Die Zukunft von 50 Millionen Küken

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Sinn und Konsum

Die Zukunft von 50 Millionen Küken

Den Hühnersexer abschaffen – dieses Versprechen hat der Grünen-Politiker Christian Meyer schon im Mai 2016 als niedersächsischer Landwirtschaftsminister gemacht. Doch erst jetzt hat Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) ein praktikables Verfahren vorgestellt, mit dem verhindert werden soll, dass jedes Jahr Millionen Küken getötet werden – nur damit wir billige Eier essen können.

Profilbild von Kolumne von Theresa Bäuerlein

Aktualisiert am 08.11.2018


Zu 1 – Hühnersexer. Das klingt nach einem Fetisch, über den man lieber nichts wissen möchte. Ist in Wirklichkeit aber ein nicht besonders spektakulärer Job, bei dem Menschen in Brütereien die weiblichen von den männlichen Küken trennen. Weil Hähne keine Eier legen, wandern sie anschließend in einen Behälter, wo sie mit Kohlendioxid (CO2) begast werden und ersticken. Das hört sich scheußlich an und genau so sieht es auch in den Videos aus, die Tierschützer ins Netz stellen.

Als wäre das Vergasen von Küken nicht hässlich genug, wird überall auch noch behauptet, die Tierchen würden lebendig geschreddert oder „zermust“. Das allerdings stimmt nicht: „In Deutschland werden keine Legehennenküken ,geschreddert’, auch wenn rechtlich ein solches Verfahren zugelassen wäre“, sagte mir Christiane von Alemann vom Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft. Der Tierschutzbund hat mir das bestätigt.

Dass trotzdem überall, wirklich überall, vom Schreddern die Rede ist, liegt vielleicht daran, dass man Tierproduzenten mittlerweile alles zutraut. Gerade das Kükenthema hat eine starke emotionale Wirkung, weil Küken mit die niedlichsten Lebewesen sind, die man sich vorstellen kann. Wenn man sieht, wie die flauschigen, gelben Tierchen hilflos über ein Fließband taumeln, wo sie dann riesige Hände ergreifen, möchte man sofort die Campact-Kampagne „Retten Sie 50 Millionen Küken!“ unterzeichnen. Die Kampagne fordert Bundeslandwirtschaftsministerin Klöckner auf, das Kükentöten zu verbieten (zwischen 40 und 50 Millionen männliche Küken werden jedes Jahr in Deutschland getötet). Die Unterzeichner der Kampagne wollen, dass die kleinen Hähne wie ihre Schwestern großgezogen werden. So, wie es die Bruderhahn-Initiative, ein Zusammenschluss ökologischer Eiererzeuger und Händler, schon seit 2012 fordert und praktiziert.

Dass es den männlichen Hähnen letztlich trotzdem an den Kragen gehen wird, steht nicht in dem Kampagnen-Brief. Die Bruderhahn-Initiative hingegen macht keinen Hehl daraus, dass die Tiere zum Schlachten großgezogen werden. Wo sollten die Hähne sonst auch hin? Strenggenommen müsste die Überschrift also lauten: „Retten Sie 50 Millionen Küken – und ermöglichen Sie den Tod von 50 Millionen Hähnen!“ Man kann verstehen, dass die Aktivisten auf diesen Zusatz verzichten.

Zu 2 – Eins ist sicher: Niemand hat Freude an Millionen toter Küken. Auch die Ei-Erzeuger nicht. Wie also ist die Geflügelwirtschaft überhaupt an einen Punkt gekommen, an dem Millionen gerade erst geschlüpfter Küken nichts als Ausschussware sind? Bis in die 1960er Jahre war das in Deutschland noch anders. Da war das, was die Bruderhahn-Initiative heute als Ausnahmefall betreibt, einfach Standard: Hühner behielt man zum Eierlegen, die Hähne wurden gegessen. Solche „Zweitnutzungsrassen“ kommen in der Landwirtschaft kaum noch zum Einsatz. Es gibt dort fast nur noch Hybridhühner, die entweder besonders viele Eier legen oder schnell viel Fleisch ansetzen. Beides gleichzeitig schafft kein Huhn, weil Legeleistung und Fleischansatz negativ zusammenhängen. Würde man die Eier zählen, die eine Henne aus einem typischen deutschen Stall legt, käme man auf 300 im Jahr. Das ist fast doppelt so viel wie in den Sechzigerjahren. Diese Menge hat aber eben ihren Preis: Die Brüder der leistungsstarken Legehennen sind praktisch wertlos. Rein ökonomisch gedacht, lohnt es sich mehr, sie wegzuschmeißen beziehungsweise zu Tierfutter zu verarbeiten, als sie für das bisschen Fleisch, das an einem solchen Hahn dran ist, noch großzuziehen.

Für die Erzeuger funktioniert dieses Modell, und das Tierschutzgesetz erlaubt es auch (wenn auch mit leichtem Knirschen, weil es die ökonomischen Interessen der Eierproduzenten gegen ethische Gesichtspunkte des Tierschutzes abwägt).

Aber Kükentöten ist beim besten Willen keine schöne Praxis, das gibt auch der Geflügelwirtschaftsverband sofort zu. Sie stößt die deutschen Käufer, die immer sensibler in Sachen Tierschutz werden, zunehmend ab. Als erstes natürlich die in Sachen Lebensmittelherkunft überdurchschnittlich gut informierten Biokunden. Auch für Bioeier sterben die männlichen Küken. Die Supermarktkette Alnatura hat in ihren Biomärkten in Hamburg und Berlin deshalb schon früh Eier aus Bruderküken-Initiativen getestet. Die Kunden griffen derart freudig zu, dass Alnatura ankündigte, so bald wie möglich nur noch solche Eier anbieten zu wollen. Nur 4 Cent mehr sollen die pro Stück kosten. Das Geld sollen Alnaturas Geflügelhalter in die Aufzucht der männlichen Küken investieren.

Für Alnatura war das ein echter Marketing-Coup: Küken retten macht sympathisch. Für die Erzeuger wiederum, die nicht an Alnatura liefern, erhöht es den Druck. Sie kennen die Dynamik ja schon aus der Debatte zur Käfighaltung: Eier aus Kleingruppenkäfigen wollen heute nur noch elf Prozent der Käufer haben. Wer in Zukunft noch Eier im Einzelhandel verkaufen will, muss also handeln. Das weiß auch die Politik.

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Zu 3 – Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat gar nicht vor, Brütereien das Kükentöten einfach zu verbieten. Jedenfalls nicht, solange es keine Alternative gibt, die sich wirtschaftlich für sie auszahlt. Doch jetzt hat Ministerin Klöckner eine neue Technik vorgestellt: die In-Ovo-Geschlechtsbestimmung. Damit kann man testen, ob sich in befruchteten Eiern männliche oder weibliche Küken entwickeln. Und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem der Hühnerembryo noch kein Schmerzempfinden hat.

Das sogenannte Selegget-Verfahren funktioniert so: Mit einem Laser wird ein winziges Loch in die Eierschale gebohrt, eine Probe aus dem Ei entnommen und auf das weibliche Geschlechtshormon Östronsulfat untersucht. Nach der Geschlechtsbestimmung muss das Brut-Ei nicht verschlossen werden, da sich die innere Eimembran selbstständig zusammenzieht und das winzige Loch von innen verschließt. Am 21. Bruttag schlüpft dann ein weibliches Küken. Fehlt Östronsulfat, handelt es sich um ein männliches Brut-Ei, das aussortiert und zu hochwertigen Tierfutter weiterverarbeitet wird.

Das mit fünf Millionen Euro Steuergeldern geförderte Projekt ist seit Ende 2018 marktreif. Leider steht noch nicht fest, ob die Methode verpflichtend eingeführt werden soll. Sicher ist hingegen, dass die Eier, die mit dem Selegget-Verfahren produziert wurden, teurer sein werden. Erhalten soll man sie, nach einer Testphase in den Berliner Rewe und Penny-Märkten, in jedem Supermarkt.

Klöckner sprach von einem „deutlich erkennbaren Schritt zu mehr Tierwohl“. Sobald das Verfahren serienreif sei – voraussichtlich 2019 –, könnten alle Brütereien mit der Methode arbeiten, und es gebe keinen Grund und keine Rechtfertigung mehr für das Kükentöten. „Unabhängig davon gilt es, das Zweinutzungshuhn nicht aus den Augen zu verlieren und zu fördern“, sagte die Ministerin.

Zu 4 – Ob es ein Zufall ist, dass United Egg Producers, die größte Vereinigung von Eierproduzenten in den USA, schon 2017 bekanntgab, bis 2020 das Kükentöten beenden zu wollen? Wohl kaum. In den USA schaut man auf die Forschung aus Deutschland (und auf ein ähnliches Projekt in den Niederlanden, das aber eine andere Technik verwendet, die auf eine chemische Analyse setzt). Egal, ob die Technik also 2019 oder erst ein paar Jahre später serienreif ist: Die Tage der Hühnersexer sind definitiv gezählt. Nicht nur in Deutschland, sondern überall.


Redaktion: Rico Grimm; Produktion: Susan Mücke; Aktualisierung: Vera Fröhlich.