Eine Frau läuft aus der U-Bahn-Station Mohrenstraße. Graffiti in roten Farben proklamieren: „Decolonialize the city“

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Rassismus und Identität

Interview: Der Kolonialismus ist noch nicht vorbei

Deutschland hat seit über 100 Jahren keine Kolonien mehr. Trotzdem finden sich Spuren kolonialer Unterdrückung überall, sagt die Expertin Sina Aping.

Profilbild von Lore Teltz und Alvin Kaiser

Sina Aping ist Referentin für Dekolonisierung beim Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlag – einem Netzwerk aus 110 Berliner Gruppen und Vereinen, die sich für globale Gerechtigkeit engagieren. Als Referentin für Dekolonisierung setzt sie sich dafür ein, das allgemeine Bewusstsein dafür zu schärfen, wie sich Kolonialismus, Rassismus und globale Ungerechtigkeit in der Gesellschaft auswirken.

Wir, Lore Teltz und Alvin Kaiser, 20 und 22 Jahre alt, sind derzeit Praktikant:innen bei Krautreporter. Wir nehmen am deutsch-afrikanischen Austauschprogramm Kulturweit-Tandem der UNESCO teil und haben uns mit Sina Aping getroffen, um mit ihr über die Folgen des Kolonialismus in unserem Alltag und über Berlins besondere Rolle in der deutschen Kolonialgeschichte zu sprechen.


Die meisten ehemaligen Kolonien in Afrika erlangten in den 1960er Jahren ihre formale Unabhängigkeit. Auf dem Papier ist der Kolonialismus vorbei. Ist er es wirklich?

Eine junge Frau mit geflochtenen Zöpfen blickt in die Kamera.

Sina Aping ist Referentin für Dekolonisierung beim Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlag. ©Privat

Nein, die Auswirkungen des über 500 Jahre andauernden Kolonialismus prägen noch immer unsere Gegenwart, unser Miteinander. In all unseren Lebensrealitäten und Beziehungen finden sich Spuren des Kolonialismus. Deswegen sprechen wir auch von Allgegenwärtigkeit oder kolonialen Kontinuitäten. Diesen Begriff benutzen wir, wenn es darum geht, dass die Auswirkungen des Kolonialismus bis heute andauern.

Können Sie Beispiele nennen? Wo überall prägt der Kolonialismus unsere Gegenwart?

Ein gutes Beispiel sind unsere Schulen. Man sieht es bereits am Lehrmaterial. In den Schulbüchern und im Unterricht kommt Kolonialismus kaum vor. Vor allem werden die Perspektiven der ehemals Kolonialisierten kaum abgebildet. Die Geschichte wird immer noch vorrangig aus der Sicht der Kolonialmächte wie Deutschland und Frankreich erzählt – also aus weißer, eurozentrischer Sicht.

Das ist eine einseitige Geschichts- und Wissensvermittlung, die die Schüler:innen prägt und somit auch ihr weiteres Verständnis von Kolonialismus. So bleibt ein großer Teil der Geschichte – des Leides, aber auch des eigenen Schwarzen Widerstandes gegen Kolonialismus – unsichtbar.

Deswegen brauchen wir dringend eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit den Schulmaterialien: Welches Afrikabild wird darin vermittelt? Wie wird Rassismus thematisiert? Die Schule muss ein Ort werden, an dem rassistische und einseitige Ansichten nicht weiter reproduziert werden. Ein Ort, der koloniale Aufarbeitung leistet und diskriminierungssensibel und diskriminierungsfrei ist.

Wie kann das aussehen?

Die Lehrkräfte müssen besser ausgebildet werden. Schon im Studium muss die rassismuskritische Auseinandersetzung in allen Unterrichtsfächern verankert sein. Außerdem gehört die Aufarbeitung von Kolonialismus verpflichtend in die Lehrmaterialien. Sie muss im Schulunterricht stattfinden. Und zwar nicht nur nebenbei, indem man mal einen Tag oder ein paar Stunden lang im Geschichtsunterricht darüber spricht, sondern als ein Thema, das alle möglichen Fächer betrifft. Die Schule als Institution bietet diesbezüglich bisher immer noch sehr wenig Raum für Austausch.

In welchen anderen Bereichen finden sich noch koloniale Kontinuitäten?

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Man sieht sie auch, wenn es um Mobilität geht. Wer hat weltweit überhaupt die Möglichkeit, sich frei zu bewegen? Wer darf in welche Länder reisen? Und warum dürfen andere nicht dorthin? Der Pass ist hier ein entscheidender Faktor. Wie viel Macht hat beispielsweise der deutsche Reisepass im Vergleich zum nigerianischen? Hier müssen wir uns die Migrationspolitik genau anschauen. Auch hier wirken koloniale Mechanismen, die Menschen einteilen und ihre Bewegungsfreiheit einschränken.

Aber auch in der Gesundheitspolitik bestehen ungerechte Strukturen. Hier reicht ein Blick auf die Covid-19-Pandemie und die ungerechte Impfstoffverteilung. Koloniale Kontinuitäten zeigen sich auch in der Frage: Warum haben Menschen in Ländern ehemaliger Kolonialmächte Zugang zu Medikamenten und in ehemaligen Kolonien nicht, obwohl sie dort produziert werden?

In Berlin leben so viele Menschen, die immer noch nicht wahlberechtigt sind, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Der Zugang zu Wohnungen, zum Arbeitsmarkt ist durch rassistische Strukturen eingeschränkt. Es muss noch vieles aufgearbeitet werden.

Der Berliner Entwicklungspolitische Ratschlag, für den Sie arbeiten, gehört dem Bündnis „Decolonize Berlin“ an. Was ist gemeint, wenn es heißt, dass Berlin „dekolonisiert“ werden muss?

„Dekolonialisieren“ bedeutet, die Ungerechtigkeitstrukturen abzubauen oder zu reduzieren, auf denen der Kolonialismus und somit auch Rassismus und Kapitalismus basieren. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Rückgabe kolonialer Raubgüter, wie zum Beispiel der Benin-Bronzen. Damit ist es aber noch nicht getan. Es reicht nicht zu sagen: Wir geben ein paar Sachen zurück, dekolonisieren ein bisschen und dann ist alles aufgearbeitet. Sondern wir brauchen eine strukturelle Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit.

Zugleich müssen wir aufpassen, dass Dekolonisierung nicht als Trend missverstanden wird: Der Kampf gegen koloniale Kontinuitäten ist kein Trend und auch nichts Neues. Menschen aus Ländern des Globalen Südens und der Diaspora kämpfen schon lange gegen diese ungerechten Strukturen. Wir können und sollten auf ihren Kämpfen aufbauen und uns einreihen. Der jahrelange Widerstand aus dem globalen Süden muss endlich ernst genommen und anerkannt werden. Auch das ist Teil von Dekolonisierung. Es geht um einen breiten Ansatz, der die Gesellschaft langfristig zu mehr Bewusstsein für globale Gerechtigkeit führen soll.

Sie nennen Kapitalismus in einem Atemzug mit Rassismus und Kolonialismus. Was hat Kapitalismus mit kolonialen Strukturen zu tun?

Zwischen Kapitalismus und kolonialen Strukturen besteht ein Zusammenhang. Die Industrialisierung Europas wurde nur durch die Ausbeutung der Menschen und Ressourcen in den Kolonien möglich und diese globale Arbeitsteilung gibt es bis heute. Davon profitieren wir auch heute noch in Deutschland und in Berlin. Deutschland hat beispielsweise bestimmte Interessen an Gütern oder Dienstleistungen, etwa aus Bolivien oder Brasilien. Aufgrund der kapitalistischen Macht kann Deutschland Menschen in Ländern des Globalen Südens schlechter bezahlen und sie ausbeuten. Dies basiert auf rassistischem Denken. Die rassistische Ideologie dient als Legitimation für die Ausbeutung von Menschen, Ressourcen und Land. Ein Beispiel ist der Kaffeekonsum, der für die meisten von uns als etwas Alltägliches wahrgenommen wird. Wie viele Menschen in der Kaffeeproduktion ausgebeutet werden und wie sehr die Umwelt dadurch zerstört wird, wissen nur wenige. Deshalb sollten wir Kapitalismus und Rassismus zusammen betrachten.

Bei der Entwicklung von E-Autos in Deutschland ist es ähnlich. Manche für die Produktion benötigten Rohstoffe wie Lithium und Kobalt gibt es nur in afrikanischen Ländern. Beim Import der Rohstoffe aus diesen Ländern werden jedoch Menschen und Ressourcen ausgebeutet.

Genau. Das europäische Streben nach Wirtschaftswachstum oder nach Wachstum generell hängt auch mit einem Überlegenheitsdenken zusammen, das wiederum auf einer rassistischen Ideologie aufbaut. Statt sich bewusst zu machen, dass man die Menschen ausbeutet, redet man sich sogar ein, man tue ihnen noch etwas Gutes. In Wirklichkeit bauen wir so unseren Wohlstand auf.

Laut „Decolonize Berlin“ trägt Berlin eine besondere Verantwortung dabei, Kolonialismus aufzuarbeiten. Warum?

Es ist nicht allen bewusst, aber Berlin hat eine wichtige Rolle in Deutschlands kolonialer Vergangenheit gespielt. Schon im 18. Jahrhundert wurden schwarze Menschen nach Brandenburg-Preußen gebracht und hier versklavt. Von Ende 1884 bis Anfang 1885 hat in Berlin zudem die sogenannte Kongokonferenz oder Berliner Konferenz stattgefunden. Damals haben die Kolonialmächte den afrikanischen Kontinent buchstäblich untereinander aufgeteilt. Die Konsequenzen dieser Grenzziehungen sind noch immer spürbar – auf lokaler, nationaler und globaler Ebene.

Was sind die Forderungen von „Decolonize Berlin“ an die Stadt?

Wir wollen erreichen, dass Dekolonisierung zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe erklärt wird. Sie muss in der Gesundheitspolitik stattfinden, in der Migrationspolitik, in der Wirtschaft. Außerdem müssen die Lehrpläne der Schulen überarbeitet werden. Kolonialgeschichte gehört in die Lehrmaterialien. Das ganze Bildungsprogramm muss rassismussensibel überarbeitet werden. Das Wissen ehemals Kolonialisierter darf weder marginalisiert noch ausgeblendet werden. Auch im öffentlichen Raum muss antikolonialer Widerstand dargestellt werden. Dabei geht es um präsente Erinnerungen im Stadtbild.

Wie können solche Erinnerungen im Stadtbild aussehen?

Berlin trägt eine besondere Verantwortung, wenn es um Kolonialismus geht, deshalb ist es wichtig, dass gerade hier Erinnerung stattfindet und zwar nicht nur, indem man ins Museum gehen kann. Es braucht dezentrale Erinnerungsorte, beispielsweise Mahnmale. Um der Erinnerung der Kolonialverbrechen auch nur ansatzweise gerecht zu werden, müssen diese im Stadtbild verankert werden. Denn das gehört zur Geschichte einfach dazu – gerade zur Geschichte einer weißen Dominanzgesellschaft.

Der Berliner Entwicklungspolitische Ratschlag beschäftigt sich auch mit dem Zusammenhang von Klima und Kolonialismus. 19 Prozent der Weltbevölkerung im Globalen Norden sind für 92 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Davon betroffen sind oftmals die Menschen, die im Globalen Süden leben.

Das ist ein weiteres Beispiel, das koloniale Kontinuitäten verdeutlicht: Der Globale Norden hat nie aufgehört, auf Kosten des Globalen Südens zu leben. Und er hat dies auch nie anerkannt. Auch hier erkennt man eine eurozentrische, koloniale, überlegene Haltung. Es findet noch immer menschliche und materielle Ausbeutung statt. Sie wird sogar als selbstverständlich wahrgenommen. Dass Klima und Kolonialismus zusammengehören, ist den wenigsten bekannt. Deswegen ist der Kolonialismus eben auch noch nicht vorbei.

Es hat lange gedauert, aber inzwischen wurden manche kritisierten Straßennamen in Berlin schon umbenannt. Das Humboldt Forum hat angefangen, Raubkunst zurückzugeben, und es wird verstärkt darüber gesprochen, woher Kulturgüter kommen. Wie beurteilen Sie diese Geschehnisse?

Sie waren längst überfällig! Und man braucht es auch nicht übermäßig zu loben, dass jetzt nach und nach ein paar Raubgüter zurückgegeben werden. Was viele nicht wissen, ist, dass immer noch circa 20.000 menschliche Gebeine aus ehemaligen Kolonien in Berlin sind. Diese Knochen wurden einst in einem gewaltvollen Akt für die rassistische Forschung nach Deutschland gebracht. Es ist nicht damit getan, dass nur ein paar davon zurückgegeben werden.

Man muss allerdings auch sehen, dass über 500 Jahre Gewalt und Kolonialismus nicht morgen erledigt sein können. Dekolonisierung ist ein Prozess – sicherlich auch ein schmerzvoller. Das klingt leider ein bisschen pessimistisch, aber dieser Prozess wird wahrscheinlich mindestens genauso lange dauern, wie der Kolonialismus selbst gedauert hat.


Redaktion: Thembi Wolf und Andrea Walter, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

Der Kolonialismus ist noch nicht vorbei

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