Vor Kurzem habe ich die Gedenkstätte Theresienstadt besucht. 144.000 Menschen wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in das Konzentrationslager deportiert, 33.000 in Theresienstadt ermordet, 88.000 von dort aus in Vernichtungslager weiter im Osten transportiert. Über dem Eingang zu einem Hof des Lagers prangt die gleiche Inschrift wie auch in Auschwitz, Sachsenhausen und Dachau: „Arbeit macht frei“.
Der Auschwitz-Überlebende Tibor Wohl kam 1941 nach Theresienstadt, 1942 deportierten die Nazis ihn nach Auschwitz. Als er im Lager ankam, beruhigte ihn die Inschrift zunächst. So schlimm kann es ja dann nicht sein, dachte er. Denn wer arbeitet, wird nicht ermordet. So beschreibt er es in seinen Erinnerungen.
Was Wohl zunächst nicht wusste: „Vernichtung durch Arbeit“ war ein wesentlicher Bestandteil der Strategie zur „Endlösung“, also der Ermoderung aller Juden und Jüdinnen. Und der kurze Satz „Arbeit macht frei“ verweist auf die lange Geschichte eines deutsch-protestantischen Arbeitswahns, der Hand in Hand mit Judenhass geht – und maßgeblich von Martin Luther geprägt wurde. Weil die Geschichte des deutschen Antisemitismus vor dem Nationalsozialismus weniger bekannt ist, möchte ich darauf in diesem Newsletter genauer eingehen.
Niemandem machte Arbeit wirklich Spaß
Die christliche Geschichte der Arbeit beginnt im Alten Testament. Nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis genascht haben, bestraft Gott sie und alle ihre Nachfahren dafür. Er vertreibt sie aus dem Paradies. Frauen verdonnert er dazu, unter Schmerzen Kinder zu gebären. Männer sollten „im Schweiße ihres Angesichts“ lebenslang arbeiten müssen, um sich zu ernähren. Klingt anstrengend? So deuteten die meisten Menschen das auch. Arbeit galt lange als Mühsal, Plage und Last. Niemand hatte Lust darauf. Erst der Reformator Martin Luther änderte das im 16. Jahrhundert.
Luther sagte, Arbeit sei keine Last, sondern die Erfüllung einer göttlichen Aufgabe. Der Mensch, glaubte Luther, hatte einen von Gott vorherbestimmten Platz auf der Welt. Dieses Schicksal müsse er akzeptieren. Die göttliche Aufgabe bestehe aus einer Arbeit, die jeder treu erfüllen solle. Luther sprach von Arbeit als Berufung durch Gott.
Was diese Auffassung mit Judenhass verband? Ganz einfach: Luther erklärte, nur Christ:innen würden dieser göttlichen Aufgabe gerecht werden. Als Handwerker und Landwirte gingen sie einer gottgewollten Arbeit nach, die der christlichen Gemeinschaft diene. Juden und Jüdinnen hingegen seien von Natur aus egoistisch und würden bloß Tätigkeiten ausüben, die dem eigenen Vorteil dienten. Der ehrlichen, deutschen, christlichen Arbeit stellte er also die unehrliche, betrügerische Arbeit der Juden und Jüdinnen gegenüber. Nur machten diese die Arbeit, der sie nachgingen, oft gar nicht freiwillig. Ihnen blieb schlicht und ergreifend nichts anderes übrig.
Nasenschweiß gegen gebratene Birnen
Vor etwa 1.000 Jahren war Deutschland ein bunter Fleck verschiedener Kleinstaaten. Es war die Zeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Jüdische Personen durften damals vielerorts kein eigenes Land besitzen. Sie konnten somit keine eigene Landwirtschaft betreiben. Zeitgleich entwickelten sich in Deutschland die Zünfte, also die Zusammenschlüsse von Handwerkern, wie etwa Schustern oder Schmieden. Zünfte entschieden darüber, wer in einer Stadt einen bestimmten Handwerksberuf ausüben durfte. Sie verstanden sich aber auch als christliche Gemeinschaft. Das heißt, wer Jude war, konnte nicht Mitglied werden. Eine der wenigen Möglichkeiten der jüdischen Bevölkerung, um die eigenen Familien zu ernähren, war es somit, Handel zu treiben oder Geld zu leihen und Zinsen zu nehmen.
Die Kirche erklärte, das sei „Wucher“. Egoistische Juden und Jüdinnen würden sich an der Bedürftigkeit der Christ:innen bereichern. Luther griff das später auf. Sein Arbeitsverständnis war eng mit seinem Judenhass verbunden. In Luthers Worten klang das so: „Sie halten uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen sie dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, saufen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut.“
Luther bezeichnete Jüdinnen und Juden als 1.400 Jahre alte „Plage“, die er gerne „in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren“ würde. Er rief dazu auf, jüdische Schulen und Synagogen in Brand zu stecken, Rabbinern die Lehre zu verbieten, ihnen das Geld abzunehmen oder sie zu Zwangsarbeiten zu verpflichten. Weil er aber der Überzeugung war, das würde ihren von Natur aus betrügerischen und faulen Charakter nicht ändern, forderte er auch ihre Vertreibung. Es sind Ideen, die sich weit verbreiteten – und von den Nationalsozialist:innen aufgegriffen wurden.
Was Hitler aus Luthers Worten machte
Am 13. August 1920 hielt Adolf Hitler im Münchner Hofbräuhaus eine Rede mit dem Titel „Warum sind wir Antisemiten?“. Arbeit spielt darin eine zentrale Rolle. Hitler erklärte sie zu einer Tätigkeit, der die „nordische Rasse“ aus einem „sittlich-moralischem Pflichtgefühl“ nachgehe, „die ich nicht um meiner selbst willen ausübe, sondern auch zu Gunsten meiner Mitmenschen“. Also zum Wohle des vermeintlichen „deutschen Volkes“.
Für Juden und Jüdinnen hingegen, so Hitler, sei Arbeit bloß ein Mittel zur Selbsterhaltung. Purer Egoismus. Das sei ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden „Rassen“. Hitler betonte, dass diese angebliche Eigenschaft den Jüdinnen und Juden „im Blut liegt“. Daraus folgt: Vermeintlich biologische Tatsachen lassen sich nicht ändern. Nur vernichten. Mit seiner Rede legte er den programmatischen Grundstein des Nationalsozialismus und der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas.
Das Arbeitsverständnis der Nazis war dabei ein wichtiger Teil ihrer Rechtfertigung und Ideologie. Das verstand schließlich auch der Auschwitz-Überlebende Tibor Wohl.
Schon kurze Zeit nachdem Wohl zum ersten Mal das Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ passierte, wusste er: „Der SS ging es nicht nur um die Arbeit. Die Häftlinge sollten, sobald sie bis zur völligen Erschöpfung ausgebeutet waren, vernichtet werden.“
Redaktion und Schlussredaktion: Lisa McMinn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger