Ein schwarzer Mann hält eine Spiegelscherbe, sein Gesicht spiegelt sich teilweise darin.

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Rassismus und Identität

Wer rassistisch denkt, ist nicht unbedingt böse

Denn von klein auf wird uns Rassismus beigebracht, schreibt die Autorin Gilda Sahebi. Aber den können wir auch wieder verlernen – wenn wir es wollen.

Profilbild von Gilda Sahebi
Freie Journalistin

Dass eine Partei rechts von der Union in den Bundestag einzieht, galt jahrzehntelang als unmöglich – bis 2013 die Alternative für Deutschland (AfD) bei den Bundestagswahlen antrat. Hätte man damals in jene Zukunft blicken können, in der diese Partei 77 Sitze im deutschen Bundestag besetzt, als zweitstärkste Kraft aus den Europawahlen 2024 hervorgeht, während sie mit Parteimitgliedern der CDU „Remigrationspläne“ für migrantische Personen schmiedet und der Verfassungsschutz sie bundesweit als rechtsextremen Verdachtsfall beobachtet, ja, dann hätte man sich vermutlich haareraufend gefragt: Wie konnte es Menschenfeindlichkeit so weit bringen?

Die Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Ärztin Gilda Sahebi liefert in ihrem Buch „Wie wir uns Rassismus beibringen“ eine Antwort auf diese Frage. Sie lautet: durch Normalisierung von Menschenfeindlichkeit wie Rassismus. Möglich machen das in allen Ecken der Gesellschaft geführte Debatten, die Rassismus lieber leugnen und ihn als Mitbringsel rechter Kräfte outsourcen. Die Erzählung: Die Gesellschaft sei demokratisch, human und aufgeklärt gewesen, bis die AfD dazu kam – ein Irrtum, als den ihn Gilda Sahebi entlarvt.

Jede Person kennt Stereotype und Zuschreibungen, die ein „Wir“- versus „Sie“-Gefühl säen und die wir oft unbewusst verinnerlicht haben. Wie die Autorin in diesem Buchkapitel beschreibt, wird Rassismus nämlich erlernt. Aber was erlernt wird, kann auch wieder verlernt werden. Man muss es nur wollen.


In ihrem Buch „Biased“ erzählt die Sozialpsychologin Jennifer L. Eberhardt die Geschichte, wie sie zum ersten Mal mit ihrem fünfjährigen Sohn Everett eine Flugreise unternahm. Sie erzählt von seinen aufgerissenen Augen, wie man sich eben einen kleinen Jungen bei seinem allerersten Flug vorstellt. Dann, erzählt die Stanford-Professorin, entdeckte ihr Sohn einen Schwarzen Mann im Flugzeug.

Everett sagte: „Hey, der Typ sieht aus wie Papa.“

Die Mutter schaute sich um; der Mann, den Everett meinte, war der einzige Schwarze Passagier. Ihr Sohn musste also ihn gemeint haben. Nur sah er ihrem Mann überhaupt nicht ähnlich. Sie studierte den Mann genau; Haare, Gesicht, absolut keine Ähnlichkeit. Was für eine Ironie, dachte sie, jetzt muss eine Schwarze Forscherin ihrem Schwarzen Sohn erklären, dass nicht alle Schwarzen gleich aussehen. Aber bevor sie ihm das erklären konnte, sagte ihr Kind: „Ich hoffe, dieser Mann raubt nicht das Flugzeug aus.“

Sie fragte: „Was hast du gesagt?“

Und er antwortete, so „unschuldig und süß“, wie man es von einem kleinen Jungen erwartet: „Ich hoffe, der Mann raubt nicht das Flugzeug aus.“

„Warum sagst du das?“, fragte sie so sanft sie konnte. „Du weißt, dass Papa kein Flugzeug ausrauben würde.“

„Ja“, antwortete er. „Ich weiß.“

„Na, warum sagst du das dann?“

Er schaute sie mit einem traurigen Gesichtsausdruck an. „Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich weiß nicht, warum ich das gedacht habe.“

„Sogar ohne Böswilligkeit – sogar ohne Hass“, schreibt die Forscherin in ihrem Buch, „hat es die Schwarz-Kriminalität-Assoziation in den Geist meines fünfjährigen Sohnes geschafft, in den Geist aller unserer Kinder, in uns alle.“

Menschen werden, das wird kaum jemanden überraschen, nicht mit rassistischen Vorurteilen geboren. Schwarze sind kriminell, Araber belästigen Frauen, Z* klauen – das sind alles spezifische Denkmuster. Menschen erlernen diese Denkmuster, so wie sie alles erlernen. Gerade in jungem Alter geht dieses Lernen sehr schnell; das Gehirn bildet ständig neue Nervenverbindungen, Assoziationen werden geknüpft, Zusammenhänge erlernt. Viele richtige und gute Zusammenhänge: Wenn Mama da ist, bin ich sicher; wenn ich über die Straße gehe, muss ich nach Autos Ausschau halten; wenn ich mir weh tue, kümmert sich jemand um mich. Wie intensiv andere Zusammenhänge gelernt werden – zum Beispiel rassistische – hängt maßgeblich mit dem Umfeld zusammen. Dieses Umfeld ist in erster Linie die Familie, später die Freund:innen, die Schule, die Lehrer:innen, die Gesellschaft. Die Gesellschaft wiederum ist geprägt von Politik und Medien, von den Debatten, die geführt werden, von Strukturen, die geschaffen werden. Strukturen, in denen wir alle nicht nur leben, sondern die uns alle prägen. Ganz besonders junge Menschen, die wiederum die nächsten Generationen sein werden, die diese Strukturen wiederum weiter gestalten und beeinflussen.

Rassistische Denkweisen fahren auf neuronalen Nervenbahnen

Viele Jahrzehnte lang ist die Wissenschaft davon ausgegangen, dass das Gehirn wie eine Maschine funktioniert – einmal programmiert, lässt sich nicht mehr viel ändern. Erst in den vergangenen Jahren wurde das Phänomen der Neuroplastizität eingehend erforscht – man weiß heute, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Das Gehirn ist formbar, ständig im Wandel, es passt sich an, es verändert sich, je nachdem, was wir erfahren, was wir denken, sehen, hören, spüren. Es ist neuroplastisch.

Eine wichtige Studie in diesem Zusammenhang wurde im Jahr 2000 in Großbritannien durchgeführt: Unter Leitung der Neurologin Eleanor A. Maguire wurden in London mit Hilfe von Magnetresonanztomographen (MRT) die Gehirne von Taxifahrer:innen untersucht. Genauer eine bestimmte Struktur: der Hippocampus. Der Hippocampus ist eine wichtige Hirnstruktur, zuständig für das Gedächtnis und für Erinnerungen. Die damals bahnbrechende Erkenntnis: Das Volumen des Hippocampus war bei Taxifahrer:innen größer als bei Personen, die diesen Beruf nicht ausübten. Die Forscher:innen konnten sogar die Korrelation feststellen, dass das Volumen des (hinteren) Hippocampus umso größer war, je mehr Jahre die Personen schon Taxi fuhren – das heißt, dass die Erfahrung, durch die komplexen Straßen Londons zu navigieren, zu konkreter Veränderung der Hirnstruktur geführt hat.

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Erfahrungen, Verarbeitung von Informationen, Eindrücke, sie alle formen das Gehirn. So konnte zum Beispiel die eingangs erwähnte Sozialpsychologin Jennifer Eberhardt in einer Studie in Stanford nachweisen, dass eine Struktur im Gehirn, die für das Erkennen von Gesichtern zuständig ist, unterschiedlich reagiert, je nachdem, ob Menschen die Gesichter von weißen oder von Schwarzen Menschen gezeigt werden. Eberhardt und ihre Kolleg:innen zeigten, dass die Abgrenzung von Menschen anderer Herkunft „im Inneren unseres Gehirns abgebildet ist.“ Das kommt nicht von selbst und es ist nicht von Geburt an da: Es wird erlernt. So wie Taxifahrer:innen die verschlungenen Wege Londons erlernen.

Das heißt auch, dass Rassismus in diesem Sinne nichts „Außergewöhnliches“ ist. Wer in einer Gesellschaft aufwächst oder lebt, in der Rassismus – offen, subtil, bewusst und unbewusst – existiert, wird diese Muster und Denkweisen erlernen. Es ist also nicht die Frage, ob jemand ein „schlechter“ Mensch ist oder gar „böse“, weil die Person rassistische Gefühle oder Gedanken hat. Wie bei dem kleinen Sohn von Jennifer Eberhardt, Everett, gelangen rassistische Narrative in unser Bewusstsein oder strukturell gesprochen in unser Gehirn.

Wie alle „Storys“, die auf diese Art Eingang in unser Bewusstsein finden, glauben wir oft, dass sie wahr sind. Dazu gehören auch Storys wie: „Ich muss fleißig sein, um geliebt zu werden“, oder „Ich bin dümmer als andere“, oder „Ich bin nicht schön genug“, oder „Ich kann das nicht“, oder „Ich bin einfach ein schlechter Mensch“ oder viele mehr. Wer schon mal versucht hat, an sich zu arbeiten, um solche „Glaubenssätze“, wie man sie auch nennt, loszuwerden, weiß, wie schwierig das ist. Eindrücke, Erfahrungen, Glaubenssätze hinterlassen Spuren in unserem Gehirn. Das zeigt vor allem eins: Es macht einen Unterschied, in welcher Umgebung wir leben, was wir hören, was wir sehen – und was wir lernen. Einmal (unbewusst) Gelerntes ist nicht einfach so wieder herauszubekommen. Es geht – aber es bedarf eines Willens und bewusster Anstrengung.

Die Zivilgesellschaft muss umdenken

Auch deswegen ist das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit unverzichtbar, genauso wie staatliche Programme und Förderungen. Zum einen bieten sie eine Anlaufstelle für Menschen, die den Willen haben, neue Sichtweisen zu erlernen und etwas zu verändern. Zum anderen stabilisieren sie die gesellschaftliche Umgebung: Denn je mehr Menschen die erlernten Denkmuster in Frage stellen, umso größer ist in den verschiedenen gesellschaftlichen Räumen – Arbeitsplatz, Familie, Sportverein, Parteien – die Wahrscheinlichkeit, dass individuelle rassistische Denkmuster nicht zu gesellschaftlichen und strukturellen Rassismen werden.

Viele Menschen, Organisationen und Unternehmen nutzen die Infrastruktur und das Wissen des zivilgesellschaftlichen Engagements, um sich über die Mechanismen von Menschenfeindlichkeit zu bilden. Das schützt nicht nur von Rassismus und anderen Formen der Menschenfeindlichkeit betroffene Menschen, sondern stärkt nachhaltig demokratische Resilienz. Die jahrzehntelange Arbeit der Zivilgesellschaft in Deutschland war und ist zentral für die Bewusstwerdung und den Abbau rassistischer Denkmuster – und damit für die Entwicklung und Weitergabe demokratischen Wissens. Denn Vielfalt und der Schutz von Minderheiten sind wichtige Säulen von Demokratien.

Und dennoch: Die Zivilgesellschaft kann nicht all das auffangen, was strukturell verankert wird. Sie ist ein Faktor von vielen und hat es zunehmend schwer, gegenzusteuern, wenn Rassismus in einer Gesellschaft normalisiert ist. Menschen, die in einer Gesellschaft leben, in der es eine dominierende Gruppe auf der einen Seite und ethnische Minderheiten auf der anderen Seite gibt, werden rassistische Denkmuster aufnehmen. Je mehr, umso stärker sind diese Denkmuster in dieser Gesellschaft verankert.

Das soziale Umfeld ist unser Rassismus Schmied

Die Frage ist nun, was mit diesen Denkmustern „gemacht“ wird. Und da ist eines, wie bereits erwähnt, ganz entscheidend: das Umfeld.

Dazu schreibt der Sozialpsychologe und Rassismus-Forscher Andreas Zick: „Nicht immer mündet Rassismus in eine Diskriminierung. Die Forschung gibt wichtige Hinweise, wann Einstellungen wie Rassismus zu Verhaltensweisen führen. Wesentlich ist zum Beispiel, ob das soziale Umfeld einer Person den Rassismus als normativ angemessen betrachtet oder sogar gutheißt. Hält das Umfeld konsequent die Norm aufrecht, dass Rassismus unerwünscht ist, hemmt das die Ausbildung von rassistischer Diskriminierung.“ Wächst beispielsweise ein Kind in einer Familie auf, in der, ob offen oder eher nebenbei, rassistische Kommentare fallen, abfällig über Menschen gesprochen wird – oder auch, wenn das Kind beobachtet, dass in der eigenen Umgebung bestimmte Menschen schlecht behandelt werden, dann wird es das höchstwahrscheinlich ebenfalls erlernen.

Ein weiteres Beispiel für den Einfluss der Umwelt auf unsere Wahrnehmung: In einer Studie der University of Washington zeigten Forscher:innen Kindern im Vorschulalter Videos, in denen eine erwachsene Frau zwei andere Personen begrüßt. Die Frau begrüßt eine der Personen mit einem Lächeln, lehnt sich zu ihr, spricht mit warmer Stimme und gibt ihr ein buntes Geschenk in die Hand. Bei der Begrüßung der anderen Person hat sie eine finstere Miene, lehnt sich von ihr weg, spricht mit kalter Stimme und gibt ihr nur widerwillig das Geschenk. Nachdem die Kinder das Video gesehen hatten, wurden sie gefragt, welche Person sie lieber mögen. 75 Prozent der Kinder mochten die Person lieber, die gut behandelt wurde. Auf die Frage, wem sie lieber das bunte Geschenk geben wollten, zeigten 69 Prozent der Kinder ebenfalls auf die Person, die nett behandelt wurde.

Die (unbewusste) Schlussfolgerung der Kinder: Wenn du gut behandelt wirst, bist du ein guter Mensch. Wenn du schlecht behandelt wirst, bist du ein schlechter Mensch. Wenn in einer Gesellschaft bestimmte Menschen oder Menschengruppen konsequent als schlecht, nutzlos, kriminell oder mit anderen als negativ wahrgenommenen Eigenschaften beschrieben werden, kann man sich vorstellen, welche Auswirkungen das bis auf die individuelle Ebene hat.

Kritik an Rassismus fängt bei einem selbst an

Gerade weil wir derart von unserer Umgebung, von der Gesellschaft und den Strukturen, in denen wir leben, beeinflusst sind, soll es in diesem Buch nicht um den „individuellen“ Rassismus gehen. Sondern um die Strukturen, die unsere Gedanken und unser Handeln formen. Zwar ist das individuelle Tun, die Arbeit jedes Menschen an sich, mit oder ohne Hilfe durch das Umfeld oder die Zivilgesellschaft, wichtig. Gleichzeitig: Wenn Menschen sich verändern möchten, müssen sie das wollen. Sie müssen sich Informationen holen wollen, bereit sein, Denkmuster zu verändern – sie müssen wortwörtlich Nervenbahnen verändern.

Buchcover von Gilda Sahebi. Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse Deutscher Debatten. Fischer Verlag, erschienen am 30. März 2024, 26 Euro.

Gilda Sahebi: Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse deutscher Debatten. Fischer Verlag, erschienen am 30. März 2024, 26 Euro. Fischer Verlag

Dann besteht Offenheit für Gespräche, für einen Austausch und für Veränderung. So eine Veränderung geschieht nur selten durch Druck oder gar Zwang. Die berühmte „Wählerbeschimpfung“ führt in der Regel nicht dazu, dass die Beschimpften plötzlich „aufwachen“ und es bereuen, menschenfeindlich eingestellte Parteien gewählt zu haben. Ein Faktor ist also in Zusammenhang mit dem kollektiven Rassismus nicht nur der einzelne Mensch – der selbst, wie beschrieben, Rassismus erlernt – sondern auch die Gesellschaft, in der er lebt. Diese bestimmt mit, welche Denk- und Verhaltensstrukturen Menschen entwickeln.

Das entbindet natürlich den einzelnen Menschen, der rassistische Handlungen ausführt oder andere verletzt, nicht von Verantwortung und Schuld, im Gegenteil. Denn die gesellschaftliche Verankerung und Normalisierung von Rassismus, so stark sie auch ist, spricht den einzelnen Menschen nicht von seiner Verantwortung frei. Menschenfeindliche Parteien zu wählen, Menschen rassistisch zu beleidigen, zu verletzen, gar zu töten: Am Ende sind es Individuen, die entscheiden, rassistisch zu handeln. Die Verantwortung für ihre Handlungen liegt allein bei ihnen.


Redaktion: Astrid Probst, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Wer rassistisch denkt, ist nicht unbedingt böse

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