Als Zucker-Detektiv im Kindergarten

© Bernd Roeder

Sinn und Konsum

Als Zucker-Detektiv im Kindergarten

Wie viel Süßes essen Kinder wirklich? Um das herauszufinden, gehe ich in den Kindergarten. Was mich überrascht hat: Ausgerechnet dort lerne ich, wann und warum Eltern ihren Kindern Süßigkeiten geben.

Profilbild von Alexander Krützfeldt
Reporter

Auf der Suche nach Zucker schleiche ich mich in die Garderobe. Kleine Jacken. Kleine, gelbe Gummistiefel. Namen an Holzspinden. Ich öffne natürlich nichts, aber ich sehe in die Fächer rein: Capri-Sonne, Milchschnitte, zuckerfreie Hustenbonbons. Aha. Foodwatch hat vor kurzem 1.514 Kinderlebensmittel unter die Lupe genommen und mit der Ernährungspyramide bewertet.

Fazit: Fast drei Viertel aller Lebensmittel, die explizit für Kinder angeboten werden, sind entweder zu fett oder zu süß oder beides. Eine Sache lernst du, wenn du für einen Säugling einkaufen gehst und der Alete Babykeks schon schlappe 25 Prozent Zucker hat: vertraue niemandem. Die Lebensmittelindustrie arbeitet seit jeher mit Tricks und versteckt Zutaten auf miniaturgedruckten Listen. Aber eine Branche, die, ähnlich wie die Tabak- und Alkoholindustrie, grundsätzlich um ihren Absatz fürchten und auch mit politischem Gegenwind rechnen muss, ist ein in die Ecke gedrängtes Tier. Die Lobbyisten der Zuckerindustrie werden nicht müde zu betonen, dass praktisch alles um uns herum mehr oder weniger giftig sei, nur – Überraschung: Zucker natürlich nicht.

„Was machst du da?”, fragt ein Junge entrüstet. Er steht in der Tür und hat die Arme in die Seiten gestemmt.

„Ich …”, beginne ich und schaue auf das, was ich gerade tue, und frage mich selbst, was – um Himmels willen! – ich da gerade mache: „Ich”, stammle ich, „wollte … meine … Jacke aufhängen?”

Der Junge schüttelt den Kopf.

„Da sind doch gar keine Haken frei.”

Pause.

„Du musst sie woanders hinlegen.”

Dann geht er zielstrebig zurück in den Gruppenraum, um den Vormittag noch zu nutzen, anderen Leuten hinterrücks kleine Autos in die Fersen zu rammen.

Einen Kita-Platz für drei Tage – für mich

Knapp vier Stunden zuvor sitze ich im Büro der Kita-Leiterin, in einem Raum, der sich permanent für seine Existenz entschuldigt: schmal, schlicht, schlauchartig. Zwei Korbstühle. Bisschen Summer-Feeling. Es ist die zweieinhalbte Woche meines Experiments, in der ich Süßigkeiten esse wie ein Kind und versuche, mehr über die Wirkung von Zucker herauszufinden. Nach meiner Überdosis gelingt es mir immer besser. Ich habe die Dosis auf ein normales „Hausmaß” reduziert, das heißt, ich esse zu bestimmten Gelegenheiten, die sich fast immer bieten, und wenn jemand sagt, er mache jetzt Kaffee, dann sage ich: „Und ich hol mal die Kekse!”

Die Kita-Leiterin ist hinreißend. Sie interessiert sich wirklich für ihren Kindergarten und hat mich deshalb eingeladen, eine Undercover-Mission zu starten: Ich bekomme einen Kita-Platz für drei Tage wie ein Kind. Selbe Zeiten. Selbes Spiel. Selbes Essen. Keine Ausnahmen. Aber niemand um mich herum weiß, was ich tue; außer mir und ihr. Es prickelt. Wir sind eine konspirative Gemeinschaft, und ich bin Kindergarten-Wallraff, und das Personal weiß nur, dass jemand kommt, aber nicht, warum.

Die Kita-Leiterin möchte wissen, wie ihr Personal mit Süßigkeiten umgeht, wenn sie nicht dabei ist. Ich zitiere sie nicht mit Namen, dann könnten wir nicht so offen sprechen, so viel kann man aber sagen: Träger ist die AWO Leipziger Land. Die Kita-Leiterin meint: „Süßigkeiten sind generell ein sehr großes Problem.”

Zucker ist eigentlich ein Arschloch. Nur ist es schwer, das wissenschaftlich zu bestätigen. Es gibt viele Meinungen und Studien, die sich widersprechen. (Noch) nicht endgültig bewiesen ist, dass Zucker dick macht. Ist ein bisschen so wie mit Donald Trump. Da ist auch nicht abschließend bewiesen, dass er verrückt ist, aber sagen wir so: Vieles spricht ja doch dafür.

Zucker kann Diabetes fördern, aber die Veranlagung trägt man in den Genen; zusätzlicher Zucker hat überhaupt keinen Nutzen: Er ist in so vielen Mahlzeiten bereits vorhanden, dass wir ihn nicht verwenden müssten – in Nudeln und Teig und Milch. Wir wollen ihn nur. Man sollte auch nicht hysterisch sein: Zucker macht nicht abhängig.

Wir machen aus Zucker ein Phantom: Wir wissen, dass er nicht gesund ist, und wir wissen, dass wir ihn nicht brauchen, aber wir geben ihm einfach eine höhere Bedeutung – und erklären ihn zum festen und unverzichtbaren Bestandteil des Fernsehabends, der Kindergeburtstage, sagen wir: der Kultur an sich. Festtage sind Zuckertage. Und was Zucker ganz unstrittig verursacht: Berserker-Karies.

Der Tag beginnt mit Obst und Memory

Mein Kita-Tag beginnt um acht und ist ausgestattet mit allen Freiheiten. Als erstes vergesse ich den Namen meiner Gruppe, aber im Prinzip heißt alles hier „Wald” oder „Wiese” plus ein Tier. Waldeumel zum Beispiel.

Meine Suche nach Zucker beginnt in einem rechteckigen Raum mit Fenstern, der ordentlich mit Spielzeug ausgelegt ist. Ein junger Erzieher mit Dreads schneidet Obst für die Kinder, und das Obst gibt es dann für alle. Wir spielen Memory. Ich frage den Erzieher, ob ich die Kinder gewinnen lassen muss. Er sagt nein, ich besiege sie.

Bald haben sie keine Lust mehr und versuchen zu betrügen. Sie legen die Karten so, dass sie sich alles gut merken können. Ich gucke mir das vier Züge an, merke mir das natürlich auch, bin ja nicht dumm, und als der erste einen Fehler macht, räume ich den ganzen Tisch leer und demütige sie mit meiner wissenden Art.

„Wie alt bist du denn”, fragt ein Junge.

„Der ist fünf”, sagt der Erzieher. „Genau wie du.”

„Näh”, sagt der Junge.

„Doch”, sage ich.

„NÄH”, sagt der Junge. „Du bist viel älter. Bestimmt schon mehr als zehn!”

Die anderen Kinder nicken zustimmend. Verarschen können sie sich alleine.

„Ich bin 31”, sage ich, aber sie misstrauen mir.

„Nein”, sagt ein Mädchen. „Dann wärst du so alt wie meine Mama. Du bist nicht 30! Also: Wie alt bist du jetzt?”

Ein Gremium sehr kleiner, aufgebrachter Leute. Im Halbkreis aufgestellt. Die Arme verschränkt.

„Gut”, sage ich. „Ich bin fünf.”

Die Kinder gucken mich finster an.

Sie würden mich im Auge behalten; etwas stimmte mit dem „Neuen” nicht.

Nur zwei von 30 Kindern sagen, dass sie keine Süßigkeiten mögen

Wir haben unsere Jacken an und latschen über einen Waldweg. Ich habe die Kinder ausgefragt, was ihr Lieblingsessen ist. Kollektiv: Nudeln mit Tomatensoße. Der Weg endet und führt auf einen kleinen Hof im Wald. Eine Tierfarm.

Aus mehreren Spielgruppen hatte ich die Kinder zudem befragt, ob sie gerne Süßigkeiten essen, was von 30 Kindern nur etwa zwei verneinten, und die überwiegende Mehrheit sagte, es würde zu Hause dafür keine Grenze geben.

„Wir dürfen zu Hause so viel Süßes, wie wir wollen”, sagt ein Junge.
„Mama und Papa machen abends selbst vorm Fernseher die Chips auf”, ruft ein anderer.

„Wenn Feiertag ist, darf ich so lange Süßigkeiten essen, bis mir ganz schlecht wird”, sagt ein Mädchen. „Mama sagt, ich höre schon irgendwann selbst auf.”

Auch wenn Zucker allein noch keinen Diabetes auslöst: Die Kita-Leiterin hatte mir erzählt, dass die Kinder auch mittlerweile fast alle zum Kindergarten gefahren würden – egal, wie lang der Weg sei. Sie nennt sie: die Autofahrkinder. „Wir beobachten schon länger, und hier speziell, aber das sehen meine Kollegen sicher auch so, dass sich die Kinder immer weniger bewegen. Ihr Radius wird kleiner, sie haben Schwierigkeiten, rückwärts zu laufen oder hochzuklettern.”

Die Kita-Leiterin sagt, die Eltern hätten wegen ihrer Jobs immer weniger Zeit. Die Kinder blieben länger in den Einrichtungen – im Maximalfall knapp zehn Stunden täglich – und auch an den Wochenenden würde zu Hause, das bemerke sie in den vielen Gesprächen mit Kindern, kaum mehr etwas Aktives unternommen. Wie in den Zoo gehen. Die Eltern seien schlicht zu ausgelaugt von ihrer Woche.

Saure Gummischlangen als Belohnung

Im Gruppenraum geben die Kleinen damit an, wer ein „Mittagskind” ist. Das sind die, die nach dem Mittagessen abgeholt werden und den restlichen Tag zu Hause verbringen, während die anderen bleiben. Teilweise noch weitere fünf Stunden.

„Alle hierher”, sagt die Erzieherin. „Wir gehen jetzt zurück. Bitte mal aufstellen.” Als die Kinder sich schlussendlich fest an den Händen halten, verteilt sie saure Gummischlangen. Die Kinder beißen mit Absicht nicht drauf, um lange etwas davon zu haben.

„Ich hab meine aus Versehen runtergeschluckt”, beklagt sich ein Junge. Ob er noch eine haben könne.

„Nein”, sagt die Erzieherin. „Eine für jeden.”

Danach passiert etwas Wunderbares: Wir gehen einkaufen in einem Supermarkt, zehn Kinder hängen am oder im Einkaufswagen, aber keiner rennt zu den Süßigkeiten. Die Erzieherin hatte mit den Kindern eine Art Deal geschlossen: Eine für jeden. Und jetzt halten sie still.

Zum Mittagessen drei Mal pro Woche süßes Dessert

In den meisten industriell verarbeiteten Lebensmitteln ist viel Zucker. Man verlasse sich darauf, dass der Lieferant für das Kita-Essen seine Arbeit gut mache, erklärt die Kita-Leiterin. Der Essensplan bietet dreimal die Woche Fleisch und ebenso oft süße Desserts. Obst gibt es dagegen immer. Heute steht auf dem Plan: Nudeln Bolognese. Für die Kinder: ein Festessen. Das Essen hat wenig bis gar kein Salz.

„Man könnte ja auch alles selber kochen”, sage ich einer älteren Erzieherin, die mir daraufhin erklärt, das gehe nicht, das münde alles sowieso nur im Chaos. Eine jüngere erklärt: „Das geht eigentlich ganz gut, das machen wir auch. Es macht den Kindern sehr viel Spaß.” So könne man beispielsweise Kuchen backen und auf den Zucker achten.

Da fällt mir eine Geschichte ein: Meine Mutter hatte neulich ihre Stiefenkelin zu Besuch. Die isst mit großer Leidenschaft zum Frühstück Nutella. Am besten: nur Nutella. Das hat sie sich so angewöhnt. Meine Mutter hatte ihr erläutert, dass es das bei ihr nicht gebe; das Zeug sei schließlich abscheulich (und bestehe zu über 50 Prozent aus Zucker). Daraufhin bot sie stattdessen jeden Tag Müsli mit Joghurt an (was ja auch Zucker enthält, aber weniger). Und Blaubeeren. Als die Kleine abreiste, versprach sie meinem Stiefvater, sie werde bald wiederkommen, aber nur, wenn sie ausschließlich bei meiner Mutter frühstücken dürfe.

Ein Eimer, voll mit Süßigkeiten von zu Hause

Und am Ende ist da doch noch der Schrank. Ich finde ihn neben der Tür, ein Schubfach in einem Sideboard, darin: Ein großer Eimer, randvoll mit Süßigkeiten.

„Wo hatten sie die Gummischlangen eigentlich her, die sie vorhin verteilt haben”, frage ich die Erzieherin.

„Aus unserer Box”, sagt sie. „Darin sammeln wir alle größeren Mengen Süßigkeiten, die die Kinder von zu Hause mitbringen, und daraus verteilen wir dann.” So bekämen halt alle gleich und jeder nicht so viel.

„Find ich irgendwie gut”, sage ich und denke: Was für ein fürchterlicher Satz. Wolltest du der Erzieherin sagen, dass sie ihre Arbeit gut macht, ja?

Auch ein schwieriger Beruf gerade.

Die Eltern werden anspruchsvoller und maßregeln dich; geben aber ihr Kind selbst zehn Stunden schön bei dir ab. Da könnte man wirklich mal Danke sagen. Jedenfalls, eine Sache hatte ich gelernt: Eltern verteilen aus drei Gründen Süßigkeiten: Erstens, sie wollen sich Ruhe erkaufen. Zweitens, sie wissen nichts darüber und sehen deswegen nicht die Notwendigkeit, sich über Zucker aufzuregen. Oder drittens, sie wollen ihren Kindern einfach nur etwas Gutes tun. Sie sehen ja, wie sie sich freuen.

In einem Beitrag über Kinderarmut hatte ich gelesen, dass viele ärmere Familien ihren Kindern auch deshalb Süßigkeiten mitgeben, damit sie ihnen überhaupt etwas mitgeben können. Als eine Art Ersatz für teure Jacken und neue, gelbe Gummistiefel. Und dann gibt es natürlich noch die Eltern, die von allem zu viel mitbringen – Süßigkeiten, Liebe, Anziehsachen – und die sich wie die Supereltern aufspielen.

Tieftrauriger Abschied

Das Mädchen aus dem Wald setzt sich neben mich. Sie hatte irgendwann meine Hand genommen, was sehr niedlich gewesen war, und hatte sie dann ganz festgehalten und gesagt: „Mein Papa soll kommen.”

„Wo ist dein Papa?”, hatte ich gefragt.

„Er ist weggegangen. Er soll wiederkommen. Bitte. Kannst du ihn herholen?”

Mein Herz sticht für einen kurzen Moment.

Jetzt sitzt das Mädchen neben mir, guckt mich groß an und lächelt. „Kommst du morgen wieder?”, fragt es.

„Nein”, sage ich.

Es guckt tieftraurig und wendet seinen Blick ab.

„Morgen werde ich doch eingeschult.”

Jetzt zerknittert es skeptisch sein Gesicht. „Häh. Wieso?”

„Na, ich bin in Wirklichkeit doch schon sieben”, sage ich, und wir lachen alle laut und eine Weile, und die Kinder wirken ein bisschen erleichtert, darüber, dass sie das Geheimnis nun endlich kennen und irgendwie ja doch von Anhang recht hatten: dass ich niemals hätte fünf Jahre alt sein können.


Wie gut oder gefährlich ist Zucker? Omas sind enttäuscht, Nachbarn verärgert, Bekannte wütend: Wenn man seinem Kind keinen Zucker gewährt, gerät man in permanenten Rechtfertigungsdruck. Wer seinen Kindern zu viele Süßigkeiten zusteckt, aber auch.

Deswegen habe ich mich an ein Experiment gewagt: Drei bis vier Wochen erlebe ich die Welt um mich herum im Hinblick auf Zucker als Kind. Ich esse Süßes wie Kinder. Stehe konspirativ vor Eisdielen. Greife mir jedes Bonbon, das in Reichweite ist. Und habe sogar einen Kita-Platz! (Da sage noch einer, in Leipzig herrsche Engpass. Hah!)

Für die nächste Folge meines Zusammenhangs Kinder auf Zucker komme ich ohne Zucker aus. Ich gehe mit einem Diabetiker einkaufen und sehe nach, wo der Zucker überall versteckt ist – und warum. Wie wirkt Zuckerverzicht? Und müsste man süße Speisen nicht kennzeichnen?

Wer keine meiner Folgen verpassen will, der kann mir bei twitter folgen (@paulk3mp) oder meine Autorenseite besuchen (www.thewild.de)

Beim Erabeiten des Textes hat Christian Gesellmann geholfen; Theresa Bäuerlein hat gegengelesen; das Foto stammt von Bernd Roeder, Berodi Fotostudio Leipzig.