Wenn es eines gibt, für das die Deutschen im eigenen Land bekannt sind, dann ist es dies: Sie sind Rabattjäger. Nicht umsonst wurden hier der Discounter und der Slogan „Geiz ist geil“ erfunden. Gerade bei Lebensmitteln sind wir sparsam - was für die Tiere, die wir essen, tragische Folgen hat: Sie wachsen in Massenställen auf und werden im Sekundentakt in Schlachtfabriken von unterbezahlten Gastarbeitern abgestochen. Alles nur, damit wir ein möglichst billiges Schnitzel auf dem Teller haben.
So lautet die Geschichte, die wir uns in Deutschland erzählen, die Politiker und Interessenverbände in den letzten Jahren nicht müde wurden zu wiederholen. Sie klingt überzeugend. Aber es gibt einen Haken: Sie stimmt nicht. Oder zumindest nicht mehr.
Ziemlich unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit hat in den Köpfen der Konsumenten ein Umdenken stattgefunden. Schaut man sich Umfragen wie den „Ernährungsreport 2016“ an, den das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft herausgibt, wird überraschend deutlich: Den Deutschen ist wichtig, dass Nutztiere besser behandelt werden. Und sie sind bereit, dafür zu zahlen. Nur ein Bruchteil der Befragten sagte den Meinungsforschern, dass ihnen das Tierwohl kein Geld wert war. Die anderen erklärten, dass sie im Schnitt mehr als die Hälfte drauflegen würden. Die 19- bis 29jährigen Teilnehmer würden bei einem Fleischpreis von 10 Euro das Kilo sogar das Doppelte ausgeben.
Es gibt noch mehr Zeichen für den Gesinnungswandel: Als Anfang 2016 bundesweit das erste Volksbegehren gegen Massentierhaltung organisiert wurde, nahmen mehr als 100.000 Menschen teil. Und als der Spiegel seine Online-Leser wenig später fragte, ob es eine Fleischsteuer geben sollte (wenn auch aus Klimaschutzgründen), stimmten 70 Prozent der Umfrage-Teilnehmer zu.
Das Bild des Deutschen als unersättlichen Wurstfresser und Billigheimer bröckelt, es bröckelt stark.
Was die Frage aufwirft: Warum merkt man davon nichts? Die Nachfrage nach Fleisch aus artgerechter Haltung müsste überwältigend sein.
Wer aber im Supermarkt Schnitzel oder Bratwurst kaufen will, sieht die Regale unverändert: ein supergünstiges, rosarotes Hühner-, Schweine- oder Rinderteil neben dem anderen. Manche Hersteller betreiben ein bisschen Augenwischerei mit Bildern von Bauernhöfen und Kuhwiesen, aber fast nie finden sich Hinweise auf artgerechte Haltung. Die gibt es nur beim Biofleisch. Da wirbt etwa Rewe für die Packung Hähnchenbrustfilet damit, dass die Hühner „regelmäßig Auslauf im Freien“ haben. Aber die Kunden lassen die Packungen trotzdem eher links liegen. Anders als bei anderen Lebensmitteln liegt der Bio-Anteil bei Fleisch quasi im Nichts.
Dafür gibt es zwei wichtige Gründe: Zum einen ist der Preisunterschied zwischen Bio- und Normalo-Fleisch extrem. Für ein Kilo Äpfel zahlt der Bioladen-Kunde vielleicht einen oder zwei Euro mehr als im Edeka nebenan. Das Biohuhn kostet im Vergleich zum konventionellen Geflügel durchaus mal das Fünffache. Man muss als Fleischesser schon sehr tierlieb sein, um diesen Preis zahlen zu wollen, wenn die viel günstigere Alternative direkt daneben liegt. Nur selten gibt es ein Angebot für all die Kunden, die gerne etwas mehr für Tierwohl ausgeben würde, aber nicht unbedingt für das ganze Bio-Paket, das ja noch weit mehr umfasst als „Auslauf im Freien“. Teures Bio-Futter etwa.
Die Verbraucher sind wütend, aber sie wissen nicht genau, worüber
Zum anderen misstrauen die Verbraucher den Fleischerzeugern so gründlich wie niemand anderem in der Lebensmittelbranche. Fleischskandale und Horrorbilder aus Schlachthöfen und Ställen haben das Vertrauen der Kunden ruiniert. Gleichzeitig wissen sie sehr wenig über moderne Viehhaltung. Sie sind wütend, wissen aber nicht genau, worüber. In einer Studie der Universität Göttingen sagten nur 26 Prozent der Befragten, dass sie sich gut über heutige Haltungsformen informiert fühlten. Die Kunden können also gar nicht beurteilen, ob Bio-Landwirte ihre Tiere besser behandeln und es sich somit lohnt, die viel höheren Preise zu zahlen. Das schadet auch den Landwirten, die es besser machen wollen, weil sie nicht sicher sein können, dass ihre teure Ware Absatz findet, wenn sie umstellen.
Der Tierschutzbund hat versucht, dafür eine Lösung zu finden. Er vergibt ein zweistufiges Label, das Landwirten die Umstellung leichter machen soll. Die Kriterien für die Einstiegsstufe sind niedriger als beim staatlichen Bio-Siegel, außerdem konzentrieren sie sich auf den Tierschutz, nicht auf Bio-Kriterien. Wer Schweinekoteletts oder Hühnerschenkel mit diesem Siegel kauft, zahlt ungefähr 20 bis 40 Prozent mehr als bei konventioneller Ware.
Ähnlich probiert es die Firma Neuland, die mit artgerechter Haltung wirbt. Eigentlich ein super Angebot für die vielen Tierfreunde in den Umfragen. Aber wenn man das alles zusammenrechnet, Biofleisch, Tierschutzlabel und Neuland, landet man bei einem Marktanteil von ungefähr zwei Prozent.
So entsteht dieses eigenartige Bild: Einerseits wünschen sich die meisten Deutschen, dass die Tiere, die sie essen, gut behandelt werden. Die übliche Massentierhaltung lehnen sie ab. Andererseits nutzen sie die besseren Angebote nicht. Und die Trends der Produzenten gehen absurderweise klar gegen die Verbraucherwünsche - nämlich hin zu Riesenkonzernen und Megaställen. Vor zwei Jahrzehnten produzierten die deutschen Schweinefleischhersteller 3,7 Millionen Tonnen, mittlerweile sind es 5,5 Millionen Tonnen. Bei Geflügel hat sich die Menge fast verdreifacht.
Gleichzeitig ist der Fleischpreis so niedrig, dass kleinere Produzenten kaum überleben können. Der Marktpreis für ein Kilo Schwein (Schlachtgewicht) etwa liegt am Tag, als dieser Text entsteht, bei 1,42 Euro. Vor drei Jahren waren es im Schnitt noch 20 bis 30 Cent mehr. Die Folge: Immer weniger und deswegen immer riesigere Betriebe halten immer mehr Tiere. Das ist effizient, auch billig – aber von artgerechter Haltung kann so natürlich keine Rede sein.
Die Vertreter der Fleischwirtschaft geben dafür gerne den Verbrauchern die Schuld. Sie glauben, dass diese in Umfragen bloß tierliebe Lippenbekenntnisse abgeben. Das Fachmedium fleischwirtschaft.de schrieb dazu neulich in einem typischen Kommentar: „Die Bereitschaft ist höchstens eine Seite der Medaille. Wie sieht es am Point-of-Sale aus? Mit Sicherheit anders.“
Der Kommentator hat damit sicher vielen Landwirten aus der Seele gesprochen. Denn das Misstrauen ist ja gegenseitig. Die Viehhalter glauben genau so wenig, dass sie sich auf das Wort der Konsumenten verlassen können wie die Konsumenten den Viehhaltern trauen. Die einen sehen Rabattjäger, die anderen Tierquäler. Beide machen es sich zu einfach.
Die Kunden sind verwirrt. Das zeigt die repräsentative Umfrage „Wie wichtig ist Verbrauchern das Thema Tierschutz“ der Universität Göttingen: Weniger als ein Viertel der Verbraucher kennt Label, die für Tierschutz stehen. Achim Spiller, Agrarmarketing-Experte und Mitautor der Umfrage, sagt: „Ein großer Teil der Kunden ist definitiv bereit, mehr für Fleisch zu zahlen, wenn es den Tieren dafür bessergeht. Aber man muss es ihnen vernünftig erklären. Man weiß als Verbraucher nicht, was in der Packung ist, weil es kein klares Label gibt, also nichts, was etwa mit dem staatlichen Bio-Siegel vergleichbar wäre. Es müsste ein staatliches Tierschutz-Siegel geben, für das der Staat dann auch entsprechend Marketing betreiben würde, damit die Verbraucher das kennenlernen. Das hat beim Bio-Siegel sehr gut funktioniert. “
Der Handel selbst ist Knackpunkt des Billigfleisch-Problems
Ein Drittel des Fleischs, das deutsche Erzeuger produzieren, geht allerdings ins Ausland. Das heißt: Egal, wie viel oder wenig Würste und Steaks die Deutschen essen, die Fleischberge des Exports bleiben davon unberührt. Zudem setzt die Industrie in einem gesättigten Markt auf günstige Arbeits- und Rohstoffkosten. Die Produkte sollen sich schnell verkaufen und billig sein. „Der Handel bestimmt den Fleischpreis maßgeblich mit und er hat den Verbraucher dazu erzogen, dass Fleisch billig sein muss“, meint Marius Tünte vom Tierschutzbund.
Tatsächlich ist der Handel ein Knackpunkt des Billigfleisch-Problems. Früher war es normal, dass Fleisch teuer war. Ein Luxusgut, das man sich selten gönnte: Das beste Symbol dafür ist der gute alte Sonntagsbraten. Bei den heutigen Fleischpreisen wäre es kein Problem, jeden Mittag Sonntagsbraten zu essen. Und abends gleich noch einmal. Fleisch ist jetzt Massenware.
Dass das so ist, liegt nicht nur daran, dass die Erzeuger heute so billig produzieren. Sondern auch daran, dass der Handel sie dazu zwingt. „Der Preiskampf der Discounter, bei dem auch Edeka und Rewe mitmachen, geht zu Lasten der Landwirte und der Tiere. Kein Landwirt kann bei diesen Preisen überleben, und er kann erst recht keine artgerechte Tierhaltung machen. Wenn Hackfleisch 1,99 Euro das Kilo kostet, muss dem Käufer klar sein, dass da keine vernünftige Haltung dahinterstecken kann“, sagt Tünte.
Supermärkte setzen Fleisch seit Jahrzehnten als Kundenlockmittel ein. Spiller konnte vor einigen Jahren nachweisen, dass etwa ein Fünftel der Kunden den Markt wechselt, wenn es woanders Fleisch-Sonderangebote gibt. Eine derart eingefleischte Gewohnheit (Anm. der Autorin: Konnte dem Wortspiel nicht widerstehen) verschwindet nicht so ohne weiteres.
Da ist es ziemlich bitter, dass der günstige Fleischpreis im Supermarkt eigentlich noch teuer ist. Denn nur zwanzig Prozent davon kommt bei den Landwirten an. „Nach unseren Berechnungen ist die Schere zwischen Erzeuger- und Verbraucherpreisen in den vergangenen fünf Jahren um mehr als 70 Cent je kg Schweinefleisch gestiegen“, klagt die Interessengemeinschaft der Schweinehalter. Und obwohl Bio-Fleisch im Laden sehr teuer ist, bekommen die Erzeuger pro Kilo nur etwa 1,50 Euro mehr.
Umso interessanter ist es, dass es seit dem vergangenen Jahr die „Initiative Tierwohl“ gibt, bei der die Einzelhändler freiwillig mehr Verantwortung für Tierschutz übernehmen. Das Geld für die Initiative geben die ganz großen Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels: Aldi zum Beispiel, Lidl, Netto, Kaufland, Rewe und Penny.
Die Idee ist eigentlich ziemlich gut: Für jedes Kilo Schweinefleisch oder Geflügel, das der Kunde kauft, zahlt der Händler vier Cent in einen Fonds. Daraus fließt Geld an Bauern, die damit die Lebensbedingungen ihrer Schweine und Hühner verbessern. Das tun sie, indem sie ihren Tieren zum Beispiel mehr Platz oder Tageslicht geben. Die Initiative wird trotz des guten Ansatzes allerdings stark kritisiert, unter anderem deswegen, weil sie nicht die Kraft hat, die Lebensbedingungen der Tiere wirklich positiv zu verändern: Ein Schwein, das einen Quadratmeter Platz hat, wird mit zehn Prozent mehr Platz, wie die Initiative es vorschreibt, auch nicht glücklich. Achim Spiller sieht darin dennoch ein gutes Zeichen: „Vor drei, vier Jahren hätte es bei den großen Unternehmen und beim Deutschen Bauernverband noch kein Interesse an einer solchen Initiative gegeben.“
Selbst Tierschützer sagen, dass immerhin die Richtung richtig ist. Sicher, vier Cent pro Kilo klingt nach einem lächerlichen Aufpreis. Und tatsächlich wären etwa bei Schweinefleisch eher 30 bis 40 Cent realistisch, damit wirklich etwas für die Tiere getan werden kann. Aber Tierschutz lässt sich insgesamt billiger umsetzen, wenn die Landwirte das Geld direkt bekommen. Deswegen ist die Initiative die erste echte Chance, in Deutschland eine artgerechtere Tierhaltung flächendeckend möglich zu machen. Leider ist der Andrang der Landwirte viel größer als die Bereitschaft der Händler, Geld in den Topf der Initiative zu stecken (momentan liegt das Budget bei 85 Millionen Euro jährlich, Experten schätzen den Bedarf auf drei bis fünf Milliarden Euro). Und damit bleiben die meisten Landwirte draußen.
Spannend ist die Initiative Tierwohl trotzdem, weil die Branche damit immerhin eingesteht, dass es ein Problem mit dem Tierschutz gibt. Auch die Händler wissen, dass ihnen langsam, aber sicher, die Kunden flöten gehen werden, weil die Deutschen die Tierquälerei mehr und mehr satthaben, weniger Fleisch essen und zunehmend auch mal Sojaschnitzel braten. Die Branche hat also auf einmal ein reales finanzielles Interesse daran, sich für Tierschutz einzusetzen – und ihr Image aufzupolieren.
Kriegt der Handel sein Problem nicht selbst in den Griff, könnte es zudem sein, dass die Politik sich einschaltet: Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt sagte im Januar 2015, dass sein Ministerium die Einführung eines staatlichen Tierwohl-Labels prüfe. Was längst nicht heißt, dass ein solches Label auf jeden Fall kommen wird. Aber eins ist klar: Dass es überhaupt eine solche Prüfung geben soll und dass auch die Händler in Bewegung kommen, zeigt, dass die Wünsche der Verbraucher zählen. Mit ihren Entscheidungen an der Supermarktkasse halten sie eine Macht in Händen, die sie noch zu wenig nutzen.
Wer einen Beleg dafür sehen will, muss nur in einen Supermarkt gehen, zum Eier-Regal. Ganz oben, also da, wo der Blick zuerst hinfällt, stehen die Bio- und Freilandeier. Darunter Eier aus Bodenhaltung und ganz unten schließlich, wenn überhaupt, Eier aus „Kleingruppenhaltung“, der etwas netteren Variante der früheren Käfighaltung. Bei den Eiern klappt also längst, was bei Fleisch auch funktionieren kann. „Man kann als Verbraucher definitiv etwas ausrichten, wenn man bewusst Fleisch kauft, das aus artgerechter Haltung stammt“, sagt Spiller. „Zum Beispiel bei regionalen Landwirten, wo die Tiere mit Auslauf gehalten werden.“
Klingt machbar.
Aufmacherbild: Idee, Origami-Tiere und Foto von Sibylle Jazra für Krautreporter.