Weg mit dem Mist!
Sinn und Konsum

Weg mit dem Mist!

Wir häufen Dinge an, um unseren modernen Lebensstandard aufrecht zu erhalten – und um uns besser zu fühlen. Zufriedener sind wir trotzdem nicht.

Profilbild von von Esther Göbel

30 Billionen Tonnen. Oder, anders ausgedrückt:

30 000 000 000 000 Tonnen.

Man muss diese Zahl allein in eine Reihe schreiben, ihr genügend Raum geben, damit sie wirken kann. Wie ein sehr tiefer Ton, der nachklingt. Denn die Zahl ist so unfassbar groß, dass der Verstand gar nicht in der Lage ist, sie zu fassen. Zumindest meiner nicht. Ich habe sie mir mehrmals laut und langsam vorgesagt, Silbe für Silbe. Greifbarer wurde sie dadurch aber noch immer nicht.

Also noch einmal: 30 Billionen Tonnen. So viel wiegt laut Schätzungen eines internationalen Forschungsteams all das, was der Mensch seit seiner modernen Existenz in irgendeiner Weise hergestellt hat. Computer, Brücken, Atomkraftwerke, Fabriken, Autos, Kleidung, iPads, Handys, Glasfaserkabel, Züge, Schienen und so weiter; eben alles, was der moderne Mensch so braucht – oder denkt zu brauchen.

Anders gesagt: Wir sind von 30 Billionen Tonnen menschengemachter Materie umgeben. Ständig, immer, an allen Orten, zu jeder Zeit. Und es hört ja nicht auf. In jeder Sekunde wächst der Berg. Weil die Menschheit rund um die Uhr erfindet, baut, produziert, kauft, sich bewegt, Dinge erleben will, Infrastruktur errichtet, Produkte anhäuft, sie danach wegwirft, dann zerschreddert, nur um wieder neue zu erfinden, zu produzieren, zu kaufen – was für ein seltsamer Ringeltanz.

Das Wissenschaftsteam, das die 30 Billionen Tonnen berechnet hat, liefert auch gleich einen eigenen Begriff für diese Masse mit: „Technosphäre“. Die Wissenschaftler betrachten sie gleichberechtigt neben den anderen vier großen Geosphären unseres Planeten, also neben der Lithosphäre (äußerste Hülle der festen Erde), der Atmosphäre (Gashülle unseres Planeten), der Hydrosphäre (alle Wasservorkommen auf unserem Globus) und der Biosphäre (Gesamtheit aller Lebewesen). Des weiteren unterteilen besagte Forscher die Technosphäre in verschiedene Bereiche, nämlich in urbane, ländliche, marine, unterirdische und solche in der Luft. Konkrete Objekte, wie etwa Handys oder Computer, nennen sie „Technofossile“. Schon an der Wahl der Begriffe lässt sich erahnen: Die Wissenschaftler lehnen sich an Geologie und Paläontologie an. Weil hinter ihrer Studie die Frage steckt: Wie hat der Mensch seit seiner Existenz eigentlich seine Umgebung verändert?

Im Krisenjahr 2016 waren die Deutschen so zufrieden wie noch nie

In mir hat die Zahl aber eine ganz andere Frage ausgelöst, nämlich die nach dem Glück. Genau genommen formierte sich diese Frage in meinem Kopf allerdings so: Sind wir eigentlich bekloppt geworden? Was sollen wir mit 30 Billionen Tonnen – pardon – angehäuften Zeugs? Mit 130 Millionen Buchtiteln, die sich in dieser Zahl verbergen und die seit Beginn des Buchdrucks erschienen sind, mit 6,8 Milliarden Handy-Verbindungen weltweit allein im Jahr 2014, mit geschätzt einer Billion Tonnen Kohlendioxid, die der Mensch durch all seine Aktivitäten laut besagter Studie bisher produziert hat?

Macht all das unser Leben wirklich besser? Ist der moderne Mensch nun glücklicher?

Die Suche nach dem Glück ist so alt wie die Menschheit selbst. Schon die Griechen grübelten über der Frage, wie es denn nun aussieht, das gute Leben, und was wir dafür wirklich brauchen. Aristippos von Kyrene gilt als Begründer des Hedonismus, der dieser Tage wieder sehr in Mode ist (und das nicht nur in Berlin, der selbsterklärten Party- und Hedonismus-Hauptstadt Deutschlands). Aristippos und seine Anhänger, die sogenannten Kyreaniker, glaubten, glücklich ist der Mensch dann, wenn er seine Lust maximiert und jeglichem Schmerz aus dem Weg geht; alles, was dem sinnlichen Lustempfinden dient, sollte gefördert werden.

Und weil die Frage nach dem Glück so essentiell und gleichzeitig so komplex ist, dass sie einerseits immer aktuell bleibt und gleichzeitig nie gänzlich beantwortet werden kann, beschäftigt sich auch die Moderne mit ihr. Seit den 70er Jahren gibt es sogar eine eigene Forschungssparte, die um das Thema kreist, die „Glücksforschung“. Die Deutsche Post ermittelt seit 2010 jedes Jahr aufs Neue das Glücksempfinden der Menschen in diesem Land und trägt sie in einem sogenannten Glücksatlas zusammen. Ergebnis aus dem vergangenen Jahr: Trotz Terroranschlägen, Syrienkrieg und einem angeschlagenen Europa kletterte die Lebenszufriedenheit der Deutschen auf einer Skala von 0 bis 10 mit 7,11 Punkten auf einen Spitzenwert. Nämlich auf den höchsten seit Einführung des Glücksatlas. Ausgerechnet im Krisenjahr 2016! Als mögliche Gründe nennen die Autoren der Studie die gute wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre, verbunden mit einer sinkenden Arbeitslosigkeit und einer steigenden Kaufkraft.

Doch man darf sich von diesen Argumenten nicht täuschen lassen. Zwar gilt: Wer in Armut lebt und sich ständig die Frage stellen muss, wie er oder sie im nächsten Monat alle Rechnungen bezahlen soll, hat es schwerer, glücklich zu sein. Weil Sorgen ein natürlicher Gegenspieler von Glück sind. Elementare Bedürfnisse müssen gedeckt sein, damit ein Glücksgefühl sich überhaupt formieren kann. Es liest sich wie eine Binsenweisheit, und trotzdem vergessen wir es immer wieder: Kaufen allein macht auch nicht glücklich.

Wer loslassen will, muss mutig sein

Katharina Finke hat das schon früh verstanden. Sie besitzt kein Auto. Keine Möbel. Keine Versicherungen. Keine Festanstellung (sie arbeitet als freie Journalistin.). Für sie bedeutet Glück: wenig Besitz, dafür alles im Fluss. Was die junge Frau zum Leben benötigt, passt – abgesehen von ihrem Rennrad und einem Kung-Fu-Schwert – auf eine Buchseite oder in zwei große Reiserucksäcke, schreibt die junge Frau in ihrem Buch Loslassen – wie ich die Welt entdeckte und verzichten lernte: Kleidung, sieben Paar Schuhe, Socken, Strumpfhosen, Unterwäsche, Sportklamotten, ein Bikini, ihre Sonnenbrille, zwei Gürtel, eine Mütze, ein paar Schals, Hygieneartikel, ein Fön, zwei Handtücher, ein Schlafsack, Notizbuch, Finanzunterlagen, Laptop, Handy, Kabel, Kamera, ein paar Bücher, ein paar Jutebeutel, drei Handtaschen, Schlafbrille, ein Thermobecher und ein Korkbehälter für Salz. Sogar ein Bügeleisen kriegt Finke unter. Das war’s. Mehr Materielles braucht sie nicht, um glücklich zu sein.

Damit ist Finke so etwas wie die Antithese des Durchschnitts-Europäers – der besitzt nämlich etwa 10.000 Dinge. Erst seit Kurzem ist Finke in Berlin mit ihrem Freund in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Davor kam sie fünf Jahre lang auch ohne eigene Bude aus, reiste lieber um die Welt, schlief bei Fremden in der Abstellkammer und bei Freunden auf dem Sofa. Fünf Jahre lang ohne Bleibe, ohne Besitz, ohne Sicherheit – also ohne jene Faktoren, die die allermeisten Menschen wohl als unbedingt notwendig für ein Gefühl der Zufriedenheit nennen würden.

In ihrem Buch beschreibt Finke ihre Erfahrungen, die sie und damit den Leser rund um den Globus tragen. Sie beschreibt aber auch ihren inneren Wandel von einer in Frankfurt am Main aufgewachsenen jungen Frau, die vor ihrer Entscheidung, alles loszulassen, mit ihrem Freund in Hamburg gelebt hatte, hin zu einer Weltenbummlerin. Finke kennt jene Angst, die Loslassen immer mit sich bringt. Aber sie hat über die Jahre verstanden: Vieles von dem, was angeblich als erstrebenswert gilt, braucht sie nicht, um glücklich zu sein. Anderseits lernte sie, an einigen Dingen festzuhalten: Erfahrungen, Erlebnisse, zwischenmenschliche Beziehungen. Und sie verstand noch etwas: Loslassen braucht auch ein Einlassen – auf die Unsicherheit, die das Ablegen von alten Gewissheiten und Besitztümern bedeutet.

Die Suche nach dem guten Leben geht immer weiter

Finke sieht sich nicht als Hippie. Auch das Label Minimalistin würde sie selbst für sich nicht verwenden. Sondern sie versteht sich einfach als jemand, der aufmerksam und verantwortungsbewusst durch die Welt gehen will. Statt Klamotten, Ordnern, Möbeln und Krimskrams sammelt sie Momente. Finke hat mit ihren 32 Jahren durch ihr Nomadinnenleben schon jetzt mehr erlebt als die meisten 70- oder 80-Jährigen. Sie kennt aber auch die Einsamkeit des Reisens, das Getrenntsein von den Liebsten zu Hause. Warum die junge Frau sich trotzdem für dieses Leben entschieden hat? Weil sie sich später nicht vorwerfen will, ihr Leben nicht so gelebt zu haben, wie es sie sich eigentlich gewünscht hatte.

Daran soll auch ihr erstes Kind nichts ändern, das im September geboren werden wird. Finkes Lebenspartner wäre dann auch mit dabei, zu dritt will die kleine Nomadenfamilie der Moderne sich weiterhin die Welt anschauen. Finkes Freund ist ebenfalls geübt im Reisen – die beiden hatten sich, wo sonst, in einem Flugzeug kennengelernt.

Das Buch von Katharina Finke hat kein Ende. Also kein bewusst gesetztes. In diesem Sinne könnte man es als Enttäuschung für den Leser werten. Eben weil es keine konkreten Handlungsanweisungen beinhaltet auf dem Weg zum Glück. Vielleicht ist es aber auch nur die Wahrheit: Das gute, das richtige Leben, es lässt sich nicht leicht finden. Nicht zwischen zwei Buchdeckeln. Und das Glück lässt sich nicht manifestieren – auch nicht in 30 Billionen Tonnen, die die Menschheit bis in die Jetzt-Zeit durch ihr Dasein angehäuft hat. „Und weil die Reise weitergeht, gibt es kein Ende“, schreibt Finke.

Die Suche nach dem guten Leben, sie geht immer, immer weiter.


Das Buch von Katharina Finke „Loslassen - Wie ich die Welt entdeckte und verzichten lernte“ ist im März bei Malik erschienen.

Den Text korrigiert hat Vera Fröhlich; das Aufmacherbild hat Martin Gommel ausgewählt (istock / ivan101).