Machte Zucker abhängig – und würde ich den Unterschied merken? Ich richtete mich auf schweißkalte Nächte in meinem Bett ein, in denen ich nach Mama schrie.

Zucker funktioniert im Kopf ähnlich wie Drogen

Experten in den Ernährungswissenschaften diskutieren immer wieder über abhängig-machende Stoffe und Appetitanreger im Essen (wie zum Beispiel Fast Food), Zucker und Fett standen in den vergangenen Jahren unter Höchstverdacht. Aber bisher konnte das niemand so final nachweisen, dass man sagen könnte: Dieser Stoff in der Nahrung macht abhängig wie eine Droge.

Beim Zucker funktioniert die Aktivierung des Belohnungssystems im Kopf zwar ähnlich wie bei Drogen, trotzdem würde wohl keiner einen Blow-Job im Park gegen eine Tüte Gummibärchen anbieten. Kann Essen dennoch abhängig machen? Viele Experten vermuten: ja. Im DSM-5, dem Standardwerk für psychischer Störungen, steht zwar nichts von einer Sucht nach Zucker oder Fast Food, es gibt aber eine Essstörung namens Binge-Eating (Ess-Sucht). Und es ist eine Trendwende erkennbar, wäre diese schlussendlich erfolgreich, hätten wir vielleicht eines Tages Warnhinweise auf Burgern und Gummibärchen: „Zucker schadet den Menschen in ihrer Umgebung!” Schockbild: eine völlig verzuckerte Bauchspeicheldrüse. Würde keiner seinen Kindern kaufen.

Der Zucker versteckt sich gern in Nahrungsmitteln

Ich stand im Supermarkt und betrachtete Etiketten, und Etiketten betrachteten mich. Für meinen zweiten Einkauf hatte ich mir vorgenommen, wenigstens zwei Zucker in Kauf zu nehmen: Obst (Fruchtzucker) und Milch (Milchzucker). Die Zuckermoleküle heißen Glukose (Traubenzucker), Fruktose (Fruchtzucker) und Laktose (Milchzucker). Haushaltszucker nennt man Saccharose. Er besteht zu je einem Molekül aus Glukose und Fruktose.

Ein Liter Milch liegt im Wagen, eine Packung Äpfel daneben. Joghurt: 5 Würfel Zucker. Balsamico: 36 Würfel. Frühstücksflocken: 46. Das gilt jeweils pro Becher/Flasche/Packung. Der meiste Zucker „versteckte” sich in den Süßigkeiten, klar, in Softdrinks und Schokolade. Aber ich war durchaus schockiert, dass selbst, wenn man diese vollständig mied, eine zuckerfreie Ernährung praktisch unmöglich war. In Nudeln, Teig, Brot: überall Zucker. Von verarbeiteten Lebensmitteln und Fertiggerichten gar nicht zu sprechen.

Teilweise war völlig unklar, in welchem Produkt natürlicher Zucker steckte und wo dieser zugesetzt wurde (zum Beispiel zum Konservieren). Seit 2016 muss auf verpackten Lebensmitteln die Menge Zucker auf dem Etikett stehen, der pro 100 Gramm oder Milliliter enthalten ist. Aber man erkennt kaum, ob es guter Zucker ist (wie in Obst, in dem Vitamin C neben dem Fruchtzucker enthalten ist) oder zugesetzter Industriezucker. Am Ende war ich frustriert und entkräftet und empfand alles an meinem Einkauf so mühevoll, dass ich eine Flasche Weißwein aus dem Regal nahm, um mir mein kleines Elend schön zu saufen. Aber auch darin war sehr viel Zucker, und ich stellte sie zurück.

Die Ärztin wundert sich

Frustriert ging ich nach Hause, dann zum Arzt (Termin hatte ich abgemacht; Gewicht nach Zuckerexzess prüfen lassen), ließ mich wiegen, Blutbild kostet leider zu viel – außerdem wollte ich nicht, dass meine Krankenkasse von meinem kleinen „Experiment” hier erfuhr und kurzerhand die Beiträge ins Astronomische steigert. Die Ärztin wog mich – knapp 73 Kilo; gut, gut, sagte sie – und dann fragte sie mich, ob ich denn mehr Sport gemacht und so schnell Muskeln aufgebaut hätte, oder wie. Ich verneinte und erzählte ihr von meinem Experiment. Sie sagte, so etwas mache doch keiner ernsthaft, was, und für wen? Für eine Zeitung?

Zu Hause legte ich mich ins Bett und starrte an die Decke.

Ich hatte (noch) keinen Kater. Ich hatte (noch) keine Schweißausbrüche. Meine Existenz war mir nur bewusst durch einen erstaunlichen Hunger auf fettiges, schnelles Essen. Wie sollte ich herausfinden, ob Zucker Entzugserscheinungen hervorrief, wenn ich keine Entzugserscheinungen hatte? Henne und Ei. Und dann schickte mir der Himmel oder so ein anderes „Gestirn”: die Rettung.

Ein Engel namens Ubbo

Durch einen Zufall telefonierte ich wenige Tage danach mit einem sehr guten Freund, dem ich meine Geschichte erzählte. „Ich kann dir vielleicht helfen”, sagte er – und ich dachte: Das sagen sie alle. Aber in der Tat hatte er zwei Wochen zuvor die Diagnose Diabetes I gekriegt. „Und so musste ich praktisch über Nacht auf Zucker verzichten, und du weißt ja, wie ich auf meine Ernährung geachtet habe: nämlich gar nicht.”

Man kann zwei Sorten von Diabetes haben: Typ I und Typ II. Typ I ist eine Autoimmunkrankheit, bei der Betroffene kein oder nur kaum eigenes Insulin produzieren und deshalb spritzen müssen. Der Typ-1-Diabetes bildet sich oft schon im Kindes- und Jugendalter. Rund 300.000 Menschen in Deutschland leben Schätzungen zufolge mit dieser Krankheit. Bei Typ-II-Diabetes handelt es sich um eine chronische Stoffwechselkrankheit, bei welcher der Zuckerspiegel im Blut erhöht ist, weil die Körperzellen schlechter auf das Insulin ansprechen. Dies ist die sogenannte Altersdiabetes. Für meinen Freund mit Typ-I-Diabetes bedeutet das: immer rechnen, weil die Bauchspeicheldrüse nicht mehr genug Insulin produzieren kann und er ständig Insulin spritzen muss.

Wenn wir Zucker essen, wandert der Zucker ins Blut und hebt den Blutzuckerspiegel an. Die Bauchspeicheldrüse produziert Insulin, dieses sorgt dafür, dass Glukose – also der Zucker – in die Zellen wandern kann, und so den Blutzuckerspiegel wieder senkt. Insulin fördert auch die Bildung von Fett und hemmt dessen Abbau. Man kann (oder sollte) sich also nicht beliebig Insulin in den Körper knallen.

„Ich finde das, wo es noch so frisch ist, wahnsinnig anstrengend”, sagte mein Freund. „Bei jeder Mahlzeit denkst du nur an diese Prozedur; du kannst nicht mal länger das Haus verlassen, weil du immer zurück zum Kühlschrank musst. Das Insulin darf nicht warm werden. Und dann setzt du dich hin wie so ein Junkie und spritzt es dir.” Wenn sich sein Zuckerspiegel erhöht oder zu niedrig ist, muss er ihn manuell mit der Spritze und der richtigen Anzahl Insulineinheiten ausgleichen. Und dazu muss er wiederum genau wissen, was – vor allem zuckerhaltiges – er gegessen hat.

Weil er mit seinem Namen nicht mit dieser privaten Sache im Internet sehen will, bat ich ihn um einen Fake-Namen. Er schlug „Ubbo” vor, was ich verneinte, mit der Begründung, das sei ja kein Name. Aber er meinte, das sei doch ein Name und er dürfe sich seinen Namen aussuchen, der Name sei ostfriesisch und deshalb bestehe er darauf, und das sei seine Bedingung. Sonst: kein Interview.

Ubbo.

„Es gibt Sachen, da kannst du einfach so zulangen”, sagte Ubbo. Gott, wie werde ich es hassen, diesen Namen hier noch zwölfmal zu schreiben. „Gemüse, außer Zuckermais natürlich, Fleisch.” Habe alles fast keine Kohlenhydrate. Nudeln, Reis, Kartoffeln könne man dagegen knicken. Denn Kohlenhydrate sind lange Ketten aus Zuckermolekülen. Der Körper wandelt sie praktisch in Zucker rum. „Die dürfen nur 15 Prozent auf meinem Teller ausmachen”, sagte Ubbo. Gott im Himmel. „Also kann man sich vorstellen, dass ich mich hauptsächlich von Gemüse und Fleisch ernähre.” Das habe für alle Mahlzeiten auch recht gut funktioniert, aber: „Ich brauche jetzt jeden Tag eine Stunde mehr zum Kochen. Das Frühstück ist nach wie vor schwer: Ich habe mein ganzes Leben Weißbrot oder Müsli gegessen.”

Das Süßeste am Tag ist Joghurt mit Apfel

Alle Speisen enthalten unterschiedliche Kohlenhydrate. Die Süßigkeiten und Limos Zucker, der schnell verdaut wird und schnell Energie liefert, aber nicht satt macht; Vollkornbrote dagegen lange Ketten aus Zuckermolekülen, die bei Bedarf vom Körper zerlegt werden. Und natürlich Mineralien und Ballaststoffe. „Daher”, sagte er, „verzichtet man zunächst klar auf die schnellen Zucker.” Süßigkeiten und Limos und Alkohol sind tabu.

„Als ich 16 war, habe ich gedacht: Freitagabend, bäm. Flasche Wodka. Der Kater oder der nächste Tag waren mir egal. Heute, mit 30, denkst du eher: Ah, hab ich keinen Bock drauf. So ist das jetzt mit dem Essen: Ich musste nie darüber nachdenken bis jetzt, konnte immer alles zu jeder Zeit essen. Ist ja auch ständig verfügbar. Das Rechnen sorgt dafür, dass ich mich mit Essen beschäftige und weiß, was ich tue”, erklärte er. Zum Frühstück gibt es jetzt eben Quark oder griechischen Jogurt mit Apfel. „Und ja, das ist so bitter wie es klingt”, erzählte mir Ubbo. „Denn das ist schon das Süßeste am Tag.”

Die erste Woche war für Ubbo dabei besonders schlimm: „Ich habe wirklich oft vor den Regalen gestanden und gedacht: Ich will ein Snickers. Bitte. Aber jetzt fehlt es mir nicht mehr. Es wird immer einfacher, je länger man darauf verzichtet.” Eine Entwöhnung habe durchaus stattgefunden, meinte er, aber nicht wie bei einer Sucht: „Gut. Meine Stimmung war im Arsch. Aber das war sie eh schon: nackt wie ein Baby in die kalte Diabeteswelt geworfen.”

Ubbo überlegte. „Zu wissen: Vier Raffaelo sind eine Einheit Insulin in der Spritze, das ist halt anfangs für einen Menschen wie mich, der gerne Pizza und Süßigkeiten gegessen hat, wie das vorläufige Ende des Lebens. Du denkst schon: Krass. Wie soll das bitte werden? Ich wurde sehr launisch. Ich wurde vor allem extrem schlapp, weil mir die Kohlenhydrate fehlten. Aber jetzt geht es mir viel besser als vorher.”

„Ich vermisse den Zucker, aber ich fühle mich sehr gut”

In nur drei Wochen wurde Ubbos Zuckerspiegel um mehr als die Hälfte runtergefahren. Er verlor Gewicht. Nach einem starken Down merkte er, wie es schnell bergauf ging: „Ich vermisse den Zucker”, sagte er. „Ich vermisse Pizza und Bier. Aber ich fühle mich dafür sehr gut.”

„Ich habe auch schon eine Fertigpizza gegessen”, erzählte mir Ubbo am Ende. „Ich kam von der Arbeit und hatte einfach keinen Bock mehr, 30 verschiedene Scheißgemüse zu schnippeln. Da wusste ich: Das ist jetzt eine absolute Ausnahme, und du wirst gleich sowas von hart Insulin spritzen für diese Fertigpizza. Aber: na gut.”

Ubbo machte eine Pause. „Gestern habe ich auch gesoffen: Drei Alster, ein Bier. Fünfzehn Kippen. Auch wieder hart Insulin. Aber heute ist das nicht mehr die Regel oder leichtfertig: Heute erkaufe ich mir das. Ich möchte es manchmal, aber es bleibt die absolute Ausnahme. Ich denke, das ist okay so.”

Eine Tafel Schokolade oder sieben Kilo Chicorée

Am Ende sitze ich bei einer medizinischen Ernährungsberatung in einem Reha-Komplex. Das Publikum besteht aus Senioren und mir, weil ich mir als Zuckerjunkie gerne Rat beim Fachmann holen wollte. Ein etwas wütender Mann erklärt, warum wir bald entweder wegen der Hüfte, noch sicherer aber wegen der Ernährung sterben werden: „Die Gesellschaft bewegt sich zu wenig”, sagt er. „Das Volksleiden Nummer 1 ist der Rücken.” Er knipst eine Folie in seiner Präsentation weiter.

„Wie oft essen sie Fisch?”, fragt er. „Regelmäßig einmal die Woche?”

Nur meine Hand hebt sich.

„Wer kocht selbst — und das mehr als dreimal die Woche?”

Nur meine Hand hebt sich.

Er klickt eine Folie weiter.

„Das Problem ist: Jeder von uns kennt die Ernährungspyramide. Aber die allermeisten essen sie so, als stehe sie auf dem Kopf. Und die Süßigkeiten stünden nicht oben in der Spitze, sondern unten. Beim Wasser!”

Er macht eine Pause, sonst hyperventiliert er gleich.

„Für eine Tafel Schokolade könnten sie fast sieben Kilo Chicorée essen”, ruft der Mann empört. „Oder neun Kilo Gurke!”

Zucker macht halt glücklich

Ja. Das muss ja auch nicht sein. Eigentlich isst Ubbo also nur nach der Ernährungspyramide. Und zwar streng danach, und das ist schon lustig.

Er wird praktisch durch seinen Körper dazu gezwungen.

Ich glaube, ich werde es von nun an ein bisschen mehr wie Ubbo machen.

„Ungesundes wird halt immer mehr beworben als Gesundes”, sagte Ubbo mir noch. „Und darauf bin ich eben reingefallen. Ich dachte mein ganzes Leben: So schlimm esse ich ja nicht.”

Zucker mache die Leute halt glücklich; und die Leute wollten halt glücklich sein.

Ich esse jetzt weniger Zucker. Aber ganz verzichte ich nicht drauf. Ubbo meinte, er hatte neulich verbotenerweise, fast wie auf Droge, ein halbes Snickers verputzt. Und danach dachte er für zehn Minuten, er könne fliegen.

Und fliegen können, ganz ehrlich, wäre schon ab und an mal schön.


Wie gut oder gefährlich ist Zucker? Omas sind enttäuscht, Nachbarn verärgert, Bekannte wütend: Wenn man seinem Kind keinen Zucker gewährt, gerät man in permanenten Rechtfertigungsdruck. Wer seinen Kindern zu viele Süßigkeiten zusteckt, aber auch.

Deswegen habe ich mich an ein Experiment gewagt: Drei bis vier Wochen erlebe ich die Welt um mich herum im Hinblick auf Zucker als Kind. Ich esse Süßes wie Kinder. Stehe konspirativ vor Eisdielen. Greife mir jedes Bonbon, das in Reichweite ist. Und habe sogar einen Kita-Platz! (Da sage noch einer, in Leipzig herrsche Engpass. Hah!)

Für die nächste Folge meines Zusammenhangs Kinder auf Zucker ziehe ich ein Fazit – und versuche mich an Empfehlungen und Regeln, die für Zucker in Zukunft gelten sollten.

Wer keine meiner Folgen verpassen will, der kann mir bei twitter folgen (@paulk3mp) oder meine Autorenseite besuchen (www.thewild.de).

Beim Erarbeiten des Textes hat Theresa Bäuerlein geholfen; Vera Fröhlich hat gegengelesen; das Foto stammt von Bernd Roeder, Berodi Fotostudio Leipzig.