Collage: Adorno und Marx verkleidet als hippe linke Studierende vor einem vollen Hörsaal

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Rassismus und Identität

Für sie ist Anti-Rassismus hip, für mich überlebenswichtig

Weiße Akademiker:innen setzen sich gerne für Diversität ein. Dabei geht es ihnen mehr um sich selbst als um die Betroffenen.

Profilbild von Raweel Nasir
KR-Reporterin

Eigentlich habe ich kein Problem, mich in Seminaren zu melden. Aber manchmal passiert es, dass es für mich so anstrengend ist, dass meine Stimme zittert und ich mich ständig verhaspele. Das liegt dann am Thema oder der Atmosphäre im Raum. Wenn ich mich unter solchen Bedingungen zu Wort melde, ist das ein Zeichen, wie wichtig mir das Thema ist.

So war es auch an einem Vormittag in der TU Berlin. Ein mittelgroßer Seminarraum im 7. Stock im schicken Neubau, knapp 30 Leute waren gekommen, um darüber zu sprechen, wie der Kapitalismuskritiker Karl Marx das Thema Rassismus behandelt hat. Viele trugen geblümte Hemden, die Hälfte hatte einen Nasenring und trank Kaffee aus wiederverwertbaren Bechern. Alle waren weiß – bis auf mich.

Zur Grundlage für die Diskussion diente ein Text des Combahee River Collectives, einem US-amerikanischen Kollektiv, bestehend aus Schwarzen Frauen. Alle im Seminar waren sich einig: Rassismus ist ein ernst zu nehmendes Problem. Ebenfalls waren sich alle einig, dass Rassismus eine Leerstelle in der klassischen marxistischen Theorie und Rezeption bildet. Trotzdem kam in mir ein Gefühl auf, welches ich schon öfter in den Seminaren der Geistes- und Kulturwissenschaften hatte, wenn es um Rassismus geht. Zuerst war ich irritiert, dann wütend.

In den vergangenen Jahren erfreuen sich Themen wie Anti-Rassismus (noch besser verkauft sich „Diversity“) immer größerer Beliebtheit. Da ich sieben Jahre lang Gender Studies studiert habe, weiß ich: Besonders populär ist das Thema Rassismus und Anti-Rassismus im weißen Bildungsbürgertum und bei weißen Studis der Sozial- und Kulturwissenschaften.

Das klingt erstmal positiv. Und doch gibt es dabei mehrere Probleme. Denn gerade diese Menschen reden meistens am eigentlichen Problem vorbei. Für Menschen wie mich, die von Rassismus betroffen sind, ist das frustrierend. Und echte Veränderungen bleiben aus.

In ihrer Bubble ist es hip, sich mit Rassismus zu beschäftigen, nicht überlebenswichtig wie für uns

Auf mich wirkt es oft wie eine Modeerscheinung, wenn sich weiße gutbürgerliche Menschen mit Rassismus auseinandersetzen. Es ist cool für sie, nicht überlebenswichtig wie für Menschen wie mich. Ich habe diesen Eindruck, weil sie ihren antirassistischen Aktivismus so praktizieren, wie es in ihren Lifestyle passt – und solange es bequem ist.

Zum Beispiel kochen regelmäßig Sprachdiskussionen hoch, also welche Wörter man nicht mehr verwenden sollte, weil sie nicht politisch korrekt sind. Aber wer vormittags im Büro argumentiert, dass das N-Wort diskriminierend ist, geht nicht unbedingt abends auf eine Demo gegen die rassistische Abschiebepolitik der Ampelregierung.

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Als ich zum Beispiel ein Seminar zu Autobiografien von Schwarzen Menschen in den USA belegte, dachte ich, dass die Studierenden, die so leidenschaftlich und elaboriert über die Unterdrückung von Schwarzen Menschen sprachen, auch auf die Black-Lives-Matter Proteste gehen wollten. Doch als ich die Flyer mit ins Seminar brachte, reagierte niemand.

Dabei lässt mich der Gedanke nicht los, dass sie am Ende nur vermeiden wollten, als rassistisch bezeichnet zu werden. Sie betreiben eine Art Feel-Good-Antirassismus. Es geht ihnen also mehr um sich selbst und nicht um die Personen, die tatsächlich von Rassismus betroffen sind.

Einmal war ich mit weißen Kommiliton:innen in Berlin-Neukölln Falafel essen. Sie sprachen über das N-Wort in den „Pippi Langstrumpf“-Büchern. Für mich war das eine paradoxe Situation: Meine Kommiliton:innen sprachen in theoretischen und komplexen Sätzen über Rassismus, während wir gerade in einem Viertel saßen, das als „Brennpunktviertel“ gilt – in dem also viele Menschen von Rassismus betroffen sind. Manchmal denke ich, sie schaffen es nicht, den Bezug herzustellen von theoretischem Wissen über Rassismus zu echten Menschen, die davon betroffen sind.

Es ist traurig, dass sie einen akademischen Text besser verstehen, als das Unbehagen einer Person neben ihnen

Zurück zum Seminar über Rassismus und Karl Marx: Ein Raum voller weißer Menschen, die über Rassismus reden, ist nicht per se positiv. Es verunsichert mich, wenn die weiße Mehrheit so über das Thema spricht, als wäre keine von Rassismus betroffene Person anwesend. Oder als fände Rassismus nur in einem anderen Land statt, sodass man den Rassismus im eigenen Land, von dem man selbst profitiert, nicht angehen muss.

Meine Komiliton:innen gingen richtigerweise darauf ein, dass Marx die Sklaverei unzureichend in seine Analyse eingebunden hat oder wie Schwarze Menschen in den USA unter Polizeigewalt leiden. Aber sie schafften es nicht zu benennen, dass es Rassismus auch in Deutschland gibt und wie es sein kann, dass sie nur von weißen Menschen umgeben sind.

Als einzige nicht-weiße Person im Raum fühlte ich mich unwohl und ohnmächtig. Trotzdem wollte ich unbedingt etwas dazu sagen. Ich hatte, wie so oft, das Gefühl, meine weißen Zuhörer:innen vor den Kopf zu stoßen, weil sie denken, dass sie sich ausreichend mit Rassismus beschäftigt haben. Und das ist ein bisschen traurig. Dass sie einen akademischen Text besser verstanden, als das Unbehagen einer Person neben ihnen: mein Unbehagen.

In meiner Meldung, die vor allem ein großer Rant war, fing ich an zu sprechen, ohne nachzudenken. In meinem Versuch, möglichst intellektuell zu klingen, geriet ich in Wortnot.

Ich warf ihnen vor, dass sie immer nur von Anti-Schwarzem-Rassismus in den USA sprechen, wie er von den Autorinnen des Textes vor über 40 Jahren kritisiert wurde. Was ist denn mit dem Rassismus hier und jetzt? Ist es nicht ebenfalls rassistisch, dass in diesem Seminar nur Weiße sitzen? Wie kann es sein, dass in einem ganzen Semester zu Kapitalismuskritik nur eine Sitzung für das Thema Rassismus eingeplant ist? Rassismus ist schließlich ein elementarer Bestandteil kapitalistischer Systeme.

Als Reaktion auf meine Meldung folgte betretenes Schweigen. Dann meldeten sich einige und bedankten sich für meinen Beitrag. Doch ich hatte nicht den Eindruck, dass sie wirklich verstanden, woher meine Wut kam. Ich denke, sie waren vor den Kopf gestoßen, weil sie glaubten, gute Anti-Rassist:innen zu sein. Meine Meldung hat für sie einen Alptraum wahr gemacht: nicht „woke genug“ zu sein.

Für Betroffene bedeutet die Beschäftigung mit Rassismus, dass sie ihre eigene Lebensrealität besser verstehen

Es gibt Situationen, in den ich merke, dass die Menschen Rassismus nur aus akademischen Texten kennen. Sie haben ein bestimmtes Sprechen und Denken über Rassismus in ihrer Bubble aufgeschnappt, beispielsweise die Erkenntnis, dass rassistische Polizeigewalt existiert. Das bedeutet aber nicht, dass sie verstehen, wie real diese Angst für Betroffene ist. Es ist eine Angst, die einen immer begleitet, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt.

Schon viel zu oft habe ich erlebt, wie Menschen begeistert Texte zum Thema Rassismus lasen und sich geradezu freuten, wenn sie bestimmte Phänomene verstanden haben. Ungefähr so, als hätten sie das nächste Level in einem Spiel geschafft. Damit hörte ihre Berührung mit dem Thema Rassismus auf. Vielleicht erzählten sie noch enthusiastisch ihrer WG-Küche darüber.

Für Betroffene bedeutet die Beschäftigung mit Rassismus, dass sie ihre eigene Lebensrealität besser verstehen. Und damit erkennen, wie schlimm das System zu einem selbst und den Angehörigen ist. Also zum Beispiel, wenn man seine eigene nicht-weiße Kindheit anschaut und erkennt, wie man in der Schule Rassismus erfahren hat, dies damals aber nicht benennen konnte.

Das merke ich auch jetzt, wenn ich an der Uni Seminare zu Postkolonialer Theorie abhalte. Ich beobachte häufig, wie weiße Studis bestimmte Dinge verstehen und anfangen zu lächeln. Währenddessen schauen die wenigen BIPoC-Studis betreten auf den Boden. Sie nicken zwar zustimmend, aber es ist für sie keine positive Situation.

Bei Rassismus geht es um viel mehr als Hautfarben

Es ist bemerkenswert, welche Ebene von Rassismus in akademischen Kreisen oft kritisiert wird. Die wenigen Schwarzen, Indigenen Menschen und People of Colour, die ich in meinem Studium oder in anderen akademisierten Kreisen getroffen habe, haben meist noch einen weißen Elternteil und wachsen nur unter Weißen auf. Das heißt, es unterscheidet sie wenig von ihrer Familie, außer ihrer Hautfarbe. Aber Rassismus bezieht sich auf viel mehr als nur die Hautfarbe einer Person.

Rassismus äußert sich in Deutschland unter anderem maßgeblich im Bildungsystem. Nicht nur werden Kinder aus migrantischen und nicht-weißen Familien schlechter bewertet als ihre weißen Mitschüler:innen, sie sind auch häufiger von Armut betroffen, machen seltener Abitur oder einen Uni-Abschluss. Wenn sie es dann an die Uni geschafft haben, studieren sie meiner Erfahrung nach keine geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer wie Gender Studies (ich bin hier die Ausnahme!), sondern etwas Handfestes wie Lehramt oder Jura. Denn wer selbst aus prekären Verhältnissen kommt, will lieber etwas mit sicheren Berufsaussichten studieren.

Menschen, die aus Familien kommen, in denen beide Elternteile nicht-weiß sind und die zu Hause kein Deutsch gesprochen haben, deren Eltern nicht akademisiert sind und wenig Geld zur Verfügung haben – solche Menschen habe ich, sowohl an der Uni als auch im Aktivismus kaum getroffen. Solche Menschen schreiben auch seltener Bücher über Rassismus und werden weniger häufig Journalist:in oder Professor:in. Sie kommen im Diskurs über Rassismus also seltener zu Wort.

Die Perspektiven von genau diesen Menschen fehlen im akademischen Kontext. Damit wird dann der Gedanke aufrechterhalten, dass Rassismus „nur“ ein Problem von Hautfarbe ist. Faktoren wie unsicherer Aufenthaltsstatus, Armut und Spracherwerb fallen dabei weg.

Es gibt ein paar Dinge, die wirklich sinnvoll sind im Kampf gegen Rassismus

Wer als weiße Person Rassismus nachhaltig bekämpfen will, sollte sich fragen: Wie leiste ich einen Beitrag, damit Perspektiven von Schwarzen, Indigenen Menschen und People of Colour Eingang in Politik und politische Entscheidungen finden? Wie kann ich eine antirassistische Politik unterstützen, welche die Probleme von BIPoC lösen kann? Eine solche Politik wäre häufig mit der Klassenfrage verknüpft. Anders ausgedrückt: Wer sich wirklich gegen Rassismus einsetzen will, darf sich vor Fragen von ökonomischer Gerechtigkeit nicht drücken.

Es kann helfen, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen: Wie funktioniert Rassismus im heutigen Deutschland? Sind die Artikel und Bücher, die ich zum Thema Rassismus gelesen habe, breit angelegt oder auf einen bestimmten geopolitischen Kontext beschränkt? Wie hängt Rassismus mit anderen Herrschaftsverhältnissen wie dem Patriarchat zusammen?

Es kann auch hilfreich sein, den Kontakt zu nicht-weißen Menschen auf der Arbeit, in der Schule, an der Uni oder im Privatleben zu suchen. Das heißt nicht, dass man sich extra mit Menschen anfreunden soll, die nicht-weiß sind. Aber es kann gewinnbringend sein, über den eigenen Horizont hinaus nachzudenken und das Gespräch mit Betroffenen zu suchen. Es gibt einen guten Spruch im Englischen zu diesem Thema: „When you talk to me, forget that I am Black, but don’t forget that I am Black.“

Eine Frage, die sich alle stellen sollten, ist: Würde ich mich auch mit Rassismus beschäftigen, wenn die Menschen in meiner Umgebung, denen ich gefallen möchte, das nicht tun würden?

Wer das liest und denkt: „Hey, aber das mache ich alles!“, hat meine vollste Anerkennung. Dann freut mich das, wirklich. Aber meiner Erfahrung nach tun das nur sehr wenige Menschen aus der weißen akademischen Blase. Und gerade von ihnen wünsche ich mir, dass sie sich effektiv gegen Rassismus einsetzen.


Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Für sie ist Anti-Rassismus hip, für mich überlebenswichtig

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