Herr Trentmann, eine Freundin von mir ist kaufsüchtig. Sie kauft und kauft und kauft und kauft. Viel mehr, als sie braucht, nämlich so viel, wie sie kann. Wieso um Himmels Willen denken wir, dass der massenhafte Konsum von Dingen uns nachhaltig glücklich macht?
Darf ich kurz fragen: Benutzt Ihre Freundin dasselbe Wort für ihr Verhalten? Also handelt es sich hier um ein diagnostiziertes psychologisches Problem?
Nein, das nicht. Sie sagt aber selbst von sich, sie sei kaufsüchtig. Halb im Scherz, halb ernst gemeint. Man kann sie als Beispiel für dieses raffende Kaufverhalten unserer Zeit sehen, das viele Menschen haben.
Da gibt es oft ein Missverständnis: Die meisten Käufer konsumieren nicht, weil sie sich danach glücklicher fühlen – sondern, weil sie damit irgendetwas erreichen wollen. Die Idee, dass Kaufen glücklich macht, wird natürlich von der Werbung verbreitet. Aber wenn ich die heutige Werbung aus der Kleidungs- und Modebranche betrachte, sehen die Protagonisten dort auch nicht happy aus. Sondern ausgemergelt und ziemlich miserabel.
Aber wenn ich mir die Influencer auf Instagram anschaue, diese vielen hübschen jungen Frauen, die lächelnd mit irgendeinem Produkt vor irgendeinem Sonnenuntergang an irgendeinem Strand posieren, dann sagen die mir doch genau das: „Kauf dieses Produkt, und du wirst genauso glücklich und gut aussehen wie ich!“
Ich würde auch in diesem Kontext nicht unbedingt das Wort „glücklich“ verwenden. Was hier suggeriert werden soll: Man findet erst zu seiner eigenen Persönlichkeit, wenn man diese ständig ausdrückt. Und zwar wie? Durch neue Produkte. Genau auf diese Idee zielt die Werbung ab: Das grundsätzliche Verständnis unserer modernen Gesellschaft besteht darin, dass wir Gegenstände konsumieren, um uns auszudrücken. Konsum wird damit identitätsstiftend. Hinzu kommt: Wir sind davon überzeugt, dass unsere Person sich ständig wandelt, dass die Identität immer im Fluss ist. Und um diesen Wandel nach außen mitzuteilen, benutzen wir Dinge.
Haben Sie ein Beispiel?
Schauen Sie in Ihren Kleiderschrank: Wie bei vielen Menschen hängt dort sicher ein Teil, das Sie nur einmal getragen haben. Wenn Sie Ihren Schrank dann ausmisten, werden Sie ein schlechtes Gewissen bekommen und sich denken: „Ich habe das nur ein einziges Mal angezogen, hätte ich das wirklich kaufen müssen?“ Genau so denken viele Konsumenten. Aber sie denken gleichzeitig auch: „Na ja, dieses Kleid entsprach meiner Person vor einem Jahr. Aber jetzt passt es nicht mehr zu mir. Also muss ich etwas Neues kaufen.“
Seit wann dient Konsum unserer Selbstverwirklichung?
Diese Idee ist viel älter, als wir denken. Die Ursprünge der Modeindustrie, also die Idee, dass es verschiedene Jahreszeiten gibt, in denen man sich äußerlich anders darstellen muss, liegen im 18. Jahrhundert. In dieser Zeit begannen junge Handwerksgesellen nach ihrer Prüfung zum Beispiel gezielt damit, sich neu einzukleiden, um ihren Mitmenschen zu zeigen: „Seht her, ich bin jetzt wer! Und zwar nicht mehr der kleine Gesellen-Hansel mit kurzen Hosen, sondern ich trage jetzt ein modisches Hemd!“ Man sieht im 17./18. Jahrhundert also, wie Einzelne, aber auch gesellschaftliche Gruppen, Konsum benutzen, um sich eine Identität zusammenzubasteln, die sie abgrenzt von anderen oder eine Zugehörigkeit schafft.
Noch etwas früher, im 15. Jahrhundert, war übermäßiger Konsum hingegen verboten, und zwar vom Staat. Wieso? Aus heutiger Sicht klingt das absurd.
Erst einmal sollten wir festzuhalten: Konsum findet immer auch in einem politischen, institutionellen Rahmen statt. Je nachdem, wohin man schaut ins Europa des 17./18. Jahrhundert, hatten Städte, Gemeinschaften, Autoritäten und der Staat ganz eindeutig die Hand mit im Spiel und versuchten, Privatkonsum zu regulieren. Die Autoritäten sorgten sich einerseits, dass die Bürger sonst nicht mehr genug Geld übrighaben würden, um ihre Steuern zu zahlen. Zweitens fürchteten sie, dass Konsum, insbesondere jener der unteren Klassen, dazu führen könnte, Hierarchien aufzulockern oder infrage zu stellen. Damit verbunden war eine dritte Sorge, die viel über die damaligen Geschlechterbeziehungen aussagt: Insbesondere Frauen wurde der Konsum von Dingen verboten. Die Männer hauten auf den Tisch und sagten: „Wir kontrollieren hier, wofür das Geld ausgegeben wird!“ Wenn eine Frau in Württemberg mit einem modischen Baumwolltuch aus Indien auftauchte, wurde sie ins Gefängnis gesteckt. Eine solche Frau galt als Rebell.
Und das war natürlich aus männlicher Sicht nicht zu begrüßen, klar.
Man darf wirklich nicht nostalgisch werden, wenn man auf diese Zeiten zurückblickt, in denen der Staat in solchem Maße eingriff. Denn es gibt immer bestimmte Gruppen, die mehr diskriminiert werden als andere. Und in der frühen Neuzeit waren es eben zu 95 Prozent Frauen, die bestraft wurden.
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Materielle Wünsche sind gar keine Erfindung der Moderne.” Ist der Mensch also seit jeher ein Luxustier und denkt sich: Ich möchte Dinge besitzen, die ich nicht brauche, einfach, weil ich es will!
Sicherlich gab es immer Gruppen, die diesem Bedürfnis nachgegangen sind. Aber der große Unterschied zwischen der Zeit nach dem 15./16. Jahrhundert und den Jahrtausenden davor ist der, dass Konsumverhalten früher eingedämmt wurde. Sowohl durch den Staat als auch durch bestimmte kulturelle Normen und Werte. Vor dem 16. Jahrhundert lebten Menschen in Gesellschaften, in denen übermäßiger Konsum verpönt war. Luxus- und Konsumgüter wurden als böse Versuchung betrachtet, als persönliche Schwäche, der es zu widerstehen galt. Wer das nicht schaffte, stellte sich gegen Gott, war kein guter Bürger, keine gute Ehefrau.
Der wahre Christ öffnet seine Arme für die Welt der Güter
Wie entstand dann der Wandel?
Nach 1600 setzte sich – erst im Westen, dann auch allgemeiner – eine Grundannahme durch, die genau gegenteilig war zu der vorherigen: Konsum wurde fortan als Mittel betrachtet, den Menschen als Einzelnen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes zu perfektionieren.
Warten Sie, das geht mir zu schnell. Erst predigen Kirche und Moral: „Konsumiere bloß nicht mehr, als du brauchst! Du bist schlecht, wenn du es tust!“ Und dann auf einmal verkehrt sich diese Haltung und der Staat fördert genau das, was er als ehemals sündhaft reklamierte?
Dieser Wandel ist natürlich nicht in einem Moment passiert, sondern über bestimmte Stufen und Phasen, die miteinander verbunden sind. Da hat ein Akkumulationsprozess stattgefunden über einen Zeitraum von 100 bis 150 Jahren. Holländische Händler kehrten im 17. Jahrhundert von ihren Reisen zurück und brachten exotische Güter mit, die die Europäer bis dahin noch nie gesehen hatten: die Muskatnuss, Kakao, das Gürteltier. Diese Dinge und der Handel mit ihnen eröffneten dem Bürger eine neue Welt mit einer Vielfalt, der man sich nicht entgegenstellen sollte – so die Händler. Deren Argumentation speiste sich aber nicht nur aus dem eigenen Profitgedanken; viele verstanden sich als Amateurwissenschaftler, die dachten, durch die neuen Güter könne man die Welt im Ganzen, physikalisch und biologisch, besser verstehen.
In einer zweiten Stufe änderten auch Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller ihr Narrativ: Hätte Gott die Welt erschaffen mit all diesen Dingen, wenn er nicht gewollt hätte, dass die Menschen sie auch sehen? Die neue Argumentation lautete fortan: Wer sich all dem verschließt, der verschließt sich auch vor Gott. Der wahre Christ öffnet seine Arme und lässt die Welt der Güter als Teil der göttlichen Schöpfung in sein Zuhause.
In diesen 150 Jahren wurde Konsum also von einer negativen zu einer positiven Sache?
Genau. Konsum bedeutete immer weniger Verbrauch oder Zerstörung und wurde stattdessen zu etwas Positiven und Schöpferischen.
Aber welches Interesse hatte der Staat an diesem Wandel?
Konsum erfuhr eine gesellschaftlich-politische Rechtfertigung: Früher wurde argumentiert, dass Luxusgüter und neue Trends die einheimische Wirtschaft kaputtmachten. Das neue Credo aber lautete: Konsumgüter benötigen Innovation. Die wiederum braucht neue Technologien, es wird mehr Geld investiert, es gibt mehr Geschäfte und Unternehmen. Wenn also mehr Menschen neue Dinge kaufen, ist das nichts Schlechtes, sondern kurbelt die Wirtschaft an. Und wenn das passiert, gibt es weniger Armut, dafür höhere Einkommen. Die Gesellschaft als Ganzes wird stärker, der Staat reicher – und das wiederum bedeutet, er kann nicht einfach überrollt werden. Voila!
„Als Werber hätte ich ziemlich schlaflose Nächte”
Im 20. Jahrhundert bildete sich dann die Konsumgesellschaft. Wer aber beeinflusst den Konsumenten letztlich am stärksten? Die Werbung? Der Markt? Die Peergroup?
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannten die Konsumenten erstmals: „Wir haben ja Macht! Denn wir sind die, die Geld ausgeben! Nur einige sind Produzenten – aber alle Menschen sind Konsumenten! Frauen, Männer, Alte, Junge, Bürger mit Wahlrecht, auch solche ohne. Damit sind wir eine Bürgermacht!“ Der Konsument wurde fortan nicht nur als jemand angesehen, der Geld ausgab, um seinen Schrank zu füllen – sondern man stattete ihn oder sie mit einer bürgerlichen Pflicht aus. Denn Konsum galt in der neuen Argumentation letztlich dem Wohle des Staates. Werbung und Wirtschaft entdeckten den Konsumenten hingegen erst, nachdem er als soziale Bewegung schon existierte. Die Idee von der Konsumgesellschaft als künstliches Produkt, geschaffen von Unternehmern und Werbern, setze sich sowohl auf der linken als auch der rechten politischen Seite schon vor dem Zweiten Weltkrieg durch und wurde nach diesem dann popularisiert – bis in die 70er Jahre hinein. Danach wurde die Idee mehr und mehr über den Haufen geworfen. Wir wissen mittlerweile aus zahlreichen Studien, dass der Konsument ja nicht auf den Kopf gefallen ist.
Sie sprechen mit Ihrem letzten Satz auf den ethischen Konsumenten an, der bewusst nur Biomilch kauft, auf Fleisch verzichtet und die Kinder mit unbehandeltem Holzspielzeug versorgt?
Nicht nur der. Auch Leute, die nicht an den ethischen Konsumbewegungen teilnehmen, also ganz reguläre Konsumenten, sind gewieft. Jedem Trick, den die Werbeindustrie versucht, werden sie ausgesetzt – und lernen mit. Sie werden zu kompetenten Konsumenten. Bei Kindern und Jugendlichen kann man das sehr schön beobachten, wie da mit dem Alter die Kritikfähigkeit und Mündigkeit des Käufers zunimmt. Ganz platt gesagt: Wenn ich Werber wäre, würde ich viele schlaflose Nächte über der Frage brüten: „Wie kann ich es schaffen, einem 15-Jährigen, der mit den neuen Technologien viel besser umgehen kann als ich, meine Produkte anzudrehen?“
Dafür gibt es ja die Influencer. Denen würde ich als Werberin mein Produkt in die Hand drücken und fertig.
Ganz so einfach ist es nicht. In der Bekleidungsbranche gibt es zum Beispiel Trends, die eine Eigendynamik entwickeln und vollkommen unterhalb des Radars der Modeindustrie laufen. Die versucht dann, sich einzukaufen in diverse Subkulturen, um an Ort und Stelle zu sein, wenn sich ein neuer Trend entwickelt. Es ist wie ein Hase-und-Igel-Spiel: Wer ist am Ende schneller?
Der Konsument wird kompetenter und kritischer – gleichzeitig wächst die Anspruchshaltung. Jeder Deutsche besitzt im Schnitt 13 Paar Socken. Kein Mensch braucht so viel. Und trotzdem denken wir, dass uns ein 14. Paar auch noch zusteht. Wann hat sich dieser maßlose Anspruch entwickelt?
Der Gedanke, es sei normal, dass es von allem immer mehr gibt, hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitet. Heute sitzen wir deswegen in einer Zwickmühle: Kulturell haben wir verinnerlicht, dass Konsum etwas Gutes ist – gleichzeitig wissen wir aber auch, dass wir Maß halten sollten. Nur: Was ist Maß halten? Früher war mäßiger Konsum, wenn die Stube zu Hause 15 oder 16 Grad warm geheizt war. Heute müssen es 20 oder 21 Grad sein. Und jeder soll das Anrecht auf eine 21 Grad warme Stube haben, also Anspruch auf Konsum.
Der Staat sitzt selbst zwischen den Stühlen
Aber das ist doch super, weil sehr demokratisch gedacht!
Aus einer traditionell demokratischen Perspektive ist dieser Ansatz durchaus zu rechtfertigen. Nur sind wir nicht allein auf der Welt. Die Konsequenzen unseres Konsums führen uns zu einer Umweltkatastrophe. Auch deswegen sitzen wir in einer Zwickmühle: Auf der einen Seite leben wir in freiheitlich-liberaldemokratischen Gesellschaften. Jeder soll doch das haben, was er oder sie eben haben will. Auf der anderen Seite steht der Klimawandel vor uns als gemeinsame schicksalshafte Herausforderung. Der Staat hat sich in seinem Selbstverständnis mehr und mehr zurückgezogen; heute gibt es das grundlegende Verständnis, er solle sich möglichst raushalten. Historisch betrachtet ist das allerdings sehr eigenartig, weil der Staat Jahrhunderte lang seine Finger tief mit drin hatte; wir sind unter anderem deswegen heute eine Konsumgesellschaft, weil der Staat uns dorthin geführt hat. Also sollte er nun doch auch ein bisschen mehr Verantwortung übernehmen. Allerdings, ohne wie früher zu diskriminieren. Aber er selbst sitzt ja auch zwischen den Stühlen.
Wie das?
Sobald der Staat sagen würde „Wir schrauben den Konsum zurück!“, hätte das extreme Folgen für die Wirtschaft, unsere Arbeitsverhältnisse, unseren Wohnkomfort. Wir brauchen aber eine generelle Debatte über die Fragen: Wie wollen wir eigentlich leben? Und können wir in dieser universalistischen Haltung weiter konsumieren, so wie wir es jetzt tun?“
Aber wie wollen Sie diese Haltung wieder zurückdrehen?
Der populärste Gedanke, politisch gesehen, ist der einfachste: „Oh, wir entwickeln neue Technologien, und die sind dann viel effizienter, und dann können wir einfach so weiterleben wie bisher, aber mit weniger schlimmen Konsequenzen.“ Aber da machen die Leute es sich ein bisschen zu einfach. Es muss auch eine Diskussion über den eigenen Alltag und die Lebenspraktiken eines jeden Einzelnen geben. Eine Diskussion darüber: „Vielleicht könnten wir anders konsumieren, intelligenter. Und vielleicht sogar genussvoller.“
Wie meinen Sie das?
Vielleicht gibt es eine Möglichkeit zu lernen, mehr Befriedigung und Genuss aus den Dingen zu ziehen, die wirklich wichtig für uns sind, die einen echten Wert haben. Anstatt ein Billigprodukt zu kaufen, die Plastikverpackung aufzureißen, um genau das kurz darauf schon mit dem nächsten Produkt zu tun.
Das klingt ja ganz sinnvoll. Aber wie erklären Sie diese Idee Ihren zwei Kindern, wenn die das neue iPhone wollen oder zum Tennis und danach zum Reiten und ins Kino auch noch?
Meine Frau und ich versuchen, den Kindern beizubringen, dass sie Hobbys und Beziehungen aufbauen, die wirklich auch Genuss bieten. Mit den Smartphones bin ich sowieso etwas hinterher; ich benutze ein ganz, ganz altes Nokia. Da haben sogar die Textnachrichten nur eine maximale Länge von ungefähr 150 Zeichen. Ich führe quasi an mir selbst ein Experiment durch, um mir ein bisschen strukturierte Zeit zu lassen.
„Wenn jeden Tag Weihnachten ist, verliert Weihnachten an Wert”
Apropos Smartphone: Befeuert das nicht noch unseren Konsum? Weil man so schnell mit einem Klick bestellen kann?
Das ist ein gutes Beispiel, wie Zeitmanagement und –kultur immer wichtiger werden. Denn die Idee vom Konsum mit sofortiger Befriedigung, also der Gedanke: „Ich will etwas haben, und eine Minute später ist es schon abgeliefert worden!“, die gibt es erst seit kurzer Zeit, seit ein bis anderthalb Jahren. Wir haben heute eine starke Verkürzung in der Kette Wunsch – Erwartung – tatsächlicher Konsum. In der Vergangenheit war es Teil des Vergnügens, auf die Erfüllung eines Wunsches zu warten. Heute haben wir das in der Form nicht mehr. Doch wenn jeder Tag Weihnachten ist, verliert Weihnachten an Wert.
Die Menschen haben vielleicht das Warten verlernt.
Aber es gibt auch Gegenbewegungen. Einerseits wollen wir alles sofort – anderseits gibt es heute mehr Menschen als früher, die Freizeitaktivitäten nachgehen, die viel Zeit beanspruchen und gelernt werden müssen. Die Anzahl der Frauen, die in Chören singen, ist heute viel höher als 1970, die Anzahl der Menschen, die Instrumente spielen oder Hobbymaler sein wollen, auch.
Wie lautet Ihre Prognose? Welche Haltung wird sich durchsetzen?
Ich glaube nicht, dass einzelne Gegenbewegungen wie Minimalisten oder das Simplicity Movement eine große Wirkung haben werden. Ähnliche Gruppen gab es schon vor hundert Jahren, und die haben damals auch nicht dazu geführt, dass die Konsumwelle abnahm. Was passieren muss: Im Herzen unserer Gesellschaften müssen sich bestimmte Rhythmen ändern, die sich längst eingespielt haben. Insbesondere beim Thema Mobilität. Wir müssen die Idee überdenken, dass so gut wie jeder Mensch jedes zweite oder dritte Wochenende zu einer Vernissage nach Barcelona oder zu einem Kurzurlaub nach Venedig fliegen soll, kann oder darf. Das ist weder tragbar noch nachhaltig, vielleicht auch nicht glücksbringend. Da müssen sich andere Mobilitätsmuster ausbilden. Das fängt bei der täglichen Bewegung in der Stadt an, muss sich aber auch beim Reisen ändern.
Womit wir wieder beim Staat wären, denn der könnte hier ja zum Beispiel eingreifen, indem er die Steuern fürs Fliegen erhöhen würde.
Da könnte man sich gut ein internationales Abkommen vorstellen. Man darf auch nicht vergessen: Wir in Europa sind eine kleine Welt. Aber es gibt ja auch noch Länder wie China oder Indien. China hat den Nachteil, dass es keine Demokratie ist, aber dadurch gibt es dort auch ganz andere Interventionsmechanismen. Wenn man sich, wie China es getan hat, dafür entscheidet, nachhaltigere Energiequellen zu fördern, dann wird das auf oberster Ebene beschlossen und durchgesetzt. In Indien bin ich auch eher optimistisch. Weil Konsum dort noch viel gemeinschaftlicher ist als bei uns, mehr noch in Freundes-, Gruppenverbänden und Familien stattfindet. Deutschlands ist in so einer Mittelposition; hier gibt es zumindest eine Diskussion übers Maß halten und trotz „Geiz ist geil“ viele kleine Bewegungen, die gegensteuern.
„Der Badeteich neben mir reicht mir auch”
Das klingt ja gar nicht so schlecht. In welchen Teilen der Welt sehen Sie denn Probleme?
In der angelsächsischen Welt. In Deutschland gibt es die glückliche Situation, dass man sich aufgrund der eigenen Vergangenheit extrem viele Gedanken über die Zukunft macht. In England und Amerika hingegen wird einfach davon ausgegangen, die Zukunft sei eine Verlängerung der Gegenwart. Man lebt einfach so weiter wie bisher. Historisch ist das natürlich Unsinn. Und führt zu der Annahme, dass unsere heutigen, nicht nachhaltigen Konsummuster die Norm sind. Dabei müsste man sich jetzt hinsetzen und überlegen: „Okay, was sollte die Norm in zehn, zwanzig, fünfzig Jahren sein? Kann man sich ein anderes Leben vorstellen, das vielleicht sogar mehr Befriedigung schafft?“ Also ich kann das.
Dann machen wir doch gleich mal den Test: Auf was haben Sie denn zuletzt verzichtet?
Champagner fällt bestimmt in diese Kategorie. Ansonsten habe ich gar nicht so ein großes Konsumverlangen. Ich laufe nicht jeden zweiten Tag durch die Stadt und denke: „Oh, ich könnte mir ja hier noch einen neuen Anzug kaufen oder ein zweites Paar Schuhe!“ Aber ich sage zu vielen Reisen „Nein!“, obwohl ich vielleicht zunächst denke: „Oh, das könnte doch eigentlich ganz schön sein!“ Aber dann überlege ich: „Och nö, noch ’ne Reise? Noch mal durch den Flughafen durch? Schon wieder im Flieger sitzen?“ Nee, brauch ich gar nicht.
Ohne Verzicht kommen wir aus unserem Konsumdilemma also nicht raus?
Nein. Und Verzichten ist auch nicht einfach. Aber wenn ich zum Beispiel auf eine Reise verzichte, versuche ich, das für mich umzudeuten, und sage mir: „Ah, in der Zeit, in der ich nicht auf Reisen bin, kann ich ja dann ungestört lesen oder bei mir im Badeteich in Hampstead Heath noch ein paar Runden drehen. Das geht auch.“
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Illustrationen: Peter Gericke; Copyright des Fotos: Jochen Braun; Schlussredaktion: Vera Fröhlich