Stephen A. Mitchell, einer der einflussreichsten amerikanischen Psychologen der letzten Jahrzehnte, hat in seinem brillanten Buch „Can Love Last? The Fate of Romance Over Time“ zu ergründen versucht, warum Paare ihre Leidenschaft mit den Jahren verlieren. Er beschreibt ein menschliches Grunddilemma: Dass wir einerseits nach Vertrautheit und Sicherheit streben, andererseits auch Neuheit und Überraschungen brauchen. Weil dieser Konflikt schwer zu lösen ist und unser Bedürfnis nach Sicherheit letztlich oft überwiegt, unterdrücken die meisten Menschen den Wunsch nach wildem Herzklopfen zugunsten von Vertrautheit. Aber die Sehnsucht nach jenen Momenten, in denen man nicht nur mit einem anderen Menschen schläft, sondern mit ihm explodiert, bleibt da. Es gibt also einen guten Grund dafür, dass kein Thema die Ratgeberliteratur des 21. Jahrhundert mehr beschäftigt als die Frage, ob sich dieses Paradox lösen lässt – denn das müsste der Schlüssel für eine wirklich gelungene Beziehung sein, für ein echtes „glücklich bis an ihr Lebensende“ wie im Märchen, wie in Hollywood.
Neulich traf ich einen guten Freund zum Kaffeetrinken. Auf meine Frage, wie es in seiner Beziehung laufe, sagte er, seine Freundin und er seien glücklich miteinander. Bald darauf erwähnte er wie nebenbei, dass sie nur noch alle paar Monate miteinander schliefen. Er fände seine Freundin attraktiv, beteuerte er, aber er hätte einfach keine besondere Lust mehr auf sie. Fremdgehen wolle er nicht, aber so alt werden – das auch nicht. Er war gerade sechsundzwanzig geworden.
Gibt es Sex nach der Ehe? Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Seltsam: Heutzutage scheint es so normal, über Sex zu sprechen, Eroberungen anzudeuten, Bettgeschichten auszuwalzen. Aber wie selten hört man von der Unsicherheit, die dieses Thema in unsere Beziehungen bringt, und wie selten gibt jemand zu, dass er keinen Sex hat oder viel weniger, als er eigentlich möchte? Dabei müsste es, glaubt man den Statistiken, einem enormen Anteil der Menschen so gehen. Unsere Sexualität gehört längst nicht mehr zu den unaussprechlichen Themen, aber kein Sex – das ist ein Tabu.
„Es war, als hätte ich eine Granate auf den Tisch geworfen”, erzählt die britische Journalistin Anna Johnson über einen Abend mit Freunden, bei dem sie zu fragen gewagt hatte, ob Sex bei verheirateten Paaren überhaupt noch existiere. Den Reaktionen nach war das „genauso schlimm wie die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt”, stellte sie fest. Lustig, eigentlich: Diese Frage hängt über jeder längeren Beziehung, ob man verheiratet ist oder nicht. Aber alle tun lieber so, als wäre das in ihrem Fall kein Thema. Das Gegenteil ist der Fall. Zwischen dem Idealbild dessen, was Paare dem allgemeinen Konsens nach im Bett miteinander erleben sollten, und der Realität der meisten scheint ein sorgfältig totgeschwiegener Abgrund zu klaffen.
Was tun? Man kann beschließen, dass Sex nicht so wichtig ist, man kann sich in Arbeit vergraben oder sich damit trösten, dass seit der Geburt des Kindes die Erotik eben einfach hin sei, so hat man immerhin gesellschaftlich akzeptierte Gründe. Manche sagen auch, sie hätten einfach keine Zeit für Sex, bei diesem hektischen Leben heutzutage. Aber mal ehrlich, wie lange dauert Sex noch einmal? Durchschnittlich elf Minuten, schrieb Paulo Coelho in seinem berühmten gleichnamigen Roman. Manche nehmen sich mehr Zeit, um einen Cappuccino zu machen. Letztlich ist es aber egal, wie man sich selbst den Lustverlust erklärt. Klar ist, dass nur sehr wenige Paare sich die Frage nie stellen müssen. Ich kenne persönlich genau zwei Menschen, die trotz Stress bei der Arbeit und drei kleinen Jungs, die täglich das Haus zerlegen, immer noch viel und leidenschaftlich miteinander schlafen. Genauso oft und heftig streiten sie sich. Wenn das ihr Geheimnis ist, dann taugt es allerdings kaum zum Allgemeinrezept.
Natürlich kann man sagen, dass die Menschheit weiß Gott größere Probleme hat als lahmen Beischlaf. Ich glaube aber, dass man mit dieser Haltung das Problem unterschätzt. Man muss kein Freud sein, um die These aufzustellen, dass Sex viel mehr als nur ein biologischer Trieb ist, der uns hier und da schüttelt, oder eine nette Beschäftigung, der wir ab und zu nachts nachgehen, wenn wir das Bedürfnis nach Nähe oder elf Minuten Selbstvergessenheit haben. Sex ist gewaltig und omnipräsent, selbst wenn wir ihn zu ignorieren versuchen. Er grinst uns von Plakatwänden und Internetbannern an, er windet sich durch den Spamfilter und meldet sich spätestens nach dem zweiten Glas Wein zu Wort.
Und wenn ich behaupte, dass viele Probleme in Beziehungen nur Stellvertreter sind, dass wir also viel weniger über krümelige Fußböden oder zu spät bezahlte Rechnungen streiten würden, wenn wir sexuell erfüllt wären, dann ist keine neue These, sondern fast schon ein Allgemeinplatz, über den Philosophen und Wissenschaftler aller Jahrhunderte nachgedacht haben. Sehr dramatisch drückt es heutzutage Christopher Ryan in seinem Buch „Sex at Dawn. The Prehistoric Origins of Human Sexuality” aus. Er schreibt, dass nichts auf der Welt Menschen so zuverlässig einen psychischen Knacks verpassen könne wie eine unterdrückte Sexualität – mehr noch als Hunger, Durst und Gefangenschaft. Was mein Partner und ich im Mikrokosmos unseres Schlafzimmers erleben, ist also nicht nur ein kleines persönliches Beziehungsproblem. Man kann es auch in den größtmöglichen Kontext stellen. Erfüllende Sexualität ist wichtig.
Natürlich ist der Welt egal, ob wir einfache, multiple oder überhaupt Orgasmen haben. Aber der größere Kontext hilft zu verstehen, dass schlechter Sex kein persönliches und auch kein Luxusproblem ist, sondern dass wir, wenn wir ihn vernachlässigen, ein fundamentales menschliches Bedürfnis in den Keller stellen. Eines das unsere seelische Gesundheit und unser Glück entscheidend mitbestimmt. Das kann nicht lange gutgehen, und deshalb hat es verdammt noch mal einen Platz auf den höheren Rängen unserer Prioritätenliste verdient, nicht irgendwo hinter Zahnarztbesuchen und Fernsehabenden.
Es ist eine Lüge, dass eine gute Beziehung immer mit gutem Sex einhergeht
2014 kam ein Film ins Kino, der das Problem erlahmender Lust mit Starbesetzung erzählte. „Sex Tape” hätte eine Gelegenheit für Hollywood sein können, Ehrlichkeit zu zeigen. Stattdessen sorgt das Ergebnis dafür, dass man sich als normales Paar noch unfähiger fühlt. Die Protagonisten, ein seit zehn Jahren verheiratetes Paar, beschließen, alle Stellungen aus dem Buch „The Joy of Sex” durchzuturnen und sich dabei mit der iPad-Kamera aufzunehmen. Das geht natürlich schief, aber das ist hier nebensächlich. Wichtiger ist eine Szene ziemlich am Anfang des Films. Darin rollt Cameron Diaz in knappem, pinkfarbenen Höschen und weißem T-Shirt mit Rollerskates auf ihren Mann zu und unterbreitet ihm den Sextape-Vorschlag. Dabei schafft sie es, gleichzeitig clean und verrucht zu wirken. Ich habe den Film nicht zu Ende gesehen, weil ich nach dieser Szene keine Lust mehr dazu hatte. Denn natürlich ist Diaz’ Aktion völlig unrealistisch für ein zehn Jahre altes Paar. Niemand schafft es nach so langer Zeit noch, so überzeugend eine sexy Geste zu bringen. Weil man nach einer gewissen Zeit für seinen Partner einfach nicht mehr dieses unbekannte, aufreizende Wunderwesen sein kann, bei dem nicht klar ist, was es als nächstes machen wird. Man ist der Mensch, den der andere morgens nackt vor dem Computer sitzen sieht, mit Croissantkrümel in den Schamhaaren. „Sex Tape” mag ein netter Film sein, aber er bedient die falsche Vorstellung, dass man nur ein bisschen Zeit, einen guten Body und ein paar freche Ideen braucht, um jederzeit eine 1A-Nummer schieben zu können. So lange man sich liebt, versteht sich. Denn dass Sex ein Spiegelbild der Beziehung ist, dass also eine gute Beziehung immer mit gutem Sex einhergeht, ist die zweite Lüge, und sie kommt nicht nur aus Hollywood, sondern ist das Fundament der klassischen Paartherapie. Leidenschaft ist demnach eine natürliche Weiterführung der Liebe. Im Umkehrschluss müsste das natürlich heißen, dass man sich nicht richtig liebt, wenn man lustlos ist. Würde das stimmen, stünde es sehr schlecht um Beziehungen in Deutschland.
Der Beziehungsforscher Ragnar Beer sagt. „Ich habe noch keine Kurve gesehen, die so traurig abwärtsgeht und sich nie wieder erholt wie die der sexuellen Aktivität von Paaren.” Sein Institut in Göttingen, das auch das zweifelhafte Treueverhalten der Deutschen dokumentiert haben, konnten in einer Befragung feststellen, dass jeder sechste Mensch, der hierzulande in einer festen Beziehung lebt, in den vergangenen vier Wochen keinen Sex mit seinem Partner hatte. Von den 15.000 Teilnehmern schlief fast die Hälfte seltener als einmal pro Woche mit seinem Partner. In den USA gibt es dafür bereits einen Begriff: DINS, „double income, no sex”. All diese Menschen also sollen sich nicht lieben? Oder hätten sie eigentlich ein wunderbares Sexleben, wenn sie nur nicht so viel Zeit mit dem Beantworten von E-Mails verbringen müssten? Nicht wahrscheinlich.
Was tun, also? An jeder Ecke wird uns versprochen, dass dieses oder jenes Ding uns als Paar gleich Feuer unterm Hintern machen wird. Alles scheint eine Frage der Lockerheit und Experimentierfreude. Vor ein paar Monaten leuchteten in Berlin von riesigen Plakatwänden Werbung für ein Sextoy, das einer kleinen Aubergine ähnelt und das „multiple Orgasmen” verspricht – für nur 79,90 Euro! Und jedes zweite Magazincover, das wir am U-Bahn-Kiosk lesen, legt nahe, dass ein stockendes Sexleben mit ein paar einfach zu lernenden Handgriffen, Hilfsmitteln oder „Strategien” sofort wieder super werden kann. Du musst halt mal das Smartphone zur Seite legen, Schätzchen, und in die Trickkiste greifen! Vielleicht möchte dein Partner mal „sanft dominiert werden”, so à la „50 Shades of Grey”? Oder ihr müsst mal ein Kissen unterlegen, ein exotisches Öl verteilen und euch mal einen Finger in den Hintern stecken, wo ist das Problem?
Dies ist ein leicht gekürzter Auszug aus dem Buch „Besser als Sex ist besserer Sex”, das Theresa Bäuerlein gemeinsam mit ihrem Partner Tom Eckert geschrieben hat. Es ist im März 2016 im Heyne-Verlag erschienen.
Aufmacher: Illustration von Sibylle Jazra für Krautreporter.