Collage: Eine junge Frau, ihr Gesicht ist zweigeteilt: Auf der einen Seite trägt sie ein Kopftuch, auf der anderen Seite nicht.

shapecharge,Amorn Suriyan/Getty Images | Henrik Donnestat/Unsplash

Rassismus und Identität

Protokoll: „Okay, dann bin ich jetzt gar nicht mehr deutsch“

Mit 14 begann Hanan, Kopftuch zu tragen. Je stärker sie dafür ausgegrenzt wurde, desto mehr dachte sie: Jetzt erst recht. Dann legte sie es ab.

Profilbild von Raweel Nasir
KR-Reporterin

Leute sagen mir häufig, oh krass, ich könnte nie mit jemandem befreundet sein, der ein Kopftuch trägt. Mich wundert es, dass sie sich wohlfühlen mir zu erzählen, wie scheiße sie Kopftücher finden. Sie gehen davon aus, dass ich es auch blöd finde, weil ich es nicht mehr trage. Damit machen sie es sich zu einfach.

Mit 14 Jahren zog ich das Kopftuch das erste Mal an und mit 18 das letzte Mal aus. Wie es zum An- und Ausziehen des Kopftuchs kam, erzähle ich dir jetzt. Und ich zeige dir dabei auch, wie anti-muslimisch die deutsche Gesellschaft ist.

Fangen wir bei meinen Eltern an: Mein Vater ist Marokkaner und meine Mutter Deutsche. Zusammen habe ich sie nie erlebt. Sie haben sich getrennt, als ich drei war. Meine beiden Welten, die deutsche und die marokkanische, waren komplett voneinander getrennt. Am Wochenende war ich meistens bei meinem Vater und unter der Woche bei meiner Mutter. Als ich älter wurde, verbrachte ich gleich viel Zeit bei beiden. Ich wechselte erst jede Woche und später dann alle zwei Wochen. Ich hatte zwei Zimmer, zwei Wohnungen, zwei Zuhause.

Mein Vater hat nach der Trennung von meiner Mutter eine Marokkanerin geheiratet, die auch muslimisch ist. Wenn ich bei meinem Vater war, bin ich also muslimisch aufgewachsen. Die Werte, die ich vermittelt bekam, wurden mit der marokkanisch-muslimischen Kultur begründet. Zum Beispiel, dass der Islam eine hohe Priorität im Leben hat.

Bei meiner Mutter war es das komplette Gegenteil. Sie hat nicht noch mal geheiratet und war immer alleinerziehend. Bei ihr bin ich sehr deutsch aufgewachsen. Wenn Leute von ihrer Kindheit erzählen, kann ich mich also sowohl mit Deutsch-Deutschen gut identifizieren, als auch mit Menschen mit Migrationshintergrund und deren Erfahrungen.

Meine Eltern haben sich im Sommer 1994 in Köln in einer Kneipe kennengelernt. Damals war mein Vater noch weniger religiös. Er ist in Marokko aufgewachsen und ist für sein Elektrotechnik-Studium nach Nordrhein-Westfalen gekommen. Meine Eltern kamen zusammen und haben ein Jahr später geheiratet. Fünf Jahre nach der Hochzeit, im Jahr 2000, wurde ich geboren. 2004 trennten sie sich, da war ich drei Jahre alt. 2005 haben sie sich scheiden lassen.

Als Kind verwirrte es mich ziemlich, dass die beiden Welten so getrennt waren. Dadurch wurde mein Wunsch nach Zugehörigkeit noch größer.

Ich wollte einer der beiden Welten komplett angehören

Da meine Eltern nach der Scheidung keine gute Verbindung zueinander hatten, war Religion in meinem Leben immer ein Streitthema. Sie hatten bereits vor der Scheidung nicht die gleichen Werte geteilt, aber als mein Vater religiöser wurde, wurden die Unterschiede bezüglich meiner Erziehung noch größer. Auf der einen Seite stand meine feministische Mutter und auf der anderen mein konservativer Vater. Ein bisschen klischeehaft, aber so war es eben. Meine Mutter hat den Hijab nicht abgelehnt, fand ihn aber auch nicht cool. Und mein Vater hat mich nicht gezwungen, ihn zu tragen, aber es war klar, dass er sich wünscht, dass ich ihn tragen würde.

Die unterschiedlichen Weltanschauungen der beiden wirkten sich auch auf meine Grundschulzeit aus. Weihnachten zu feiern, war ein ganz schwieriges Thema. Mein Vater wollte das nicht. Der fand alles, was ansatzweise mit Weihnachten zu tun hatte, schrecklich. Genauso bei Karneval und allen anderen deutschen Festen. Karneval ist ja nicht mal religiös, aber halt westlich.

Irgendwann kam ich in die Pubertät und meine Identitätsprobleme wurden größer. Ich wollte es für mich persönlich einfach geklärt haben: Wer bin ich? Wo gehöre ich eigentlich hin? Für mich war dieses Gefühl der Zerrissenheit zwischen den beiden Kulturen unangenehm.

Meinem Vater musste ich beweisen, dass ich nicht zu deutsch bin. Meiner Mutter, dass ich deutsch genug bin

Mit 14 Jahren entschied ich, das Kopftuch anzuziehen. Das war keine bewusste Entscheidung. Ich habe es einfach angezogen, weil ich dachte, das finde ich jetzt gut. So war ich als 14-Jährige, ich habe gerne extreme Entscheidungen getroffen. In den nächsten Tagen bekam ich viel positives Feedback, weil ich da gerade bei meinem Vater war. Sowohl mein Vater als auch die anderen aus der Community spiegelten mir, dass das eine gute Entscheidung war.

War ich bei meinem Vater, hatte ich das Gefühl, dass ich beweisen musste, dass ich nicht zu deutsch war. Denn das war in der Community von meinem Vater nichts Gutes. Auf der anderen Seite hatte ich bei meiner Mutter auch manchmal das Gefühl, dass ich beweisen musste, dass ich deutsch genug war. Daraus entstand ein riesiger Frust bei mir, der mich dazu führte zu sagen: Okay, dann bin ich jetzt einfach gar nicht mehr deutsch.

Ich habe das Kopftuch fast ein ganzes Schuljahr getragen, bis ich im Sommer wieder anfing zu grübeln. Da war ich 15 Jahre alt. Ich legte das Kopftuch in den Sommerferien wieder ab. Ich hinterfragte plötzlich alles von dem, was mir beigebracht wurde. Nicht nur Religiöses – auch allgemein: Ich wusste nicht mehr, wer ich bin und wer ich sein wollte.

Während der Sommerferien hatte ich wenig Kontakt mit meinem Vater. Noch bevor das nächste Schuljahr losging, merkte ich aber, dass mir der Glauben fehlte. Er gab mir Struktur und ein Gefühl von Identität. Das war für mich als Teenie super wichtig. Im Islam gibt es über den Tag hinweg fünf Gebete, die den Tag strukturieren. Diese gewohnten Muster aufzugeben, hat sich nicht gut angefühlt.

Also fing ich nach den Sommerferien wieder an, den Hijab zu tragen. Da war ich gerade 16.

Ich habe das Kopftuchtragen damals sehr streng ausgelegt. Niemand hat mich dazu gezwungen. Ich fand es sinnvoll und richtig. Das ist mir wichtig zu betonen, weil es gerade im deutschsprachigen Kontext viele anti-muslimische Stereotypen gibt. Zum Beispiel, dass alle Frauen, die ein Kopftuch tragen, dazu gezwungen werden und extrem unterdrückt sind.

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Es gibt unterschiedliche Interpretationen und auch unterschiedliche Arten, das Kopftuch zu tragen. Man kann es als Turban wickeln. Es gibt Leute, die sagen, dass man den Hals nicht sehen darf. Dann gibt es Leute, die meinen, man darf nur super weite Hosen tragen oder nur lange Röcke, keine Absatzschuhe und kein Parfüm. Jede Auslegung finde ich in Ordnung. Ich will die nicht bewerten. Aber damals, mit 16 Jahren, wollte ich super gläubig sein. Ich habe nur noch sehr weite Kleidung getragen. Manchmal auch Gewänder, Abayas genannt, und viele lange Röcke.

Ich fühle mich schneller sexualisiert und vertraue Männern weniger

Damit ging ein ganzer Lifestyle einher. Mein Vater war sehr streng, wenn es um das Thema Jungs ging. Einmal ging ich mit einem meiner Freunde durch die Innenstadt. Wir mussten zum Sportunterricht und unsere Schule nutzte zu dem Zeitpunkt eine andere Turnhalle. Ein Freund von meinem Vater sah mich mit dem Freund und rief meinen Vater sofort an. In dieser Woche war ich bei meiner Mutter und als ich abends mit meinem Vater telefonierte, bekam ich Ärger. Das fand ich damals ziemlich ungerecht, denn zwischen uns war ja nichts (der Freund steht übrigens sowieso nicht auf Frauen). Es war auch nicht so, als hätten wir uns privat getroffen. Von da an wusste ich, dass ich bei sowas besser aufpassen muss. Solche Erlebnisse haben mein Verhältnis zu Männern stark geprägt. Manchmal bis heute.

Mir wurde früher erzählt: Wenn ein Mann und eine Frau, die weder verheiratet noch verwandt sind, sich in einem Raum befinden, sei noch jemand Drittes anwesend, nämlich der Teufel. Heute glaube ich sowas natürlich nicht mehr. Aber damals habe ich diese komische Sexualisierung jeder möglichen Interaktion zwischen Männern und Frauen nicht hinterfragt.

In der Art und Weise, wie mir der Islam vorgelebt und beigebracht wurde, hieß es, die Frau ist die größte Verführung für den Mann. Deswegen soll sie sich bedecken. Frauen wurden auch oft mit Süßigkeiten verglichen und es wurde gesagt, man wolle ja auch keine unverpackte Schokolade essen. Diese misogynen Sätze schwirren ganz tief unten in mir manchmal immer noch herum, wenn ich zum Beispiel kurze Kleidung trage. Ich fühle mich schneller sexualisiert und reagiere sensibler auf Bemerkungen oder potenzielle Flirts als andere Frauen. Ich vertraue Männern auch weniger, weil ich denke, dass sie immer irgendeinen Hintergedanken haben.

Ich bekam ständig das Gefühl vermittelt, ich gehöre nicht zur Mehrheitsgesellschaft

2015 wurde das Thema Islam durch die sogenannte Flüchtlingskrise plötzlich überall in den Medien diskutiert. Im Philosophieunterricht in der Schule haben wir andauernd darüber gesprochen. Ich hatte das Gefühl, dass ich die ganze Zeit meine Identität gegenüber Mitschüler:innen und Lehrer:innen verteidigen muss.

Einmal hatte ich mit einem Nachbarn eine ziemlich schlimme Diskussion. Er meinte, dass Frauen, die sich so verhalten wie ich, ja nicht richtig integriert seien. Durch solche Gespräche bekam ich ständig das Gefühl vermittelt, dass ich nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft bin. Das ist deshalb interessant, weil ich rein vom Aussehen schon als Deutsche durchgehen kann. Oder zumindest so, dass die Leute denken: „Oh, exotisch. Und nicht: ‘Oh, Terroristin’“.

Gerade weil ich zu dieser Zeit aufgrund der politischen Lage so viel diskutieren musste, dachte ich irgendwann: Fuck you, dann will ich gar nicht dazugehören. Ich zog mich noch stärker in die Religion und in die Welt meines Vaters zurück. In dieser Zeit fühlte es sich auch richtig gut an, das Kopftuch zu tragen, weil ich richtig Bock hatte, nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft gesehen zu werden.

Meine Oma mütterlicherseits fand das Kopftuch schrecklich und hat mir das deutlich gezeigt. Wenn ich bei ihr war, hat sie mir ins Gesicht gesagt, dass sie findet, dass ich damit nicht gut aussehe und dass sie es schlecht findet, dass ich es überhaupt trage.

Als ich mich in einer Bäckerei beworben habe, wurde mir gesagt: „Wir würden Sie einstellen, aber nicht mit einem Kopftuch“. Das ist ein Scheiß-Gefühl für eine 17-Jährige. In der Bahn wurde ich blöd angemacht und auf der Straße wurde mir hinterher geschrien „Integrier dich mal” oder „Scheiß Ausländer“. Ich lebte in Köln, als diese Dinge passiert sind. Man denkt doch, dass Köln eine weltoffene Stadt ist, zumindest im Vergleich zu einem Dorf in Sachsen. Und ich spreche sogar akzentfrei Deutsch. Ich war also unter den Hijab-tragenden Frauen gewissermaßen privilegiert.

Ich wollte kein Doppelleben mehr führen. Ich wollte überall ich selbst sein

Als ich 18 Jahre alt war, entschied ich mich, das Kopftuch nicht mehr zu tragen. Dabei haben viele Faktoren eine Rolle gespielt. Einerseits fing ich durch Social Media an, mich mit Themen wie Diversität auseinanderzusetzen und stellte fest, dass mir Werte wie Offenheit und Toleranz sehr wichtig sind. Diese standen aber im Gegensatz zu den Werten, die ich von einer Hälfte meiner Familie vermittelt bekam.

Höchstwahrscheinlich hat das Älterwerden auch eine Rolle gespielt. Ich hinterfragte vieles, was ich als Kind und als Teenie vermittelt bekommen hatte. Nach dem Abi lernte ich andere Menschen kennen, die Werte hatten, die ich interessant fand. Ich wollte neue Dinge ausprobieren und hatte keine Lust mehr, mich Verboten auszusetzen. Ich wollte Drogen ausprobieren und Jungs kennenlernen.

Während der gesamten Zeit, in der ich das Kopftuch trug, durfte ich bei meiner Mutter machen, was ich wollte. Aber ich wollte kein Doppelleben mehr führen. Ich wollte überall ich selbst sein.

Die Konflikte mit meinem Vater gingen los. Ich fragte mich, was muss ich tun, damit ich mir selbst den Weg zurück verbaue? Und das tat ich dann: Ich hatte einen Freund, ich ging feiern und zog nicht mehr so weite Kleidung an. Als mein Vater davon erfahren hat, rief er mich an und beleidigte mich als Schlampe. Er sagte, ich soll wieder den Hijab anziehen und wollte, dass ich mehr Zeit bei ihm verbringe. Ich tat alles, um nie wieder von der Community akzeptiert zu werden.

Nachdem ich das Kopftuch abgenommen habe, habe ich ein Jahr bei meiner Mutter gewohnt. In der Zeit hatte ich nur sporadisch Kontakt mit meinem Vater, der mit seiner neuen Frau mittlerweile vier Kinder hatte. Meine Geschwister sind einige Jahre jünger als ich. Weil ich mit meinem Vater keinen Kontakt hatte, hatte ich also auch mit ihnen keinen. Mein Vater hatte den Kontakt verboten, je weniger religiös ich wurde. Gesehen habe ich meinen Vater eigentlich nicht, wir haben nur ab und zu telefoniert.

„Boah, krass, hätte ich niemals gedacht, du wirkst so integriert, es passt gar nicht“

Dann habe ich angefangen zu studieren. Ich brauchte seine Unterschrift für mein BaföG und habe deswegen den Kontakt wieder aufgenommen. Als ich ausgezogen bin, zog ich erstmal in ein Studi-Wohnheim. Mit 20 zog ich in eine andere Stadt zum Studieren. Irgendwann habe ich meinem Vater am Telefon erzählt, dass ich einen Freund habe. Er hat nicht gut darauf reagiert und mich sogar am Telefon beleidigt. Daraufhin habe ich den Kontakt zu ihm ganz abgebrochen. Danach ging es mir besser.

Am Anfang habe ich viel mit allen möglichen Leuten über die Beziehung zu meinem Vater geredet, weil mich der Konflikt mit meinem Vater stark belastet hat. Mittlerweile rede ich kaum noch darüber.

Die Reaktionen der Leute sind verschieden, wenn sie hören, dass ich früher mal konservativ-muslimisch gelebt habe. Es war häufig ein: „Boah, krass, hätte ich niemals gedacht, du wirkst so integriert, es passt gar nicht“. Bei einem Arbeitsessen haben neulich alle von ihrem Leben erzählt und von ihren Ehen, dann habe ich erzählt, dass ich mal Kopftuch getragen habe. Meine Kollegin meinte, dass sie nicht mit jemandem befreundet sein könnte, der ein Kopftuch trägt, weil das konträr ist zu ihren Werten und weil sie das Kopftuch so schlimm findet.

Ich habe gesagt, dass es eigentlich schade ist, wenn Menschen sich isolieren von Menschen, die anders sind als sie selbst. Ich hätte mich nie getraut mein Kopftuch abzulegen, wenn mein komplettes Umfeld muslimisch gewesen wäre. Das wäre ja die Konsequenz, wenn alle so denken würden. Dann würden verschiedene Gruppen von Menschen nie miteinander ins Gespräch kommen und abgeschirmt voneinander leben. Es ist wichtig, dass wir Meinungen und Werte austauschen. Sonst haben Menschen auch nie die Chance, etwas anderes kennenzulernen und aus ihrer Bubble auszubrechen.

Nehmen wir mal an, du gehst wirklich davon aus, dass alle Frauen, die ein Hijab tragen, unterdrückt sind, dann ist die Lösung doch nicht, diese Frauen aus der Gesellschaft auszugrenzen. Wenn es dir wirklich um Gleichberechtigung geht, solltest du diese Frauen erst recht noch mehr in die Gesellschaft einbinden. Du solltest ihnen mehr Möglichkeiten geben, sie sollten Lehrerinnen und Richterinnen werden können. Du solltest ihnen die Möglichkeit geben, finanziell unabhängig zu sein.

Nur, weil ich das Kopftuch nicht mehr trage, finde ich es nicht generell scheiße. Scheiße finde ich vor allem, wie unterschiedlich ich behandelt werde, je nachdem, ob ich es trage oder nicht.


Hanan heißt in Wirklichkeit anders. Ihr echter Name ist der Redaktion bekannt.


Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Astrid Probst, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger

„Okay, dann bin ich jetzt gar nicht mehr deutsch“

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