Unter dem Schlagwort „Aufbewahrungssystem“ findet man auf ikea.de 223 platzsparend-formschöne Artikel für mehr Struktur und Klarheit in unseren Leben. Kästen mit und ohne Deckel, aus allen erdenklichen Materialien, mit Fächern und Etiketten zur Beschriftung, am besten gleich im Sechserpack, dazu die passenden Verschlussklips, damit auch drinbleibt, was draufsteht. Außerdem: Trennstege. Das sind kleine Lamellen, mit denen sich das Kästchen problemlos in weitere themenspezifische Kompartimente aufteilen lässt. Der Ordnungsdrang scheint uns bis in die hinterste Ecke unserer Kommode zu verfolgen.
Ginge es hier nur um Socken, die sortiert werden wollen, würde ich Trennstege Trennstege sein lassen. Tatsächlich aber stolpere ich immer wieder darüber, dass Leute nicht nur ihren eigenen Kram, sondern auch den von anderen meinen ordnen zu müssen. Wer dies als übergriffig empfindet – na, wie fühlt es sich an, wenn der Gast in der Mitfahrgelegenheit die CDs im Handschuhfach auf einmal nach Farben sortiert? –, der lese bitte weiter. Denn was sollen erst diejenigen sagen, die selbst aufgrund ihrer Sexualität immerzu in ein Aufbewahrungssystem abgelegt werden? Kiste auf, Lesbe rein, Deckel zu, Etikett drauf, fertig. Nein, so einfach sind wir nicht.
Wenn ich im Café sitze, schaue ich Männern hinterher. Wenn ich vom Frisör komme merke ich, wie sie mir hinterherschauen. Manchmal sehe ich Frauen, von denen ich den Blick kaum abwenden kann, so schön sind sie, aber wenn ich im Schwimmbad bin, kann ich an breiten Männerschultern nicht vorbeischauen. Zu all dem kommt erschwerend hinzu: Ich bin seit fast drei Jahren mit einer Frau zusammen und glücklich damit. Ich bin eine Frau, die eine Frau liebt. Aber lesbisch bin ich deswegen noch lange nicht.
Mich zwischen homo-, hetero und sogar bisexuell entscheiden zu müssen würde sich anfühlen, als beraubte ich mich selbst eines Stückes meiner persönlichen Freiheit. Deckel drauf, Verschlussklip dran – der Gedanke aus der Kiste nicht mehr herauszukommen, weckt in mir nicht nur Platzangst, ich wüsste auch einfach nicht, in welche Kiste ich gehöre. Am Anfang meiner Beziehung wurde ich häufig mit der Aussage konfrontiert: „Du hättest doch sagen können, dass du lesbisch bist. Wie lang weißt du es schon? Und wie hast du es herausgefunden?“
Wissen weiß ich gar nichts, und mich lesbisch nennen kann ich auch nicht, auch nach drei Jahren nicht. Reicht es nicht zu sagen: „Ich habe jemanden gefunden, den ich liebe und der mich glücklich macht“?
Mir ist bewusst, dass diese Zeilen bekennend lesbische oder queere Frauen (und bekennend schwule Männer) hellhörig werden lassen. Und mir ist wichtig, mit diesem Text nicht in gegenläufiger Richtung übergriffig zu sein: Wer sich wohlfühlt mit einer klaren Positionierung seiner selbst und durch andere, dem sei das gegönnt. Ich aber sehe es für mich nicht. Ich bin in keiner Szene, suche nicht danach, aber verwehre mich ihr auch nicht. Das beste Beispiel ist dieser Artikel. Er erscheint in einem Magazin für Frauen, die Frauen lieben. Hier, so meine ich, ist nicht nur der Text richtig, sondern auch ich.
Und ich bin nicht allein. In jüngster Zeit gab es viele Prominente, die mit ähnlichen Äußerungen die Öffentlichkeit verwirrt haben. Model Cara Delevingne, die mit Sängerin St. Vincent alias Annie Clark zusammen war, wehrte sich in der New York Times gegen die Annahme, es handele sich bei ihrer Sexualität um eine Phase: „I am who I am“, sagte sie dazu nur. Und ob Amber Heard, Rihanna oder Miley Cyrus – die Liste derer, die sich nicht festlegen (lassen wollen), ist lang. Auch die Schauspielerin Kristen Stewart ist eines dieser Beispiele.
Der Hollywoodstar hatte im August 2015 in der Zeitschrift NYLON unter anderem über Sexualität geplaudert und bekannt, dass sich ein Coming-out für sie nicht richtig anfühle. Sie ist mit ihrer Assistentin Alicia Cargile zusammen und hat damit nicht nur zum zweiten Mal den Traum des unsterblichen Vampirpaars mit Twilight-Kollege Robert Pattinson platzen lassen, sondern auch öffentlich klargestellt, dass sie sich nicht versteckt für was sie ist und wen sie liebt: „Google me, I’m not hiding“, so Stewart, und betonte außerdem, sie glaube in Bezug auf Sexualität an „fluidity“, also an ein Kontinuum. Der Medienrummel lässt vermuten, sie habe damit Bahnbrechendes beschrieben. Tatsächlich aber ist sie ungefähr 70 Jahre zu spät.
Der Sexualforscher Alfred Charles Kinsey wagte nämlich bereits in den Jahren 1948 und 1953 Versuche, der Komplexität dieses Themas Rechnung zu tragen. Er veröffentlichte die siebenstufige, nach ihm benannte Kinsey-Skala für die Beschreibung sexueller Orientierung. Zwischen 0 (ausschließlich heterosexuell) und 6 (ausschließlich homosexuell) liegen dabei verschiedene Grade der Bisexualität, wobei Stufe 3 gleiche Anteile von homo- und heterosexuellen Erfahrungen bedeutet. Die Verortung aber erfolgt nicht nur auf der Grundlage sexueller Handlungen, sondern auch nach psychischen Erfahrungen wie sexuellen Phantasien.
Kinseys Einteilung in sieben Stufen erfolgte basierend auf über 1.600 Interviews und wissend, dass diese lediglich Anhaltspunkte sein können und es wohl unendlich viele Zwischenstufen gibt. Diese sind bedingt durch individuelles Verhalten und können sich in verschiedenen Lebensphasen verändern. Man ist also nicht zwangsläufig zeitlebens eine 5, sondern kann sich auch mal irgendwo zwischen 2 und 3 wiederfinden. Hinzu kommt übrigens auch eine Kategorie X für Asexualität.
Kinsey plädierte übrigens auch für ein Überdenken der Begrifflichkeiten „homosexuell“ und „heterosexuell“: „Anstatt diese Ausdrücke als Substantive oder selbst als Adjektive für Personen zu gebrauchen, sollte man sie besser zur Beschreibung von tatsächlich sexuellen Beziehungen oder von Stimuli verwenden, auf die ein Individuum erotisch reagiert.“ In seinem Bericht von 1953 aber beschrieb Kinsey auch die Problematik der gesellschaftlichen Akzeptanz eines kontinuierlichen Denkens: „Es ist eine Charakteristik des menschlichen Denkens, dass er versucht, Phänomene zu dichotomisieren (…) und viele Personen wollen nicht glauben, dass es in diesen Angelegenheiten Abstufungen von einem Extrem zum anderen gibt.“
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer jüngst durchgeführten Umfrage in Großbritannien. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov forderte dabei die Briten auf, sich auf der Kinsey-Skala zu positionieren – mit eindeutig uneindeutigem Ergebnis: 43 Prozent der 18- bis 24-Jährigen zum Beispiel verorteten sich selbst zwischen 1 und 5 – also weder ausschließlich hetero- noch homosexuell. Betrachtet auf die Gesamtbevölkerung fühlen das immerhin 19 Prozent auch so. Insgesamt betrachten sich übrigens 72 Prozent als rein hetero- und 4 Prozent als rein homosexuell. Bliebe die Frage, wie Sexualität als solche denn nun eigentlich wahrgenommen wird. Etwa 60 Prozent aller selbstdeklarierten Heteros sehen eher das Kontinuum als die Binarität. Bei den Homosexuellen sind es sogar 73 Prozent.
Wenn man den Ergebnissen trauen darf, könnte Kristen Stewart mit ihrer Vermutung Recht haben. Im Interview sagte sie nämlich auch: „I think in three or four years, there are going to be a whole lot more people who don’t think it’s necessary to figure out if you’re gay or straight. It’s like, just do your thing.”
Von dieser Hoffnung, die ich teile, einmal abgesehen: Es ist mir egal, wie sich jemand nennt. Und das ist alles andere als ignorant gemeint. Es heißt lediglich, dass ich einem Label, das die sexuelle Orientierung zu beschreiben versucht, keine Bedeutung bemesse. Ich interessiere mich für Menschen, ihre Geschichten, ihre Sehnsüchte und Begehren. Mal angenommen, eine Frau war Zeit ihres Lebens immer mit Frauen zusammen – und jetzt liebt sie einen Mann. Wie nennt man das dann? Ex-Lesbe? Konvertierung zur Heterosexualität? Nummer drei auf der Kinsey-Skala? Oder einfach: eine Frau, die lange mit Frauen zusammen war und nun einen Mann liebt. Denn es ist nichts mehr und nichts weniger als das.
Vielleicht ist es naiv zu sagen: Ich freue mich einfach, wenn jemand einen Menschen findet, den er oder sie oder hen (Anm. d. Red.: Geschlechtsneutrales, schwedisches Pronomen der 3. Person Singular) liebt, ohne sich selbst festlegen und von außen mit einem Stempel versehen lassen zu müssen. Wenn das naiv ist, bin ich es gern.
Aber ich frage mich auch: Ist die Vorstellung, Menschen in passende Kisten stecken zu können, nicht noch viel naiver? Also die laminierte Karteikarte mit dem Namen in eine durch Trennstege in themenspezifische Kompartimente („Steht auf reifere Frauen“, „War schon einmal mit einem Mann zusammen“?) unterteilte Schachtel zu betten, anschließend zusammen mit anderen in einen Karton zu packen, der seinerseits in einem Fach des PAX-Schrankes abgelegt wird. IKEA ist zu billig, um gut zu sein.
In diesem Sinne meine ich: Man soll die Liebe feiern wie sie fällt. Und wenn sie fällt, darf sie auch einfach mal liegen bleiben, ohne gleich ins nächste System eingeordnet zu werden. Manches nämlich ist weder praktisch noch platzsparend, es ist formschön, wie es ist, und verdient seine Freiheit.
Aufmacherbild: Flickr/Axel Kuhlmann/CC BY 2.0
Dieser Essay ist zuerst in „Straight“ erschienen. Erst zwei Ausgaben alt ist das neue, komplett unabhängige Magazin für Frauen, die Frauen lieben. Hier finden lesbische oder queere Frauen sich und ihre Lebensrealität wieder.