Seit 2014 gibt die österreichische Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler den „Food Report“ heraus, ein rund 100 Seiten starkes Werk, in dem sie die wichtigsten Entwicklungen der Lebensmittelbranche beschreibt. In diesem Jahr taucht ein seltsamer Titel in ihrer Liste auf: „Spiritual Food.”
Man versteht nicht gleich, was das sein soll. Lebensmittel, die vom Vatikan gesegnet wurden? Die man in Esoterik-Läden kaufen kann? Opfergaben für Götter? Und wie kann das einer der wichtigsten Food-Trends der westlichen Welt im Jahr 2016 sein? Rützler schreibt als Erklärung, für bewusste Esser würden neben gesundheitlichen Kriterien verstärkt spirituelle und moralische Aspekte wichtig: „Essen wird zur Religion.“
Was für ein Satz. Das ist eine viel größere Aussage als das, was man von Ernährungs-Forschern sonst hört. Es steckt viel Wahres in ihr. Denn die Bedeutung, die wir dem Essen geben, ändert sich gerade völlig. Das hat nicht nur Rützler beobachtet. „Leute unterhalten sich in der Kantine mit religiösem Eifer über ihre Essgewohnheiten und verschiedene Anschauungen stehen gegeneinander”, hat der Theologe Kai Funkschmidt neulich festgestellt.
Was ist mit uns los? Warum sollte irgendjemand „mit religiösen Eifer“ seinen Mittagsteller verteidigen? Jahrzehntelang waren die Themen der Ernährungsdebatte klar: Die Menschen interessierte vor allem, was gut schmeckte, was gesund war, welche Qualität ihre Lebensmittel haben. Sie sorgten sich um Fleischskandale, klagten über langweilige Tomaten, wandten sich Bio zu. Das aber reicht nicht mehr. Das „richtige“ Essen wird zunehmend als Symbol für das „richtige“ Leben verstanden. Niemand hat das besser in Worte gefasst als die einflussreiche kalifornische Gastronomin Alice Waters: „Every single choice we make about food matters at every level“ (Jede Entscheidung, die wir in Bezug auf Essen treffen, ist auf jeder Ebene wichtig).
Dieser moralisch aufgeladene Überbau sorgt dafür, dass immer mehr Normalbürger beim Essen Ritualen und Regeln in einer Weise folgen, für die es kaum noch rationale Erklärungen gibt. Ernährungsformen haben keine Freunde mehr, sondern „Anhänger”. Die Paleo-Ernährung, liest man bei ihren Verfechtern, sei keine Diät, sondern eine „Lebensweise”, vegan „rettet die Welt”, regionale Lebensmittel sollen „authentischer” sein als andere.
Kosher, halal, glutenfrei
Wie bei jeder religiösen Strömung, die etwas auf sich hält, gibt es dazu passende Manifeste. Bücher, die Getreide als Gift bezeichnen, landen auf den Beststellerlisten, genauso wie die Werke der neuen Ernährungspropheten wie Attila Hildmann („Vegan for fit“ etc.) und Ella Woodward („Deliciously Ella“), die nicht nur Rezepte verraten, sondern auch, wie diese ihr ganzes Leben verändert haben. Ihre Leser meiden Gluten, das in jedem normalen Brot steckt, das aber plötzlich alle krankmachen soll, sie geben viel Geld für Beeren und Wurzeln aus, denen sie besondere Wirkungen zuschreiben („Superfoods”) und vermelden Wunderheilungen, weil sie nichts mehr essen, was über 40 Grad erhitzt wurde. Und so, wie Supermärkte für muslimische oder jüdische Kunden koschere oder als „halal” gekennzeichnete Waren anbieten, gibt es jetzt überall eigene Regale und Nischen für gluten-, tier- oder sonst wie -freie Lebensmittel.
„Überspitzt könnte man sagen, dass die unzähligen veganen Ersatzprodukte, laktosefreien Milchprodukte und glutenfreien Backwaren die Hostien der neuen Ernährungsreligionen sind.”
Hanni Rützler
Alan Levinovitz, der in den USA als Professor für Religion und Philosophie lehrt, hat diese Entwicklung so sehr fasziniert, dass er ein Buch darüber geschrieben hat. Darin beschäftigt er sich auch mit den Speisegeboten tatsächlicher Religionen. Ursprünglich hatte er geglaubt, dass es rational nachvollziehbare Gründe für sie geben müsste. Dass also zum Beispiel Juden und Muslime deswegen Schweinefleisch verboten wurden, weil es Fadenwürmer (Trichinen) und damit die gefährliche Krankheit Trichinose auf Menschen übertragen kann.
Stattdessen fand er heraus, dass die meisten Speisegebote medizinisch nicht nachvollziehbar sind. Vielmehr basieren sie auf bestimmten Vorstellungen davon, was „rein“ und „natürlich“ ist. Das wiederum sieht den Argumenten, die heute für das angeblich bessere Essen gebracht werden, verdächtig ähnlich. Deswegen glaubt Levinovitz, dass sich moderne Ernährungstrends am besten über mystische und abergläubische Denkmuster verstehen lassen.
Sicher, Religion macht mehr aus als besondere Essgewohnheiten, egal, welche Philosophie daran hängt. Religion in ihrer tiefsten Bedeutung fragt nach dem Ursprung und dem Sinn des Lebens. Ein Glutenfrei-Kochbuch fragt höchstens nach dem Ursprung Ihrer Lebensmittel. Aber auch Christen, Juden und Muslime betreiben ihren Glauben nicht notwendigerweise in dieser Tiefgründigkeit. Viele bewegen sich vor allem in religiösen Praktiken und Denkmustern. Und genau diese gibt es auch beim Essen. Ein paar Beispiele:
Die Sehnsucht nach dem Ernährungsparadies
Schon Adam und Eva sind aus dem Garten Eden geflogen, weil sie etwas Falsches gegessen haben. Die modernen Ernährungsmythen variieren diese Geschichte immer wieder. Alles war gut – bevor wir angefangen haben, Tiere massenhaft auszubeuten, Getreide massenhaft anzubauen, Zusatzstoffe zu verwenden, Zucker zu essen … die Aufzählung lässt sich beliebig verlängern. Immer geht es um die Suche nach einer besseren Welt, einem besseren Leben, dem man vielleicht näherkommen könnte, wenn man sich nur die richtigen Dinge auf den Teller legen würde.
Bei den Paleo-Anhängern ist es das Steak des Steinzeitmenschen, der in einer unberührten Umgebung das aß, was die Natur ihm zu bieten hatte. Ganz ohne moderne Landwirtschaft und daher auch ohne Getreide, Zucker und Hülsenfrüchte. Unsere heutigen Körper, so die Logik, brauchen diese urige Nahrung noch immer, weil ihre Evolution mit den Erzeugnissen moderner Landwirtschaft nicht Schritt gehalten hat. Kein Wunder also, wenn es uns nicht gut geht!
Ähnlich sieht der Mythos der glutenfreien Ernährung aus: Auch hier sind moderne Anbaumethoden daran schuld, dass Brot und Nudeln uns krank, dumm und unglücklich machen. Der Veganer hingegen sucht das Paradies nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft: In einer sanfteren Welt, die tierisches wie menschliches Leben respektiert. Der Superfood-Fan schließlich liebt den Mythos der letzten, unberührten Orte der Erde, von denen sein Essen (angeblich) kommt: aus tiefen Dschungeln, entlegenen Tälern und kilometerhohen Bergen, in denen Indianerstämme/Naturheiler/Mönche seit hunderten von Jahren bestimmte Beeren/Wurzeln/Samen verzehren und deshalb nicht unter Krebs/Alzheimer/Impotenz leiden.
Schuld und Sühne – das „gute“ und das „böse“ Essen
Levinovitz hat herausgefunden: Zucker galt praktisch ab dem Moment als schlecht, in dem Menschen ihn kaufen konnten. Also lange bevor überall von Diabetes und Fettleibigkeit die Rede war. Zucker war böse, weil er lecker war und die Lust am Süßen eine Sünde bedeutete. Auch die Ablehnung von Getreide ist nicht neu: Daoistische Mönche praktizierten lange vor Bestsellern wie „Weizenwampe“ und „Dumm wie Brot“ ritualisierte Körner-Enthaltsamkeit. Das Prinzip vom Essen als Sünde oder Tugend sitzt uns fest in den Knochen, nimmt in der heutigen Zeit aber neue Formen an. Sündig ist nun, was (angeblich) dick, krank und schlapp macht oder der Umwelt und anderen Lebewesen schadet.
Das Bewusstsein dafür ist so ausgeprägt, dass einem fast jeder Bissen im Hals stecken bleiben kann: „Einmal ist er zu fett, dann potenziell allergen. Einmal lässt er die heimischen Bauern zu wenig verdienen, dann trägt er zum ökologischen und sozialen Elend in der Dritten Welt bei, ein andermal zur Überfischung der Meere oder zur Tierquälerei bei. Es gibt fast nichts mehr, das man einfach genießen kann“, meint Hanni Rützler. „Wenn man das als Imperativ des alltäglichen Handelns und Entscheidens nimmt, ist man als Konsument nicht nur völlig überfordert; man fühlt sich auch ständig schuldig. Das erinnert mich sehr an katholisches Denken: Man ist immer schuldig, immer fehlerhaft, immer unzureichend. Und man muss Abbitte leisten durch Verzicht.“
Du sollst keine anderen Nahrungsmittel neben mir haben
Religiöse Speisegebote erfüllen eine wichtige Funktion: Sie sind nicht zuletzt ein Mittel, sich von Andersgläubigen abzugrenzen.
„Jeder Religion wohnt ein Hang zum Elitären inne, es gibt Innen und Außen, und wer das religiöse Gesetz erfüllt, bekommt ein Gefühl der Zufriedenheit. Kurzum: Speisegebote stiften Identität.”
Kai M. Funkschmidt, Theologe
Mit anderen Worten: Man „isst” nicht nur Bio. Man „ist” es. Deswegen halten Menschen so vehement an ihren Vorstellungen vom richtigen Essen fest. „Wenn man jemanden auffordert, vielleicht doch Zucker oder Gluten zu essen, ist das fast, als würde man jemanden bitten, seinen Glauben aufzugeben“, hat Levinovitz beobachtet. Dafür spricht auch, dass moderne Speisegebote genau wie religiöse Vorschriften absoluten Charakter haben. Koscher essen heißt, dass man Schwein ganz und gar meiden muss. Man kann nicht ab und zu ein bisschen Speck knuspern. Für einen Veganer besteht der Anspruch nicht etwa darin, selten Käse oder Wurst zu essen, sondern „nie”.