Bekannte von mir haben drei Kinder in drei Jahren gekriegt. Würde man sie heute fragen, was ihnen noch fehlt im Leben, wäre da nichts mehr, außer vielleicht: fünf Minuten Ruhe, ein bisschen Zeit für sich und dass sich der Kopf mal nicht anfühlt wie mit Watte gefüllt. Ihre Gesichter sind müde und sehen aus wie aus Pergamentpapier.
Ich kann das gut nachvollziehen, ich bin selbst seit einem Jahr Vater. Meine Augen haben sich auch erschrocken in ihre Höhlen verkrochen, mein Kopf surrt wie ein Notstromaggregat, immer auf Volllast, und nun weiß ich seit ein paar Monaten auch, dass es kaum etwas gibt auf der Welt, das so nervenaufreibend ist wie Kindererziehung. U-Boot-Krieg vielleicht.
Ein paar Dinge habe ich gelernt: Acht-Kilo-Windeln heißt nicht, dass man auch acht Kilo reinscheißen darf. Außerdem stellen Eltern gerne alles in Frage, nicht unbedingt sich selbst, dafür aber andere, also Erzieher, Lehrer, das Ernährungs- und Schulwesen sowie den Mann von der Kindergeldstelle.
Ich weiß auch: Nichts ist anstrengender als Eltern, die sich überall einmischen, klare Feindbilder haben, alles besser wissen. Wenn du, wie ich, neu im Job bist, heißt es: zugucken, lernen, Fresse halten. Das ist nicht immer einfach.
Einmal, im Sommer, saßen wir mit unseren Bekannten im Garten. Wespen krochen auf Eiskugeln herum. Bei dieser Gelegenheit sah ich, dass unsere Bekannten Kindererziehung offenbar als Test nutzen, um zu sehen, wie viel Zucker in welcher Menge Kind löslich ist.
Die Mengen, die sie ihren Kindern rüberschoben – Eis, Fanta und Nutella – waren schon etwas schockierend. Und der Kleinste ist erst ein Jahr alt. Ich habe nichts gesagt. Aber Menschen beobachtet, die unsere Bekannten ansahen, als hätten sie gerade “Mein Kampf” in deren Bücherregal entdeckt.
Nichts spaltet Freundeskreise wie Erziehungsfragen. Außer vielleicht die AfD.
Zucker für die Kinder, Ruhe für die Eltern
Das Bittere ist: Ich kann unsere Bekannten gut verstehen, denn fast die einzige Chance auf fünf Minuten Ruhe bei drei kleinen Kindern lautet: Süßigkeiten. Unsere Bekannten sind keine Unmenschen, sie sind eben auch nur Menschen. Ich weiß, dass sie ein schlechtes Gewissen plagt, weil Leute, die nicht das machen, was die moderne Ernährungswissenschaft oder das, was der Mainstream dafür hält, sich dauernd rechtfertigen müssen.
Meine Bekannten sagen immer: „Stellt euch nicht so an, ein bisschen Zucker hat noch keinem geschadet.”
Oder: „Ihnen schmeckts doch!”
Das sind zwei Dinge, die augenscheinlich zutreffen: Bisher ist keines der drei Kinder einfach umgefallen und liegengeblieben – und geschmacklich ist die Nachfrage über jeden Zweifel erhaben. Aber wie viel Zucker ist eigentlich okay – und wie viel zu viel? Ist es eine Frage der Gewöhnung?
Ich beschloss, ein Experiment zu machen. Ich wollte einmal ohne Streit und dafür völlig objektiv herausfinden, ob Zucker tatsächlich schlecht für Kinder ist. Welche Fakten sind bewiesen? Was sind lediglich Vorurteile? Wer produziert Zucker? Was macht Zucker? Ist Zucker wirklich schlimm?
Ich finde, dass man mit Theorie und Bücherwissen in einem solchen Fall nur begrenzt weiterkommt. Also notierte ich mir den groben Essensplan der drei Kinder, welche Süßigkeiten sie besonders mochten, und beschloss, mich selbst ab jetzt so zu ernähren. Es würde ein Test sein, an dessen Ende Fakten stehen würden, nicht bloß Meinungen und Streit.
So kam ich auf die Idee, und das klingt sehr albern für einen Mann, der es bereits an der Hüfte hat, die Welt “durch Kinderaugen zu sehen”. Denn den Eltern würde immer ein Argument einfallen, die eine oder andere Erziehungsmethode zu rechtfertigen – aber von Kindern und als Kind würde ich die Wahrheit erfahren. Ich würde Anwalt der Kleinsten und Schwächsten sein, derjenigen also, die keine Stimme hatten oder schlicht nicht ausreichend sprechen konnten. Kurzum: Ich würde ein Kind werden.
Ich brauchte nur vier Dinge dafür: Mut. Eine hohe Schamtoleranz. Einen Kitaplatz. Und ein wirksames Netzwerk extrem-minderjähriger Informanten.
420 Gramm Zucker und 7000 Kalorien - in einer 500-Milliliter-Flasche
Man muss wissen: Ich habe mich noch nie mit Süßigkeiten beschäftigt; ich aß sie schlichtweg nicht. Süßigkeiten waren für mich immer etwas, das andere mochten. Bei uns zu Hause fanden sie nicht statt, oder nur in Ausnahmen, denn meine Mutter pflegte ein Dogma, das mit “Kabelfernsehen oder ich!” ausreichend präzise umschrieben ist. Das Jahr über hielt sie sich eisern daran, an Feiertagen vernichtete sie dafür furchterregende Mengen Schoko-Rum-Flaschen und sagte anschließend, das Feiern würde übelkeitsbedingt ausfallen müssen. Solche Dogmen waren das.
Ich hatte also nur eine wirklich negative Erfahrung mit Zucker machen können. Und zwar, als ich versucht hatte, eine Flasche 500-Milliliter-Cola-Getränkesirup auszutrinken, pur und dickflüssig, wobei diese Menge laut Beschreibung mit 12 Litern Wasser zu verdünnen gewesen wäre. Und auf 420 Gramm Zucker und knapp über 7000 Kalorien kam. Ich habe es natürlich nicht ganz geschafft.
Seither esse ich keine Süßigkeiten mehr.
Trotzdem weiß ich, wie alle, dass Zucker irgendwie schlecht ist. Wissenschaftler und Ärzte sind sich überwiegend einig darin, wenn sie sagen, dass Zucker schuld an vielem ist, was den modernen Menschen plagt: Herz-Kreislaufkrankheiten, Diabetes, Krebs. So lautet jedenfalls die kollektive Meinung.
Punkt eins auf meiner Liste war also: Studiere den Feind. Zucker war (noch) nicht mein Feind, aber studieren muss man ja heutzutage trotzdem. Ich würde also rausgehen und Kinder beobachten wie alte Menschen die Vögel im Park.
Die größte Schwierigkeit sah ich darin, mit Kindern ins Gespräch zu kommen: Wer sich Kindern in Begleitung ihrer Eltern nähert, selbst aber kein Kind mitbringt, muss mit Misstrauen rechnen. Ist das Kind allein oder keine Eltern in der Nähe, gar mit der Polizei, dem Sittendezernat oder einer selbsternannten Bürgerwehr. Solche Zeiten sind das.
Gleichzeitig war klar, dass ich mit Kindern würde reden müssen. Zur Not würde ich halt meinen Sohn mitnehmen, nur konnte ich den nicht jederzeit überall hintragen.
Als erste Strategie stellte ich mich eine Stunde vor eine Eisdiele. Das war sehr merkwürdig. Für mich, aber auch für den Eismann.
Was zog die Kinder so magisch an? Warum schrien sie, wenn sie nicht bekamen, was sie wollten, und warum zogen die Eltern sie so vehement davon? Wie hypnotisiert streckten sie ihre Hände die Scheiben zur Eisdiele hinauf und der Eismann lächelte, er lächelte über das ganze Gesicht, ein kleines bisschen zu viel, fand ich, während er die Kugeln ausgab als würde ein Gott kleine bunte Planeten verteilen. Warum lächelst du so, Eismann? Es erschien mir ein bisschen wie das Grinsen eines Dealers, der gerade ein gutes Geschäft gemacht hatte. Und überall in der Straße standen die Schilder, die mit Süßen lockten: Eis, “Slush”, gezuckerte Drinks. Und auf fast jedem: ein Kind oder eine Familie.
Ich guckte Werbeclips: “Werthers Echte” (Opa gibt Sohn Karamell, weil dieser zufällig vorbeikommt und Opa besucht und noch’n paar “Werthers Echte” aus’m Krieg hat), “Capri-Sonne” (“Capri-Sonne” hüpft einfach frech in den Einkaufswagen), “Milchschnitte” (Mutter gibt Kind “Milchschnitte” aus Kühlschrank, der ansonsten leer ist), “Duplo” (junger Typ schiebt mit Schokoriegel graue Wolken vom Himmel) und dann noch eine, wo die Mutter in einer Hängematte Süßigkeiten isst, weil sie Ruhe vor den Kindern braucht. Die Süßigkeiten und die Hängematte: Das sind die “fünf Minuten” jener Mutter. Aha. Weißt du Bescheid.
Süßigkeiten machen ein gutes Gefühl. Das ist ein bisschen ähnlich wie mit anderen Substanzen, die an das Belohnungssystem andocken: Weintrinker trinken unter bepflanzten Markisen und reden über fremdsprachige Romane. Der Biertrinker sitzt in seiner düsteren Ecken nahe an der Dartscheibe im Licht einer Deckenlampe und nippt am Schaum. Der Raucher zieht an seiner Kippe und macht es, obwohl er selbst weiß, dass sein Leben eines Tages mit dem letzten Seufzen der Herz-Lungen-Maschine ausklingen wird.
124 Millionen Kinder sind weltweit fettleibig – zehnmal mehr als noch vor 40 Jahren. Gleichzeitig hat die Zuckerproduktion sich in den letzten Hundert Jahren mehr als verzehnfacht, in den letzten zehn Jahren noch einmal verdoppelt; es könnte da einen Zusammenhang geben. Die Schwellenländer ziehen nach, während die westlichen Länder konstant zwischen 40 und 60 Kilogramm Zucker pro Kopf und Jahr vertilgen. In der EU: 36 Kilo. Das sind 100 Gramm pro Tag oder 700 pro Woche. Nur Kuba liegt mit 71 Kilo deutlich drüber, aber die haben die Rumproduktion. Größter Zuckererzeuger ist übrigens Brasilien.
Studien aus den letzten Jahrzehnten sind zu einem interessanten Schluss gekommen, der sich mit den Kinderbildern in der Werbung deckt: Im Laufe unseres Lebens essen wir demnach immer weniger Zucker. Je älter wir werden, desto mehr achten wir also auf unseren Körper. Das würde bedeuten, dass Kinder die Hauptzielgruppe für Süßigkeiten sind. Und dann hätte jemand auch ein Interesse daran, diese Zielgruppe konsequent zu erreichen und zu versorgen. Oder nicht?
Kinder sind auf süß gepolt
“Es schmeckt ihnen doch!” – Das interessante ist: Das stimmt. Tatsächlich sind Kinder von Geburt an auf süß gepolt. Geschmack bildet sich ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat heraus, da sind Kinder von Fruchtwasser umgeben, später folgt eine zweite, recht wichtige Flüssigkeit der Menschwerdung: die Muttermilch. Die besteht fast nur aus Zucker und Fett, weil das gleichzeitig am effektivsten und stärksten auf unser Belohnungssystem wirkt. Denn wenn wir Hunger haben, springt ein System an, das erst wieder Ruhe gibt, wenn der Hunger gestillt ist. Süß steht für Kohlenhydrate, einem wichtigen Energielieferanten des Körpers.
Geschmack entsteht zu 80 Prozent aus Geruch – und ist eng mit Emotionen verbunden. In der Großhirnrinde analysieren Nervenzellen permanent alle Geschmacksreize. Anschließend rufen Botenstoffe Erregungsmuster hervor, von denen abhängt, ob uns der Geschmack gefällt oder nicht. Nach dem Genuss von Schokolade steigt die Konzentration von Endorphinen im Gehirn. Die Folge: Glücksgefühle.
Bitteres dagegen bedeutet schon seit der Frühzeit des Menschen: Gefahr. Giftige Pflanzen und Pilze schmecken bitter. Süßes dagegen zog unsere Vorfahren magisch an. Reife Früchte schmecken nämlich süß und liefern lebenswichtiges Vitamin C. Deshalb mögen Kinder süß. Und sie haben gar keine Wahl. Es ist schlicht: lebenswichtig.
Ist es dann nicht total gemein von den Zuckerfimen, mit ihrer Werbung genau diesen Umstand auszunutzen?
Bei mir lösen Süßigkeiten derweil keine Hochstimmung aus, haben sie nie. Eher: Anteilnahmslosigkeit. Aber wenn ich keine Süßigkeiten mochte, viele sogar tatsächlich abscheulich fand: Könnte ich mich wieder daran gewöhnen?
Ich machte mir ein paar Notizen und bestellte ich ein XXL-Spagettieis. Kinder guckten mich neidisch an. Ich zeigte ihnen 20 Euro in bar und überlegte, hämisch daran zu lecken. Aber: Junge, kräftige Väter in der Nähe, die die Gelegenheit nutzen würden, um sich zu beweisen.
Das Experiment – der Anfang
Ich stehe am Tor eines Freizeitparks. Hier würde mein Experiment beginnen. Ich würde mich von Bude zu Bude fressen und Ausschau halten nach irgendetwas Gesundem, wovon ich aber nicht ausgehen kann. Der Park ist nämlich explizit für Unter-Zehnjährige konzipiert.
Ich ziehe ein Ticket, gehe durch das Drehkreuz, daneben reitet ein kleines Mädchen ein Plastik-Pony, vor und zurück. Vor ihr steht ein Bildschirm, der eine Prinzessin zeigt, die ein Pony reitet.
In meiner Hosentasche knistern wieder 20 Euro. Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich sie besuchen kommen würde, um noch einmal in den Park zu gehen und wieder ihr Kind zu sein, da hatte sie es genommen als das, was es war: eine Drohung.
Zucker ist eine Chimäre: Haushalts- oder Industriezucker, auch Saccharose genannt, versteckt sich unter verschiedenen Namen in den verschiedensten Speisen. Zucker tarnt sich akribisch. Er wechselt laufend seine Namen. Und wer so handelt, denke ich, hat garantiert etwas zu verbergen.
Ich steige in den “Western Express”. Eltern mustern mich argwöhnisch.
Die Waggons sind voll mit kleinen, runden Kindern, die mich betrachten wie einen Spitzel.
„Keine Sorge”, sage ich leise zu ihnen.
Der Zug setzt sich ratternd in Bewegung und passiert langsam eine Baumreihe, so dass die Eltern für kurze Zeit außer Sicht sind. Ich drehe mich vorsichtig um und sage in ihre runden Gesichter, die nur abwechselnd zwinkern wie eine Zwölferpackung-Eier mit augedruckten Augen.
„Ihr könnt mir vertrauen. Ich bin einer von Euch.”
Wie gut oder gefährlich ist Zucker? Omas sind enttäuscht, Nachbarn verärgert, Bekannte wütend: Wenn man seinem Kind keinen Zucker gewährt, gerät man in permanenten Rechtfertigungsdruck. Wenn man ihnen aber zu viele Süßiggkeiten zusteckt, auch.
Deswegen habe ich mich an ein Experiment gewagt: Drei bis vier Wochen erlebe ich die Welt um mich herum im Hinblick auf Zucker als Kind. Ich esse Süßes wie Kinder. Stehe konspirativ vor Eisdielen. Greife mir jedes Bonbon, das in Reichweite ist. Und habe sogar einen Kita-Platz! (Da sage noch einer, in Leipzig herrsche Engpass!)
Für die nächste Folge meines Zusammenhangs Kinder auf Zucker esse ich so viel Zucker wie möglich. Dabei bin ich normalerweise kein Fan von Süßigkeiten. Aber jetzt will ich es wissen: Kann man sich wieder daran gewöhnen? Beziehungsweise: Wie lange dauert es, bis mein Körper sich daran gewöht, so dass er nicht mehr ohne kann?
(Und nein, weil in der Redaktion diese Frage aufkam: Ich bin NICHT verrückt. Das ist ein sehr ernstes Thema. Es geht immerhin um unsere Kinder.)
Beim Erarbeiten des Textes haben Christian Gesellmann und Theresa Bäuerlein geholfen; Esther Göbel hat zum Schluss Korrektur gelesen; die Fotos stammen von Bernd Roeder, Berodi Fotostudio Leipzig, Audio: Christian Melchert.