Das Recht auf Unlust

© George Peters

Sinn und Konsum

Interview: Das Recht auf Unlust

So viel sexuelle Freiheit wie derzeit gab es noch nie. Oder? Die australische Journalistin und Bloggerin Rachel Hills glaubt das nicht. In ihrem Buch „The Sex Myth“ beschreibt sie, wie umfassend die Frage nach dem „richtigen” Sex unser Leben bestimmt. Deswegen sind wir immer noch unfrei. Es haben sich nur die Vorzeichen geändert.

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Wie reagieren die Leute, wenn du sagst, dass du ein Buch mit dem Titel „The Sex Myth” geschrieben hast?

Die meisten Leute fragen: „Was ist denn der Mythos?“ Männer in einem gewissen Alter lachen oft und sagen: „Für mich ist Sex kein Mythos!“

Okay, was ist denn der Mythos?

Die Vorstellung, dass unser sexuelles Verhalten sehr viel darüber aussagt, wer wir sind und was unsere Werte sind. Und dass mit dir etwas nicht stimmt, wenn du nicht sexy, sexuell aktiv und gut im Bett bist.

Der Sex-Mythos ist also nicht einfach nur ein Regelwerk, das uns sagt, wie wir mit Sex umgehen sollten. Er gibt den Anspruch vor, dass die Art, wie wir uns sexuell verhalten, wichtig ist. Und dass dies offenbart, wer wir sind und wo wir als Gesellschaft stehen.

Diese Idee hat tiefe historische Wurzeln. Man kann sie in jüdisch-christlichen Vorstellungen über Sexualität erkennen: Clemens von Alexandria, ein Theologe des zweiten Jahrhunderts, glaubte, dass man Sex nur in bestimmten Positionen und zu spezifischen Tageszeiten haben sollte. Und mittelalterliche Priester haben sexuelle Verstöße mit Ausgrenzung, Hungerstrafen und öffentlichen Demütigungen bestraft. Am stärksten hat aber wohl die Biologie unsere Vorstellungen geprägt – die Tatsache, dass Sex zutiefst lustvoll sein kann und manchmal Folgen wie Krankheit oder Schwangerschaft nach sich zieht.

Wann ist dir klargeworden, dass es diesen Mythos gibt?

Ich habe in meinen Zwanzigern angefangen, kritisch über Sexualität nachzudenken. Damals wurde mir klar, dass die Geschichten der Medien darüber, wie Menschen in meinem Alter angeblich sexuell unterwegs waren – „die alkoholgetränkte Wet-T-Shirt Dauerparty“ – weder von Statistiken bestätigt wurden noch von den Erfahrungen der meisten Menschen, die ich im echten Leben kannte. Ich war an diesem Punkt noch Jungfrau, und das schien überhaupt nicht zu der Art zu passen, wie ich mich sonst wahrnahm und wie ich mich öffentlich gezeigt habe. Ich war aufgeschlossen, politisch liberal und habe sehr auf mein Aussehen geachtet alles Eigenschaften, die wir tendenziell Menschen zuschreiben, die sexuell aktiv sind. Sex war ein Thema, das mich sehr unsicher gemacht hat. Die meisten Leute in meinem Alter waren natürlich keine Jungfrauen, aber ich fand es sehr interessant, dass auch ihre Sexleben überhaupt nicht perfekt waren, und dass viele von ihnen meine Unsicherheit teilten.

Und dann hast du beschlossen, ein Buch darüber zu schreiben.

Ich fand schon immer gut, wie feministische Sachliteratur mir geholfen hat, die Welt zu verstehen, und mir ist klargeworden, dass eine Das-Private-ist-politisch-Perspektive auf Sex vielen helfen könnte, Männern und Frauen.

War es für dich eine Art, mit deiner eigenen Unsicherheit zurecht zu kommen?

Absolut. Ich habe das Buch nicht direkt als Selbsthilfe geschrieben, aber ich hätte es auch nicht gemacht, wenn Sex kein Thema wäre, das mich persönlich betroffen und besorgt gemacht hat. Ich wollte ein Buch schreiben, das meinem jüngeren Selbst die emotionale Last von den Schultern genommen hätte, und einen erklärenden Rahmen für ein Thema schaffen, das mich geplagt hat.

Du schreibst, dass wir heutzutage nicht mehr Angst davor haben, dass wir mit zu vielen Menschen geschlafen haben, sondern dass es nicht genug waren. Hat sich die sexuelle Revolution gegen uns gewandt?

Ich glaube, die Leute sorgen sich um beides: Es gibt ein Stigma, wenn man „zu sexuell ist“, das heißt in Bezug auf die Anzahl an Menschen, denen man sexuell begegnet ist, oder darauf, wie man Sex hat, zum Beispiel queer, transsexuell oder außerhalb fester Beziehungen. Aber ich höre auch von vielen Menschen, dass sie sich dafür schämen, nicht sexuell genug zu sein. Da ist dieses Gefühl, dass man nicht wirklich begehrenswert oder sogar nicht richtig lebendig ist, wenn man nicht sexuell aktiv ist. Das ist natürlich nicht besonders befreit oder aufgeklärt.

Im Allgemeinen sind nicht die Sexerziehung oder Revolutionäre an der Idee schuld, dass Menschen Verlierer sein sollen, wenn sie nicht genug Partner haben oder „Blümchensex“ mögen. Diese Botschaft kommt mehr aus den kommerziellen Auswüchsen der sexuellen Revolution – Werbung, Magazinen, Menschen, die sich selbst als „Sexperten“ bezeichnen. Und das wirkt sich auf die Art und Weise aus, wie wir über Sex im Alltag denken und reden.

Wie kommt diese Botschaft bei deinen Lesern an?

Viele Leute schreiben mir, dass The Sex Myth ihnen ein Gefühl von Erleichterung gebracht hat. Es gibt so viele Menschen, die sich wegen ihres Sexlebens allein oder unzulänglich fühlen und The Sex Myth hilft ihnen zu sehen, dass es da draußen andere Menschen gibt, die das Gleiche erleben. Mir schlägt auch viel Dankbarkeit von Lesern dafür entgegen, dass sie in meinem Buch die emotionale Welt anderer Menschen hineingucken dürfen und dass jemand in Worte gefasst hat, was sie sowieso denken oder fühlten.

Ist der Sex-Mythos eher ein Problem für jüngere Menschen?

Die meisten Menschen, deren Geschichten ich im Buch erzähle, sind in einer bestimmten Lebensphase: in ihren Zwanzigern (manche sind auch Teenager oder über dreißig), sie sind Single – oder zumindest unverheiratet – und sie sind dabei herauszufinden, wer sie sind und wie Sex dazu passt. Aber ich glaube, dass der Sex-Mythos alle Lebensphasen betrifft. Nicht nur die Jungen, die sich Sorgen darum machen, ob sie begehrenswert sind, oder ihren Sex-Appeal als Zeichen dafür sehen, dass andere sie wertschätzen. Und während Singles sich darum sorgen, ob sie Sex haben oder nicht, fragen sich Menschen in Langzeitbeziehungen oft, ob sie genug haben … oder die richtige Art Sex.

Gibt es in anderen Kulturen auch Sex-Mythen?

Ich bin mir da fast sicher, aber ich habe das nicht genauer erforscht. Ich habe acht Jahre gebraucht, um zu verstehen, wie der Sex-Mythos im Westen funktioniert. Wenn ich mich auf den ganzen Planeten konzentriert hätte, wäre ich vielleicht nie mit dem Buch fertig geworden.

Wir haben eine recht enge Definition davon, was sexuell sein bedeutet – wie kommt das?

Ich glaube, das hat damit zu tun, dass wir miteinander mischen, was uns Lust bereitet und wie wir uns fortpflanzen. Viele breitere kulturelle Ängste um Sex gehen darauf zurück, dass heterosexueller, penetrativer Sex die Art ist, wie wir Babys machen. Und deswegen ist historisch gesehen die Frage, wer wann und mit wem Sex hat, ein Thema akuter demographischer und politischer Ängste.

Aber wenn wir heutzutage über Sex sprechen, geht es nicht nur um Fortpflanzung: Wir sprechen darüber, was uns befreit und was uns Genuss bringt. Es gibt eine ganze Masse körperlicher und sozialer Handlungen, die uns die gleichen Ergebnisse bringen würden. Aber weil historisch über Sex in Verbindung mit Fortpflanzung gesprochen wird, gilt penetrativer Geschlechtsverkehr immer noch als ultimativer Ausdruck von Intimität und Lust.

Wie wir mit Sex umgehen, ist mit wahnsinnig vielen Erwartungen, Ängsten und Themen besetzt. Gibt es eine Möglichkeit, Sex weniger kompliziert zu erleben?

Das ist eine schwierige Frage! Ich glaube, wenn Menschen zu irgendetwas eine biologische Veranlagung haben, dann ist es das Bedürfnis, unseren Erfahrungen Sinn zu geben und Geschichten darüber zu erzählen. Ich bin also nicht sicher, ob wir Sex da ausklammern und daraus einfach ein körperliches Vergnügen machen können. Ich glaube auch, dass, wie ich im Buch beschreibe, der Sex-Mythos selbst Menschen psychologisch gesehen Lust verschaffen kann. Schließlich macht uns nicht nur das Gefühl von Lippen auf Lippen oder Genitalien auf Genitalien an (oder welche anatomischen Konfigurationen einem sonst einfallen). Sondern auch die Geschichten, die wir uns darüber erzählen, was diese Empfindungen bedeuten.

Was würde wohl passieren, wenn wir Sex eine weniger umfassende Bedeutung für unser Leben geben würden?

Ich stelle mir gerne vor, dass wir dann eher auf eine Weise mit Sex umgehen könnten, wie es uns entsprechen würde. Ob das heißt, dass wir den Sex haben würden, bei dem wir jetzt lieber nicht zugeben, dass wir ihn wollen, oder ob wir besser damit klarkommen, nicht Sex zu haben. Ich glaube auch, dass wir die sexuelle Wahl anderer eher akzeptieren und verstehen würden, dass jemand nicht deswegen schlechter oder besser als wir selbst ist, weil er eine andere Art von Sex mag.

Dein Buch klingt manchmal wie eine Kapitalismuskritik - du sprichst die Industrien an, die den Sex-Mythos fördern, zum Beispiel die Schönheits- und die Dating-Industrie. Glaubst du, der Sex-Mythos ist ein Resultat von Konsumdenken?

Ich glaube nicht, dass der Sex-Mythos ein Resultat von Konsumdenken ist. Denn es gibt ihn schon länger. Aber beides ist definitiv miteinander vermischt. Ich habe beim Schreiben des Buches sehr viel über Kapitalismus nachgedacht: In gewisser Weise war er eine offensichtliche Erklärung für die Ideen und Phänomene, die ich beobachtet habe. Gleichzeitig war das als alleinige Erklärung für den Sex-Mythos zu einfach. Ich wollte der Versuchung widerstehen, die man manchmal bei den Linken sieht: Dass man dem Kapitalismus für alles, was in unserer Gesellschaft falsch läuft, die Schuld gibt.

Ich glaube, den Sex-Mythos würde es auch in, sagen wir, einer sozialistischen Gesellschaft geben, auch wenn er sich dort wahrscheinlich anders manifestieren würde. Trotzdem denke ich, dass der Konsumkapitalismus vom Sex-Mythos profitiert. Die Idee, dass Sexualität ein Spiegel des Selbst ist, und dass dein Wert davon bestimmt wird, wie sehr du begehrt wirst, eignet sich sehr gut, um Dinge zu verkaufen.

Sind Frauen und Männer unterschiedlich stark vom Sex-Mythos betroffen?

Da schwanke ich noch in meiner Meinung. In meinem Buch sage ich, dass Männer vielleicht stärker darunter leiden, weil die Sexualität von Männern (besonders bei Heterosexuellen) als etwas behandelt wird, das unabhängig von Politik und Kultur ist. Während man die weibliche Sexualität endlos auseinandernimmt, wird die männliche als etwas gesehen, das einfach so „ist“ – ein unkomplizierter biologischer Trieb.

Aber ich habe mir seitdem weiter Gedanken gemacht: darüber, dass die Frauen, die ich interviewt habe, ihr sexuelles Verhalten stärker als die Männer beobachten. Die wenigsten Männer, mit denen ich gesprochen habe, führten quasi Buch darüber, wie oft sie Sex hatten. Aber viele der Frauen haben das getan. Was mich zu dem Schluss geführt hat, dass Frauen stärker vom Sex-Mythos beeinflusst werden. Insgesamt aber sind beide Geschlechter ähnlich betroffen: Beide wollen sich begehrt und „potent“ fühlen, und beide wollen frei von sexuellem Stigma sein. Das Geschlecht spielt eine Rolle dafür, wie sich der Sex-Mythos ausformt, aber es gibt mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.

Warum besteht unsere Kultur darauf, dass sexuell befreite Frauen auch sexuell aktiv sein müssen?

Das hat viel mit der historischen Unterdrückung weiblicher Sexualität zu tun. Wenn du in einer Kultur lebst, die dir sagt, dass Sex schlecht ist oder dass man ihn nur unter bestimmten Umständen haben sollte – wie es für viele von uns der Fall ist - kann man leicht verstehen, dass sexuell aktiv sein sich wie ein Widerstand dagegen anfühlen kann. Und oft ist das auch so. Das Problem ist dann da, wenn das ein eigener neuer Sex-Standard wird. Viele der jungen Frauen, mit denen ich für das Buch gesprochen habe, hatten das Gefühl, dass sie nicht feministisch oder stark genug waren, weil sie nicht genug Sex hatten.

Ist das Recht, nicht sexuell aktiv zu sein, ein Aspekt, dem sich der Feminismus mehr widmen sollte?

Für mich ist eine „sex-negative“ Haltung, wie manche das im Gegensatz zum sex-positiven Feminismus nennen, ein sehr unattraktiver Begriff. Er beschwört die Vorstellung herauf, dass Sex schlecht oder gefährlich ist. Das ist genauso Teil des Sex-Mythos wie die Idee, dass Sex für unseren Wert und unsere Attraktivität essenziell wichtig ist. Ich glaube, dass Sex-Negativität trotzdem für manche reizvoll ist, weil die Idee der Rolle von Sex als zentralem Schauplatz der Frauenbefreiung in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer orthodoxen Vorstellung geworden wird.

Ich habe bemerkt, dass der Begriff „sexkritisch“ an Zugkraft gewinnt, das gefällt mir besser als Sex-Negativität. Ich sehe meine Arbeit sowohl als „sex-positiv“ und als „sex-kritisch“. Sex-positiv in dem Sinne, dass es letztlich darum geht, dass Menschen weniger unter sexuellen Stigmata leiden und ihre Erfahrungen mit weniger Angst machen. Und sex-kritisch, weil Sex mit einem forschenden, kritischen Blick betrachtet wird.

Wie würdest du sexuelle Freiheit definieren?

Sexuelle Freiheit ist die Fähigkeit, Sex auf eine Weise zu haben (oder nicht zu haben), die für dich in diesem Moment passt. Ohne Angst vor Gewalt oder Verurteilung von innen oder außen.


Rachel Hills ist gebürtige Australierin und lebt in New York. Sie schreibt über Feminismus, Politik und soziale Trends. Ihr Buch „The Sex Myth“ ist bisher in den USA, Australien und Großbritannien erschienen.

Foto: Simon Moss

Illustration: „Unlust“ von George Peters