Pflanzen sollten Rechte haben (kein Scherz!)
Sinn und Konsum

Pflanzen sollten Rechte haben (kein Scherz!)

Ein Baum als juristische Person? Palmen als Kläger? Klingt völlig verrückt. Aber so hätten auch Pflanzen und Ökosysteme plötzlich einen festen Platz in unseren Köpfen und vor allem dort, wo es oft ums Ganze geht: vor Gericht.

Profilbild von Essay von Patrick Spät

Eine Stadt verklagt Mäuse, weil sie den Menschen die Ernte wegfressen. Klingt wie aus einem Märchen, hat sich aber tatsächlich so zugetragen, wie überlieferte Gerichtsprotokolle zeigen: 1519 gab es in Glurns, der kleinsten Stadt Südtirols, einen spektakulären Mäuseprozess. Die Anklagepunkte lauteten unter anderen: unbefugter Feld- und Gartenfrevel, Minderung der bürgerlichen Nahrung und, kein Scherz, wilde Ehen.

Der Pflichtverteidiger der Mäuse gab den Polizisten die Schuld, weil sie sich im Wirtshaus betrinken würden statt ihrer Arbeit nachzugehen. Und er forderte, dass die Mäuse als Gottes Geschöpfe ebenfalls ein Recht auf Nahrung hätten: „Wenn man den Mäusen alles Korn missgönnen wollte, so könnten diese auch gegen die Menschen klagen.“ Das Urteil: Der Anwalt konnte zwar die vom Gericht geforderte Todesstrafe abwenden, doch die Mäuse sollten die Glurnser Felder binnen 28 Tagen unter freiem Geleit verlassen – ob sie sich an dieses Urteil hielten, ist nicht überliefert.

Ein Prozess gegen Mäuse also. Haben Feldmäuse ein Recht auf Nahrung, ja, ein Recht auf Leben? Wenn es nach dem Philosophen und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer ginge, ganz bestimmt: Noch, schrieb er, würde die Rücksichtnahme auf alles Lebendige, „auch niedere Formen”, als übertrieben gesehen. „Es kommt aber die Zeit, wo man staunen wird, dass die Menschheit so lange brauchte, um gedankenlose Schädigung von Leben als mit Ethik unvereinbar einzusehen. Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“

Für den Vegetarier Schweitzer stand fest: Alle tierischen Lebewesen haben ein Recht auf Leben. Die Diskussion um Tierrechte, Veggie-Day, vegetarische und erst recht vegane Lebensweise verläuft seit Jahrzehnten ziemlich hitzig: Dürfen wir jährlich über 65 Milliarden Tiere auf der Welt schlachten, um sie anschließend zu essen? Dürfen wir eine Mäusefalle aufstellen? Und spricht Schweitzer nicht sogar von „allem, was lebt“? Wer bei der Debatte über Schnitzel und den Glurnser Mäuseprozess Schnappatmung bekommt, für den kommt’s jetzt noch dicker: Denn die philosophische Debatte kreist inzwischen sogar um die Frage, ob Pflanzen eine Würde haben. Oder ob dem Grünzeug zumindest bestimmte Rechte zukommen sollen.

Hat der Tomatenstrauch eine Würde?

Oh weh, soll jetzt etwa der Tomatenstrauch in meinem Garten oder das Gebüsch auf dem Kinderspielplatz eigene Rechte bekommen?

Derart wirklichkeitsfremd ist die Debatte natürlich nicht. Ich denke aber, dass es gute Gründe dafür gibt, Pflanzenkollektiven und Ökosystemen den Status von juristischen Personen zuzusprechen, damit sie rechtsfähig sind und vor Gericht eine Stimme haben können – vergleichbar mit einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Es gibt sogar schon juristische Einzelfälle, bei denen Ökosysteme diesen Status bereits erhalten haben. Darauf werde ich noch eingehen. Was bis jetzt aber völlig fehlt, ist ein verbindlicher und allgemeingültiger rechtlicher Rahmen.

Juristisch am weitesten geht bislang die Schweizer Bundesverfassung, denn sie „trägt der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt“ (Art. 120, Abs. 2). Die Gesetze gelten seit 1999; die Schweiz ist der bislang einzige Staat auf der Welt, der explizit allen Lebewesen eine Würde zuspricht. Das 2005 verabschiedete Tierschutzgesetz der Schweiz knüpft an die Würde der Kreatur wie folgt an: „Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, es in Angst versetzen oder in anderer Weise seine Würde missachten“ (SR 455, Art. 4, Abs. 2). Das Gesetz „orientiert sich dabei an den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Empfindungsfähigkeit“ der Tiere.

Aber was bedeutet das überhaupt in der Praxis, dass niemand einem Tier „ungerechtfertigt“ Schaden zufügen darf? Offensichtlich sind Tierversuche und Schlachthäuser auch in der Schweiz „gerechtfertigte“ Dinge. Der Schweizer Bundesrat erklärte hierzu 2002, dass man heutzutage noch nicht definieren könne, „welche menschlichen Aktivitäten als strafbare Würdeverletzungen taxiert werden müssten“.

Die Formulierung „Würde der Kreatur“ stammt übrigens aus der Feder des dänischen Theologen Lauritz Smith, der bereits 1789 erklärte: „Jedes lebendige Wesen ist zunächst und unmittelbar seiner selbst wegen da, und um durch sein Dasein Glückseligkeit zu genießen.“

Aber was heißt das überhaupt: Würde? In der Philosophie unterscheidet man zwischen Dingen, die einen Preis und einen Wert haben. Ein Kugelschreiber, eine Zahnbürste oder ein Autoreifen sind austauschbar und haben einen Preis, der sich in Euro oder Dollar darstellen lässt. Ein Lebewesen hingegen hat keinen Preis, sondern einen Wert: Seine Existenz lässt sich durch nichts in der Welt ersetzen und deshalb hat es ein gegen nichts abzuwägendes Recht, als Individuum zu existieren. Kein Hundebesitzer würde es zulassen, dass man seinen Hund tötet und durch einen Artgenossen ersetzt. Ja, schon die Hundemutter, die über keine menschliche Ethik verfügt, würde sich massiv wehren, wenn man ihre Welpen zu ersetzen versucht oder ihnen etwas antut.

Ein Lebewesen ist also kein austauschbares Gut, sondern einmalig – und deshalb hat es eine Würde. Im englischen Wort für Würde („dignity“), das vom lateinischen dignitas („Wert“) stammt, ist die ursprüngliche Bedeutung noch zu erkennen. Dementsprechend definiert die Schweizer Bundesverfassung den Begriff der Würde als „Eigenwert“. Organismen verfolgen Zwecke – sie wollen leben – und sind damit schon ein Zweck an sich: Tiere wollen fressen, um zu überleben. Tiere wollen Wärme, um nicht zu erfrieren. Diese elementaren Verhaltensweisen zeigen einen Drang zum Leben, eine Lebensbejahung, die zugleich eine ethische Dimension birgt, wie der Philosoph Hans Jonas betont. Die „Fähigkeit zu fühlen” sei der „Ur-Wert aller Werte”.

Das Recht auf Leben beruht also keineswegs auf dem Wert, den dieses Leben für andere hat – Organismen haben ein Recht auf Leben allein schon deshalb, weil ihr Leben für sie selbst wertvoll ist. Dadurch, dass Lebewesen Zwecke anstreben und „Ja“ zum Leben sagen, haben wir schlichtweg nicht das Recht, „Nein“ zu ihrem Leben zu sagen.

Unsere Speisekarten sind die blutigsten Schriften, die wir schreiben. Doch wenn es um unser nacktes Überleben geht, wird wohl kaum einer das Wohlergehen eines Tieres über das eines Menschen stellen: Einem Veganer, der seit Tagen Hunger leidet, wird es keiner krumm nehmen, wenn er ein Steak isst – sofern es das einzig Essbare ist, das ihm zur Verfügung steht. Bevor uns ein Moskito sticht und Malaria überträgt, hauen wir lieber drauf. Und die Inuit in Grönland müssen Tiere jagen, zerlegen und essen, ansonsten würden sie verhungern. Gleiches gilt für Nomaden- und Steppenvölker, die nicht sesshaft sind und deshalb keinen Ackerbau betreiben können. Hier, und nur hier, liegt eine relevante Ausnahme vor, die allerdings nicht für die westlichen Industrienationen zutrifft. Kein Mensch braucht Nerz-Mäntel, kein Mensch braucht tagtäglich ein Schnitzel auf dem Teller und kein Mensch braucht Elfenbein-Trophäen. Das vorherrschende abendländische Paradigma, dass Tiere reine Gegenstände oder wertneutrale Objekte sind, gehört auf die Müllhalde der bürgerlich-kirchlichen Ideengeschichte.

Pflanzen reagieren auf Kälte, Wärme und Berührung

Wie aber verhält es sich mit den Pflanzen? Immerhin entfallen 99,7 Prozent der irdischen Biomasse allein auf die Flora. Offenbar leidet der Weizen nicht, wenn wir ihm einen Halm krümmen. Die Mimose schreit nicht, wenn wir sie pflücken. Und der über 3.000 Jahre alte Riesenmammutbaum wehrt sich nicht, wenn wir ihn fällen. Hans Jonas, dessen Philosophie großen Einfluss auf die Schweizer Bundesverfassung hatte, schreibt der gesamten Natur einen Eigenwert zu: „Aber jetzt beansprucht die gesamte Biosphäre des Planeten mit all ihrer Fülle von Arten, in ihrer neu enthüllten Verletzlichkeit gegenüber den exzessiven Eingriffen des Menschen ihren Anteil an der Achtung, die allem gebührt, das seinen Zweck in sich selbst trägt – das heißt allem Lebendigen.“

Der Jurist Christopher Stone schlug vor, dass auch Bäume und andere Bestandteile eines Ökosystems einen gesetzlichen Rechtsstatus erhalten sollen – so, wie ihn auch ebenso „interessenlose“ Unternehmen, Körperschaften und juristische Personen genießen. Anlass dafür war die Walt Disney Company, die Ende der 1960er ein Ski-Ressort mitten im kalifornischen Sequoia National Park errichten wollte. Für die jährlich erwarteten 1,7 Millionen Ski-Gäste wollte Disney obendrein eine Autobahn durch den Nationalpark bauen, woraufhin die Umweltschutzorganisation Sierra Club Klage einreichte, den Fall aber vor dem Obersten Gerichtshof der USA verlor. Juristisch eine Niederlage, moralisch ein Sieg: Der Richter William O. Douglas sagte damals wegweisende Worte vor Gericht: „Ein Schiff ist eine juristische Person, eine Fiktion, die hilfreich ist für maritime Angelegenheiten. Dasselbe sollte gelten für Täler, Alpenwiesen, Flüsse, Seen, Meeresmündungen, Strände, Bergkämme, Wälder, Sumpfgebiete und sogar für die Luft – sie alle stehen unter dem zerstörerischen Druck der modernen Technologie und des modernen Lebens.“

Die Native Americans („Indianer“) haben diese Vision seit Jahrhunderten gelebt – nicht wegen irgendwelcher Gesetze, sondern aus der inneren Einsicht, dass wir tief mit der Erde verwurzelt sind und dass alles Leben sich entfalten will. Dementsprechend kritisierte Kate Luckie, eine Schamanin der Wintu Nation im nördlichen Kalifornien, die blinde Zerstörung allen Lebens durch die weißen, kapitalistischen Kolonialherren:

„Wenn wir Indianer Fleisch töten, essen wir alles auf. Wenn wir nach Wurzeln graben, machen wir kleine Löcher. Wenn wir Häuser bauen, machen wir auch kleine Löcher. Wir schütteln Eichen und Kiefernzapfen herunter. Wir fällen keine Bäume. Wir verwenden nur totes Holz. Die Weißen hingegen pflügen den Boden um, reißen Bäume nieder, töten alles. Der Geist des Landes hasst sie. Die Indianer verletzen niemals irgendetwas, aber die Weißen zerstören alles. Wie kann der Geist der Erde den Weißen mögen? Alles, was der Weiße berührt hat, ist wund. Es sieht krank aus.“

In unserer rationalen und entzauberten Welt gelten Pflanzen als passiv und fast unbelebt. Gleichzeitig wissen wir, dass Pflanzen auf rund 15 verschiedene Umweltfaktoren reagieren können, wie zum Beispiel Kälte und Wärme, Berührungen, Wassermangel oder Angriffe von außen. Wenn ein Baum seine Blätter zur Sonne neigt, um Photosynthese zu betreiben, dann verfolgt er damit den Zweck des Überlebens. Ein Baum, der mit toxischen Chemikalien behandelt wird, versucht diese aus seinem Organismus ausscheiden. Der Baum betreibt Metabolismus , um zu wachsen und seine Anlagen entfalten. Er will all dies zwar nicht bewusst, nichtsdestotrotz offenbart er einen Drang nach Leben – der Baum strebt gegen die Negation seiner Existenz. Jedenfalls ist das Grünzeug nicht dumm wie Stroh, wie der italienische Pflanzenneurobiologe Stefano Mancuso in seinem Buch Die Intelligenz der Pflanzen (2015) zeigt: Wenn Tomaten von Raupen befallen werden, sondern sie Duftstoffe ab, um die Angreifer abzuwehren und ihre umstehenden Artgenossen zu warnen.

Zuckerschoten ernten ist kein Verbrechen

„Oha, was für’n Quatsch!“, denkst du jetzt vielleicht: Schickt uns eine solche Ethik nicht buchstäblich zurück auf die Bäume? Ist das nicht alles etwas hanebüchen? Natürlich brauchen wir einen gewissen Spielraum, um den Würde-Begriff nicht zu überstrapazieren: Denn wir müssen freilich Bäume fällen, um Bücher lesen zu können, und wir müssen Gemüse und Obst ernten, um zu überleben.

Mit am striktesten sind hier die Anhänger des Jainismus, die den vor sich liegenden Weg mit einem kleinen Besen kehren, um auch die kleinsten Tiere nicht zu verletzen. Die Jainisten essen keinerlei Gemüse, bei dem der gesamte Pflanzenkörper geerntet wird, wie etwa Kartoffeln oder Zwiebeln. Diese Position ist natürlich legitim, geht aber selbst den hartgesottensten Pflanzenethiker zu weit. Schließlich haben Pflanzen kein zentrales Nervensystem, mittels dessen sie Schmerzen empfinden können. Pflanzen sind modular aufgebaut, sie haben kein Herz, kein Gehirn und keinen Magen. Und wenn wir ein Blatt oder eine Frucht abschneiden, wachsen diese Teile einfach nach – was bei einem Säugetier sicherlich nicht der Fall ist.

Kurzum: Eine Ethik von der Würde des Lebendigen soll uns moralisch nicht überfordern, sie verlangt stets nach einer Interessenabwägung. Die ist allerdings nicht beliebig. Wir sollten alle Lebewesen so weit wie möglich schützen. Wir sollten verantwortungsbewusst und mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln nach bestem Willen versuchen, unnötige Verletzungen der Würde des Lebendigen zu unterlassen. Vielleicht ist der Würde-Begriff auch moralisch zu aufgeladen, um ihn auf Pflanzen zu übertragen. Die in Wien forschende Pflanzenethikerin Angela Kallhoff schlägt vor, besser das „Gedeihen der Pflanzen“ zu schützen.

Wie dem auch sei: Die Würde, der Eigenwert oder das Recht zu „gedeihen“ greift zum Beispiel dann, wenn ein intaktes Ökosystem zerstört werden soll. Deshalb heißt es im offiziellen Kommentar zur Schweizer Bundesverfassung, dass Pflanzenkollektive geschützt werden sollen und nicht unbedingt einzelne Individuen. Wer Zuckerschoten erntet und verzehrt, ist also kein Verbrecher. Wer den Regenwald abholzt allerdings schon.

Der baskische Pflanzenethiker Michael Marder bemerkt dazu: „Angesichts der desaströsen Weltlage können Pflanzenrechte ein hilfreiches gesetzliches Mittel sein, um den Rückgang der Biodiversität zu bremsen und die Zerstörung der Flora zu mildern – der Grundpfeiler jeder natürlichen Umwelt.“ Hier und da wird diese Forderung Realität: Die neuseeländische Regierung hat 2017 den Whanganui – der für die Maori, aber auch als Ökosystem von großer Bedeutung ist – als ersten Fluss weltweit als juristische Person unter Schutz gestellt. „In den vergangenen 100 Jahren herrschte die Ansicht vor, dass man den Fluss besitzen und managen kann. Aber wir sind nicht Herrscher über die Natur, sondern ein Teil von ihr“, betont Gerrard Albert, der Wortführer der Maori. Und Chris Finlayson, Verhandlungsführer der Regierung, erklärt: „Dass ein Naturgegenstand als juristische Person anerkannt wird, ist auch nicht merkwürdiger als der Status von Stiftungen, Unternehmen oder Aktiengesellschaften.“

Könnte man die Sonne patentieren?

Der Eigenwert der Pflanzen greift auch bei der Gentechnik: Zum einen, weil der Mensch die DNA der Flora manipuliert und sie dadurch schädigt. Zum anderen, weil auch die gesundheitlichen Folgen für den Menschen eines großes Risiko bergen. Ethisch ebenso bedenklich ist, dass inzwischen Patente auf Pflanzen und natürliche Wirkstoffe vergeben werden. Wie können Agrar- und Pharmakonzerne Eigentumsrechte an der DNA beanspruchen und damit buchstäblich das Leben privatisieren – so zum Beispiel beim 2002 vergebenen Patent auf die Züchtung von Brokkoli (EP 1069819). Will ein Bauer den Brokkoli ohne Erlaubnis des Patentinhabers anbauen oder verkaufen, macht er sich strafbar. Unsere Vorfahren haben, als kostenlose Kulturleistung, aus dem Urkohl den Brokkoli gezüchtet. Darauf ein Patent zu erlassen, mutet genauso absurd an, als wollte man jetzt das Rad oder den Bleistift patentieren. Als der US-amerikanische Immunologe Jonas Salk 1952 einen lebensrettenden Impfstoff gegen Polio entwickelt hatte, sagte er: „Es gibt kein Patent. Könnte man die Sonne patentieren?“

Ebenso fatal ist der Rückgang der Sortenvielfalt. Vor 200 Jahren wurden zum Beispiel in den USA noch über 7.000 Apfel- und 2.000 Birnensorten gezüchtet. Heute beherrschen zwei Birnensorten 96 Prozent des Markts. Von den weltweit zigtausend Kartoffelsorten werden nur vier im großen Stil konventionell angebaut und kommerziell vermarktet. Damit nimmt nicht nur die Geschmacksvielfalt auf unserem Teller ab. Die Genpools der gezüchteten Pflanzen sind derart verkümmert, dass sie immer anfälliger für Krankheiten werden. Deswegen benötigen Pflanzen, die keinerlei Lobby haben, unseren Schutz. Der renommierte Pflanzenforscher Stefano Mancuso ist einer der Vorreiter, wenn es um Pflanzenrechte geht:

„Wenn wir Pflanzen mit Rechten ausstatten würden, hieße das aber beispielsweise, dass wir den Regenwald nicht mehr dem Erdboden gleichmachen dürften. Und deshalb halte ich die Anerkennung und Festschreibung von Pflanzenrechten für einen ganz wichtigen Schritt. Nicht so sehr zum Schutz der Pflanzen, vielmehr zu unserem eigenen Schutz. […] Wenn wir heute eine Diskussion über die Rechte von Pflanzen initiieren, dann werden wir, mit ein bisschen Glück und gutem Willen, vielleicht zur Jahrhundertmitte erste Ergebnisse sehen.“

Pflanzen als Kläger

Ich denke, dass wir der Natur tatsächlich das Recht einräumen sollten, gegen die Menschheit zu klagen. Sprich, wir sollten die Würde des Lebendigen – wie bereits in der Schweiz geschehen – auch im deutschen Grundgesetz, in der europäischen Verfassung und idealerweise innerhalb der Vereinten Nationen juristisch verankern. Pflanzenkollektive und Ökosysteme sollten den Status von juristischen Personen erhalten, so dass sie rechtsfähig und vor Gericht verhandlungsfähig sind. Wie bei einer Körperschaft oder Stiftung öffentlichen Rechts gibt es dann eine juristische Vertretung – also einen konkreten Mensch –, der die juristischen Interessen wahrnimmt. Dann könnten wir – wie in seltenen juristischen Einzelfällen bereits geschehen – vom Aussterben bedrohte Tiere und Pflanzenkollektive, die Weltmeere und etliche Ökosysteme rund um den Globus als juristische Personen behandeln.

Vor allen gesellschaftlichen Entwicklungen steht ein Bewusstseinswandel. Und der wird seine Zeit brauchen, zumal in der urbanen, bildschirmgeprägten und geradezu sterilen Umgebung, in der sich immer mehr Menschen bewegen. Aber es ist ganz simpel: Ohne die Pracht der Ökosysteme wird die Welt ihrer Schönheit beraubt. Ohne Pflanzen können wir nicht atmen. Ohne Pflanzen bricht die globale Nahrungskette zusammen. Ohne gesunde Pflanzen kann es keine gesunden Menschen geben. Ja, ohne Pflanzen kann es überhaupt kein Leben geben. Pflanzenkollektive sind buchstäblich das Fundament dieser Erde.

Doch juristisch ist dieses Fundament ungeschützt und damit angreifbar. Deshalb tut eine Diskussion über Pflanzenrechte not.


Theresa Bäuerlein hat bei der Erarbeitung des Textes geholfen; Esther Göbel hat ihn gegengelesen.