Deutschland ist ein Land voller Kartoffeln. Das Gefühl bekomme ich, wenn ich zu Generationenkonflikten recherchiere. Ich habe Dutzende Artikel über Generationen und worüber sie streiten gelesen – und sogar einen Text darüber geschrieben. Über migrantische Perspektiven habe ich dabei kaum etwas erfahren.
Mehr als 13 Millionen Kinder und Jugendliche haben in Deutschland einen sogenannten Migrationshintergrund. Ihre Generationenkonflikte werden kaum wahrgenommen. Deswegen habe ich mit drei Menschen gesprochen, die selbst oder deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind. Ich habe sie gefragt: Welche Fragen, Probleme, Konflikte beschäftigen sie?
Ihre Geschichten erzählen viel über Deutschland, ihre Herkunftsländer und den Raum, der dazwischen entsteht.
In den Gesprächen habe ich gelernt: Diese Konflikte entstehen, weil in Deutschland immer noch nicht alle Menschen die gleichen Startchancen haben. Migrant:innen und ihre Kinder sind häufiger als andere armutsgefährdet und haben weniger Erfolg in der Schule. Diese Benachteiligungen schüren Konflikte in migrantischen Familien. Anders als bei der Boomer gegen Gen Z Debatte, werden migrantische Generationenkonflikte nicht von den Medien, Unternehmensberatern oder der Popkultur konstruiert.
„Ich kann kaum noch mit meiner Mutter über ihre Vorurteile diskutieren, ohne aggressiv zu werden“
Joma Capivara, 33 Jahre alt
2013 besuchten mich meine Eltern das erste Mal in Deutschland, da wollte ich ihnen mein neues Leben zeigen. Zum Beispiel, dass ich in Deutschland abends sicher ausgehen kann. Und Zug fahren kann. Beides geht in Brasilien nämlich nicht: Dort gibt es keine Passagierzüge. Abends beim Busfahren oder an Haltestellen wurde ich in meiner Heimat schon oft belästigt. In Deutschland passiert das auch manchmal, aber nicht so häufig wie in Brasilien.
Meine Mutter und ich waren in Hamburg unterwegs und was ihr gleich auffiel: In Deutschland tragen einige Frauen ein Kopftuch. Für uns Brasilianer:innen ist die islamische Welt ein großes Fragezeichen. Es gibt kaum Muslim:innen in Brasilien, da sind fast alle katholisch. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass das hier normal ist. Meine Mutter sagte dann: Wenn jetzt alle nach Deutschland kommen, wird Deutschland seine Identität verlieren. Das hat mich so wütend gemacht. Ich bin doch auch Migrantin! Und Migration ist ein Menschenrecht! Aber das konnte sie nicht verstehen. Vielleicht wollte sie es auch nicht.
Ich komme aus Curitiba, einer Großstadt am südlichen Zipfel Brasiliens. Als ich 2013 mit einem Stipendium nach Deutschland kam, war ich schockiert von den Möglichkeiten, die ich plötzlich hatte. Hier kann ich genug Geld zum Leben verdienen und sogar etwas davon nach Hause schicken zu meinen Eltern. Mit dieser finanziellen Sicherheit konnte ich in Brasilien nie rechnen. Ich hatte immer Probleme, einen gut bezahlten Job zu finden. Meine Eltern haben ihr ganzes Leben gearbeitet. Trotzdem hat das Geld nie gereicht, um ein Haus zu kaufen. Und das, obwohl wir Teil der Mittelschicht in Brasilien sind.
Weil mein Stipendium auslief, musste ich nach einem Jahr zurück nach Brasilien, in das Haus meiner Eltern. Eigentlich wusste ich aber damals schon: Ich will hier nicht mehr wohnen. Auch meine Eltern haben zu mir gesagt: Was hält dich noch hier? In Brasilien ist alles schlecht, geh bloß zurück nach Deutschland!
Also bin ich 2015 endgültig nach Deutschland gezogen und habe ein Studium der Holzwissenschaften angefangen und später promoviert. In dieser Zeit habe ich die linke Szene in Hamburg entdeckt und bin einem Frauenkollektiv mit Fokus auf Südamerika beigetreten. Wir organisieren Diskussionen zu feministischen Themen und zu Migration. Mir war es wichtig, meine Erfahrungen mit anderen Frauen teilen zu können, die auch nach Deutschland migriert sind. Kurz gesagt: Ich bin ein politischer Mensch geworden – ganz anders als meine Eltern, die keine Akademiker sind und sich kaum für Politik interessieren.
Bei uns Zuhause hat niemand Zeitung gelesen. Und als ich geboren wurde, war meine Mutter gerade 18 Jahre alt. Da war sie nicht mal fertig mit ihrem Studium. Sie hatte in Brasilien einfach nie die Möglichkeiten, die ich jetzt hier in Deutschland habe.
Und dann besuche ich nach zehn Jahren in Deutschland meine Eltern in der Heimat, mit einem Doktortitel, politisch aufgeklärt und aktiv, als Feministin mit einem Frauenkollektiv. Meine Eltern haben gar nicht mehr verstanden, wer ich bin. Vor allem meine Mutter sagte Dinge wie: „Okay, du bist jetzt Feministin. Was bedeutet das? Willst du jetzt nicht mehr feminin aussehen?“ Für diese Gespräche habe ich einfach keine Geduld. Ich kann kaum noch mit meiner Mutter über ihre Vorurteile diskutieren, ohne aggressiv zu werden. Ich finde einfach keinen Weg, dabei ruhig zu bleiben.
Meine Mutter kann auch nicht nachvollziehen, dass für mich in Deutschland, trotz aller Vorteile, auch nicht immer alles toll ist. Mir sagen manche Leute offen ins Gesicht, dass sie es nicht gut finden, dass ich hier bin. Für meine Mutter ist Deutschland trotzdem das tollste Land in ganz Europa. Sie versteht die Erfahrungen nicht, die ich als Migrantin in Deutschland mache.
Über die letzten Jahre ist die Distanz zwischen meinen Eltern und mir immer größer geworden. Vielleicht denken meine Eltern, dass ich mich für etwas Besseres halte, weil ich es nach Deutschland geschafft habe. Dabei haben sie doch immer gesagt: Nutze alle deine Chancen, selbst wenn das heißt, dass du Brasilien verlassen musst! Und dann waren sie total enttäuscht, als ich wirklich gegangen bin.
„Irgendwo zwischen Deutschland und Ecuador muss ich meinen Platz finden“
Valeria, 34 Jahre alt
Ich bin jetzt Mitte 30. So langsam merke ich: Meine Mutter würde sich freuen, wenn ich heiraten und eine Familie gründen würde. Denn unserer Verwandtschaft in Ecuador ist nicht nur beruflicher Erfolg sehr wichtig. Besonders für die älteren in der Familie gehört es dazu, eine Familie zu gründen, ein Auto zu haben, ein Haus zu bauen. Wenn wir Kinder das nicht schaffen, fällt das auch auf unsere Eltern zurück. Meine Mutter hat diese Erwartungen selbst zu spüren bekommen. Sie ist früh von zuhause ausgezogen. Und das, obwohl der Druck auf Frauen damals noch viel größer war, erst zu heiraten und dann Kinder zu bekommen.
Ich war 13 Jahre alt, als meine Familie und ich aus Ecuador nach Deutschland gekommen sind. Mittlerweile lebe ich seit 20 Jahren hier. Ein großer Teil unserer Verwandtschaft ist noch in Ecuador. Deswegen habe ich eine enge Verbindung zu dem Land. Das beeinflusst auch mein Leben hier, denn irgendwo zwischen Deutschland und Ecuador muss ich meinen Platz finden.
Ich habe einige Jahre in einer Anlaufstelle für Sexarbeiterinnen und Frauen, die Drogen konsumieren, gearbeitet. Als ich ein Burnout hatte und sieben Monate krankgeschrieben war, wurde mir klar: Soziale Arbeit ist nicht das Richtige für mich. Also habe ich mir ein Jahr Zeit genommen, um mich beruflich neu zu orientieren. Ich habe in der Zeit Leistungen vom Arbeitsamt bezogen, Praktika bei der taz und einem Fernsehsender gemacht und mich als Autorin weitergebildet. Danach war mir klar: Ich möchte Journalistin werden. Diese Orientierungsphase hat meinen Eltern viele Sorgen gemacht, auch wenn sie mich grundsätzlich unterstützt haben. Vor alle meine Mutter hat sich selbst nie so viel Zeit für die Jobsuche nehmen können. Hauptsache, sie hatte eine Arbeit. Meine Mutter hat uns Kindern beigebracht: Wenn ihr in Deutschland erfolgreich sein wollt, müsst ihr euch durchbeißen. Ihr müsst alles geben und immer die Besten in der Schule sein!
Meine Mutter hat zum Beispiel in Deutschland ihre Ausbildung zur Kinderpflegerin durchgezogen, obwohl sie große Schwierigkeiten mit der Sprache hatte. Da habe ich Respekt davor. Ich glaube, dabei hat sie auch gelernt, dass sie bloß keine Schwäche zeigen darf. Sie hat lange nicht verstanden, warum es für mich wichtig war, einen Job zu finden, der mir Spaß macht – und dass der Weg dahin nicht immer geradlinig ist.
Trotzdem würde ich es ihr niemals übel nehmen, dass sie diesen Leistungsgedanken an mich weitergegeben hat. Sie hat geglaubt: Nur so schafft man es in Deutschland. Und irgendwie hat sie auch Recht: Bei mir denken die Leute viel schneller, dass ich schlechter Deutsch spreche oder weniger kann, als andere. Als Migrant:in muss ich immer besser sein als die Besten hier in Deutschland.
„Mir ist es wichtig, mit meinem Vater über Männlichkeit zu sprechen“
Anıl, 31 Jahre alt
So viele Dinge aus dem Leben meines Vaters sind mir fremd. Er stammt aus einem Dorf in Westanatolien in der Nähe von Antalya. Mit Anfang 20 hat er geheiratet und musste schon früh Verantwortung für seine Familie übernehmen. Als er ungefähr 30 Jahre alt war, ist er aus politischen Gründen aus der Türkei nach Deutschland geflohen. Als ich geboren wurde, war er Anfang 40. Jetzt bin ich bin 31, also in dem Alter, als er geflohen ist. Ich führe ein hippes Großstadtleben in Berlin und muss noch keine Familie ernähren. Das sind nur die offensichtlichen Unterschiede zwischen meinem Vater und mir. Doch es gibt noch so viele mehr – diese Kluft spüre ich.
Ich bin Autor und habe mich für meine Arbeit viel mit Feminismus und Männlichkeit auseinandergesetzt: mit meiner eigenen und der meines Vaters. Denn über migrantische Männer gibt es viele Klischees. Sie seien aggressiv, respektlos gegenüber Frauen oder herrschsüchtig, heißt es oft. Darum ging es mir nicht. Ich wollte eher verstehen: Was hat die Migration nach Deutschland emotional mit meinem Vater gemacht?
Wir haben gar keinen handfesten Konflikt miteinander. Unsere Gespräche sind eher ein liebendes Suchen nacheinander. Es geht mir um eine funktionierende Beziehung zu meinem Vater.
Mein letztes Buch habe ich über türkisch-muslimische Männlichkeit geschrieben. Es ging darum, wie männlich und türkisch sein zusammen funktionieren, ganz ohne Klischees. Für die Recherche haben mein Vater und ich viel miteinander gesprochen. Dabei haben wir uns auch an das Thema Männlichkeit herangetastet: Was bedeutet das eigentlich? Was bedeutet Mann sein für ihn?
Ja, mein Vater war dominant und streng. Er hat viele Entscheidungen in unserer Familie alleine getroffen. Gleichzeitig gibt es auch sehr viele Risse, Unsicherheiten und Verletzlichkeiten in ihm. Es gab immer auch eine gewisse Zärtlichkeit zwischen uns: Handhalten, Nackenküsse, Poesie oder Musik. Alles Dinge, die nicht klassisch männlich sind. Für mich sind diese Momente auch hochpolitisch, weil sie traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit widersprechen.
Mein Vater hört zum Beispiel gerne türkische Volksmusik. Für mich war das lange nur ein blödes Hobby von ihm. Bis ich mal genauer hingehört habe: Viele Lieder handeln von starken Gefühlen, von Sehnsucht oder Trauer – und von Heimat, Loyalität und Freundschaft. Was ist diese Trauer? Woher kommt diese extreme Verletzlichkeit in den Liedern? Musik ist für meinen Vater das Ventil für die Unsicherheiten und Risse, die in ihm stecken. Erst seitdem ich das erkannt habe, höre ich diese Musik selbst gerne.
Mir ist es wichtig, mit meinem Vater über Männlichkeit zu sprechen. Gleichzeitig wollte ich ihm meine Meinung nicht einfach überstülpen. Sondern an seiner Sensibilität anknüpfen und an unseren Gemeinsamkeiten. Heute hat er nicht mehr so viel Angst vor dem Wort Feminismus. Und ich weiß: Tief drin trägt mein Vater ein linkes Herz in sich. Ein Herz für Gerechtigkeit.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert