Eigentlich sollten Sie jetzt besser ein Kochbuch lesen. Damit es heute Abend nicht schon wieder Spaghetti Pesto gibt oder die Nummer 145 vom freundlichen Asiaten um die Ecke. Aber wenn Sie schon mal hier sind, erklär ich Ihnen einfach, warum derzeit alle über Essen auf Rädern reden.
Aperitif
Schuld sind mal wieder die Schweden. Dort ist Gründerin Kicki Theander 2007 auf die Idee gekommen, gestressten Berufstätigen jede Woche Tüten mit Lebensmitteln zu packen, die exakt für die beiliegenden Rezepte reichen. Alles zusammen hat „Middagsfrid“ (übersetzt: „Abendessenfrieden“) den Kunden nach Hause geliefert und war damit Vorbild für viele internationale Ableger. So viele, dass sich Middagsfrid mit seinem deutschen Ableger Kommtessen.de nicht mehr durchsetzen konnte.
Aus den Tüten sind hierzulande Kochboxen geworden. Hört sich an wie eine neue Vox-Show mit Steffen Henssler. Ist aber ein Geschäftsfeld, in das zahlreiche Start-ups Zeit, Schweiß und Investorengeld stecken, damit wir zu Hause entspannter kochen können. (Sagen die Start-ups.) Ob – und für wen – sich die Boxenschickerei rentiert, finden wir im Laufe dieses Textmenüs heraus.
Vorspeise
„Wöchentlich tolle Zutaten und alle Rezepte direkt an Deine Haustür“, verspricht HelloFresh auf seiner Startseite. Der Kochboxen-Versender gehört zu den größten Hoffnungsträgern des Berliner Start-up-Massengründers Rocket Internet, der den Dienst Ende 2011 gestartet und inzwischen sogar in die USA gebracht hat.
Wer bei HelloFresh Kunde wird, kriegt einmal in der Woche eine Box mit Rezepten zum Nachkochen zugeschickt – Süßkartoffeln, Vollkorn-Couscous und Ochsenbrust inklusive. Drei Mahlzeiten, die zwei Personen sattmachen sollen, kosten 39,99 Euro. Und in der nächsten Woche wieder, denn HelloFresh ist wie viele andere Kochbox-Systeme als Abomodell angelegt. Nur so lässt sich für die Anbieter kalkulieren, welche Warenmenge sie wöchentlich einkaufen müssen.
Im vergangenen Jahr hat Rocket-Gründer Oliver Samwer angekündigt, HelloFresh baldmöglichst an die Börse bringen zu wollen und dafür „eine wahre Bewertungsbonanza“ in Gang gesetzt, wie es die „Wirtschaftswoche“ nennt. Während HelloFresh Anfang 2015 noch mit 131 Millionen Euro bewertet wurde, steht das Start-up nach weiteren Investitionsrunden inzwischen bei fast 3 Milliarden Euro.
Dabei weiß bislang niemand so genau, ob das Geschäftsmodell überhaupt dauerhaft funktioniert. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres hat HelloFresh 198 Millionen Euro umgesetzt, unterm Strich stehen allerdings 58 Millionen Euro Verlust. Wenige Wochen zuvor hatte Rocket laut „Börsen Zeitung“ noch erklärt, dass das Start-up eigentlich längst schwarze Zahlen schreibe – wenn man die enormen Marketingkosten aus der Bilanz herausrechne.
Genau die sind aber das Problem: Seit dem Marktstart wirft HelloFresh mit Gutscheinen um sich wie mit Kamellen beim Karnevalszug. Es gibt Online-Rabattcodes, die Neukunden 20 Euro Vergünstigung versprechen, Amazon-Lieferungen liegen regelmäßig Gutscheine im Scheckkartenformat bei, in großen Einkaufszentren hat HelloFresh Promotion-Stände aufgebaut, um mehr Besteller zu gewinnen. (Das kommt Ihnen vielleicht bekannt vor.) Zur Höhe der Kosten will sich HelloFresh auf KR-Anfrage nicht äußern. Reuters zufolge waren es in den ersten drei Quartalen 2015 etwa 70 Millionen Euro.
Und niemand kann absehen, was passiert, wenn diese Ausgaben von heute auf morgen drastisch gekürzt würden. Abonnieren die Kunden die Boxen dann weiterhin, obwohl die Lebensmittel im Supermarkt viel günstiger zu haben sind, bloß weil eine Kochanleitung beiliegt?
Oliver Samwer wettet darauf. Nur so kann der Rocket-Gründer beweisen, dass sein Geschäftsmodell funktioniert: Start-ups mit innovativen Konzepten hochzupäppeln, bis sie sich von alleine finanzieren. Der Schuh- und Modeversender Zalando gilt als ultimativer Beleg für den Erfolg von Rocket Internet. Es ist bislang allerdings der einzige. Rocket braucht ein neues Zalando – zumal die eigene Aktie nach dem Rocket-Börsengang vor anderthalb Jahren stark verloren hat. Die „Wirtschaftswoche“ nennt einen weiteren kritischen Punkt: „Die aktuelle Finanzkraft [von Rocket Internet] reicht allenfalls aus, um die ‘Proven Winners’ in die Gewinnzone zu bringen“, also die Start-ups, in die bislang schon das meiste Geld geflossen ist. Gleichzeitig wolle Samwer aber neue Start-ups gründen, weil sonst der Rocket-Motor ins Stottern kommt.
Anders gesagt: HelloFresh soll vor allem deshalb funktionieren, weil an einem erfolgreichen Börsengang auch ein Stück weit die Zukunft von Rocket Internet hängt. Das ist der Grund, warum Sie gerade schon wieder einen Gutschein in der Hand haben.
Dass HelloFresh bis heute nicht an der Börse ist, liegt am Einspruch des schwedischen Rocket-Großaktionärs Kinnevik, der seine Zusage verweigerte. Auf KR-Anfrage erklärt eine HelloFresh-Sprecherin: „Der IPO ist weiterhin fest im Blick, aber wir verspüren keinen Zeitdruck.“
Erster Gang
Die Lieferung nach Hause ist nicht die einzige Möglichkeit, vorgekaut zu kriegen, was es abends zu essen geben soll:
Die Grafik darf gerne geteilt oder in Blogs verwendet werden (Download hier; 665 KB).
Quellen und weiterführende Links stehen für KR-Abonnenten rechts in den Anmerkungen.
Zweiter Gang
Warum bestellen Menschen, die sonst beim Einkaufen auf jeden Cent achten, teure Kochboxen? Vielleicht, weil die wie ein Versprechen funktionieren, meint Mirjam Hauser, Trend- und Konsumforscherin beim Marktforschungsinstitut GIM Suisse in Zürich:
Die meisten Menschen wollen gut essen, das heißt: möglichst frisch, natürlich, selbstgemacht. Aber sie wollen sich nicht ständig Gedanken über die Umsetzung machen.
Vielen Konsumenten falle es schwer, die Planung für ein gesundes, selbst zubereitetes Essen in ihren „entstrukturierten Tagesablauf“ – mobil, flexibel, ohne feste Routinen – zu integrieren. „Das Einkaufen ist zwar durch lange Öffnungszeiten sehr viel leichter geworden. Aber sich zu überlegen, was abends gesund und wohlschmeckend auf den Tisch kommen soll, das auch noch in 25 Minuten fertig zubereitet ist, wird zum Stressfaktor“, erklärt Hauser. Die Kochbox-Anbieter suggerieren, uns diesen Stress abzunehmen. Und das stimmt ja auch – bis zu einem gewissen Punkt. (Abgesehen davon, dass man dann stattdessen den Stress hat, daran zu denken, während der Dienstreise sein Kochbox-Abo pausieren zu lassen.)
Konsumforscherin Hauser sagt aber auch:
Im Grunde genommen sind die heutigen Kochbox-Idee viel zu unflexibel und schon wieder veraltet.
Realistisch sei, dass mehrere Einzelangebote miteinander verschmelzen. „Warum sollte ein Händler, der die Zutaten des vorgeschlagenen Rezepts fürs Abendessen bringt, nicht auch gleich die Produkte mitliefern, die am anderen Morgen fürs Frühstück gebraucht werden?“ Vielleicht lassen wir uns in Zukunft tatsächlich regelmäßig kochinspirieren. Aber eher von einem Dienst, der eine Komplettversorgung anbietet. Rewe bringt schon heute die Zutaten für das „Rezept der Woche“ nach Hause. Und wer Rezepte bei nurkochen.de abruft, kann die benötigten Lebensmittel bei unterschiedlichen Supermärkten bestellen. Hauser:
Richtig spannend wird das, wenn sich die Angebote durch Informationen zum Konsumverhalten der Kunden individualisieren lassen.
Dritter Gang
„Hallo Peer, wir erreichen dich in 27 Minuten. Du kannst deinen Ofen schon mal auf 145 Grad Umluft vorheizen und einen Topf heißes Wasser aufsetzen“, steht in der SMS, zusammen mit dem Link, unter dem ich auf einer Karte nachverfolgen kann, wie „mein“ Fahrer vom anderen Ende der Stadt die „Geschmorte Aubergine mit Kokosklebreis und Shiitake Pilzen“ zu mir bringt, die sich Josita Hartanto, Küchenchefin im Berliner Edel-Veganer Lucky Leeks, für mich ausgedacht hat.
Als das Essen ankommt, ist es eiskalt – und genau so soll es auch sein. Weil das Start-up (Eating with) The Chefs sich als „Alternative zum klassischen Lieferdienst“ sieht und Kunden die „Magie der besten Köche der Welt“ verspricht. Die Magie ist, wenn sie ankommt, in gekühlte Plastikbeutel verpackt und sieht so aus:
Die Idee dahinter hievt die Kochbox-Idee auf die nächste Stufe: The Chefs verspricht von Gourmetköchen entwickelte Menüs. Die Zutaten werden unter Vakuum bei niedrigen Temperaturen vorgegart und einzeln in Beutel oder kleine Schalen verpackt. Zu Hause wird alles, auf dem „heiß“ steht, im Topf nur noch erwärmt, aus der Folie gedrückt und mit Hilfe einer beiliegenden Hochglanz-Anleitung auf dem Teller angerichtet.
Das hat bei ungeübten Anrichtern (wie mir) dann zwar nur marginal Ähnlichkeit mit dem Gericht aus dem Netz, das man bestellt hat. Schmeckt aber erstaunlicherweise ziemlich gut.
Das Vakuum-Essen richtet sich nicht mehr an einkaufsfaule Kochbuchverweigerer, sondern schielt auf eine noch speziellere Zielgruppe: Leute, die keine Lust auf Gemüseschnippeln haben, denen aber auch die Lieferpizza zu pappig ist. Statt stressfreiem Selberkochen verspricht das Start-up Besonderheit und Identifikation. Es geht darum, sich „selbst bei der Zubereitung ein bisschen wie ein Gourmetkoch zu fühlen“. Die Hauptgerichte aus dem Plastikbeutel kosten zwischen 10 und 20 Euro.
Etwas bodenständiger geht’s beim Mitbewerber Dinnery zu, der auch auf die Kochbeutel-Zubereitung schwört und in der „Höhle der Löwen“ Investoren-Unterstützung erworben hat.
Eatfirst gehört – wie HelloFresh – zu Rocket Internet und liefert in Berlin ebenfalls Menüs aus, die nur noch aufgewärmt werden müssen (ohne Beutel). Ursprünglich war die Idee, tagsüber permanent frisch gekochtes Essen durch die Stadt zu fahren, damit hungrige Kunden ihr Mittagessen innerhalb von 15 Minuten auf dem Tisch haben. Das hat sich erstaunlicherweise nicht rentiert. Ist aber ein schönes Beispiel dafür, wie hitzig es bei der Suche nach funktionierenden Geschäftsmodellen gerade zugeht.
Dessert
Zum Nachtisch Kaffee?
In den USA testet Starbucks derzeit, ob das Essen-auf-Rädern-Prinzip auf Kaffee mit Rädern übertragbar ist. Angestellten, die während der Arbeitszeit ihr Büro nicht verlassen wollen, bringt Starbucks bis zu acht Caffè Latte oder Frappucchino an den Platz – wenn sie gewillt sind, dafür 6 Dollar Lieferpauschale zu zahlen. Dreißig Minuten soll das im Schnitt dauern. Derzeit ist die „Starbucks Delivery“ auf Seattle beschränkt. (GeekWire sitzt an der Quelle und hat’s ausprobiert.)
In Deutschland macht sich derweil das nächste Start-up Gedanken darüber, wie sich die vielen Kochbox- und Menü-belieferten Kunden wieder vor die Tür locken lassen, damit in den Restaurants nicht so viele Plätze freibleiben. Nutzer von Heyride können sich von Taxi zum Auswärtsessen abholen lassen und zahlen dafür pauschal 5 Euro – den übrigen Betrag übernimmt das jeweilige Ziel-Restaurant. Die „5€-Flatrate-Taxi-App“ soll im Laufe des Februars offiziell an den Start gehen.
Dann müssen Sie sich endlich auch keine Gedanken mehr darüber machen, wo Sie sind, wenn Sie nicht wissen, was Sie essen wollen.
Aufmacherfoto: HelloFresh