Tim Cannon, Mitte 30, lehnt im Stuhl und raucht. Grauer Qualm streichelt vorsichtig das Fenster vor ihm. In der Mittagshitze schieben sich Pickup-Trucks langsam wie fette, schwarze Raupen über den Asphalt. Nachdenklich kratzt er sich am Bart.
Der Highway nach Detroit ist immer stark befahren und so voll, dass ich noch nirgends eine Möglichkeit gefunden hatte, ihn von meinem Hotel aus zu überqueren. Tim wohnt nur eine knappe Meile weiter, in einem Hotel auf der anderen Straßenseite. Er hält dort einen Vortrag über die Zukunft der Menschheit. Nichts Besonderes, eigentlich.
Der Trip war durchaus sorgfältig geplant, und ich hatte gedacht, ein solcher Katzensprung sei problemlos zu Fuß zu machen.
Doch nun waren da 200 Dollar Taxi-Kosten auf meiner Kreditkarte registriert, für sämtliche Umwege und verdammte zwei Tage. Denn als ich törichterweise versucht hatte, den Highway auf eigene Faust zu überqueren, hielt mich ein Police Officer an und erklärte mir, wir Europäer könnten das ja nicht wissen, aber hier in „Motor City“, einer Stadt, in der jeder Amerikaner mindestens einen Truck besitzt, seien Fußgänger tendenziell unerwünscht und Verdächtige. Ich habe bis zum Schluss nicht verstanden, ob das ein Scherz gewesen sein sollte oder nicht. Oder ob das schlussendlich nicht völlig egal war.
„Das ist die Kehrseite“, beginnt Tim und erwacht aus seiner Denkerpose wie eine Maschine aus dem Stand-by-Betrieb. „Dass wir, die Vereinigten Staaten von Amerika – Land of the Free, Home of the Brave – völlig vergessen haben, wer wir sind. Wir waren mal eine freie Nation, Mann. Vorreiter und sowas. Heute musst du in diesem Land als Pazifist eine Waffe tragen, weil du nicht weißt, wer dich gleich erschießt: Gangster oder Polizisten mit zittrigem Abzugsfinger, die es beim Militär nicht geschafft haben, aber irgendwas für ihr Land tun wollen. Oder Republikaner, Mann. Aus Texas. Denen dein Äußeres nicht passt oder deine Art zu denken.“
Tim Cannon, Biohacker, Ex-Soldat, Ex-Alkoholiker, schüttelt den Kopf. Eine lange Narbe zieht sich hinauf an seinem Arm. Das Mahnmal seines letzten Experiments: Circadia. Sie überträgt per Bluetooth die Körpertemperatur an ein Smartphone oder einen Computer. Das ist zwar noch nicht viel, aber später soll sie, das wünscht sich Tim jedenfalls, Routine-Checks beim Arzt überflüssig machen.
Er würde ja gerne stolz sein auf sein Land, sagt Tim, aber vermutlich fehle ihm dafür einfach das „Patriotismus-Gen“: „Mein Vater hat mir das früher auch immer erzählt. Dass man hier alles erreichen kann, wenn man nur will und hart genug dafür arbeitet. Einen Scheiß kannst du erreichen, Mann, wenn du nur hart arbeitest“, meint er, kratzt sich am Bart. „Und jeder hier weiß das auch. Oder denkst du, die Afro-Amerikaner hier arbeiten einfach nicht hart genug? Oder alle anderen, die es nicht zu Reichtum bringen? Oder sie glauben nur nicht gut genug an sich – ist es vielleicht das?“
Tim wird laut. Seine Augen verengen sich wie die Blende eines Fotoapparats.
„In diesem Land wird jeden Tag so getan, als würdest du über Nacht vom Tellerwäscher zum Millionär, wenn du es nur genug willst. Sieh dich doch um da draußen, auf den Straßen. In den Häusern“, sagt er wütend. „Der amerikanische Traum ist am Arsch.“
Als ihm das klar wurde, sei er fast durchgedreht, erzählt er. Es folgte: der Absturz, ein mehrere Jahre andauerndes Martyrium als Soldat in Fort Jackson, South Carolina, und Fort Gordon, Georgia. Der amerikanische Traum, das sternenbesetzte Banner, das war auch Tims Wahrheit gewesen. Er hatte daran geglaubt. Weil es ihm eine vermeintliche Sicherheit gab – über sein Leben, seinen Platz in dieser Gesellschaft und einen Weg, den er gehen konnte. Irgendwann klappte das einfach nicht mehr mit dem Glauben, und vielleicht ist so letztendlich der Amerikanische Traum daran schuld, der Kontrast im Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten, zwischen dem Was ist und Was sein könnte, dass aus Tim aus Pittsburgh das wurde, was er heute ist: ein Cyborg.
Tim Cannon gehört zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich selbst als Mischwesen aus Biologie und Technik bezeichnen: Menschmaschinen. Sie träumen davon, ihre biologische Hülle, ihre sterbliche Körperlichkeit zu überwinden. Sie träumen von Technik, die mit uns gekoppelt ist, von aufregenden neuen Fähigkeiten.
Und ein Teil von Tim träumt vom Transhumanismus: Einer leuchtenden Idee, die den Übergang der biologischen Spezies in eine technische Spezies beschreibt, die irdische Probleme und Schwächen unserer Rasse überwinden könnte.
Und es gibt Cyborgs nicht nur in den USA – sondern auch hier, in Europa. In Deutschland. Während sie in vielen Ansichten durchaus unterschiedlicher Meinung sind diesseits des Atlantiks, sind sie sich in einem Gedanken einig: Wir leben in einer zunehmend dystopischen Welt, in der Geheimdienste und Konzerne unser Handeln kontrollieren wie in Shadowrun. Jedenfalls, wenn wir nicht aufpassen.
Unsere Welt ist überzogen von einem Kapitalismus, der uns Bedürfnisse einimpft, die wir nie hatten, und uns mit Konsum ruhigstellt. Wir dürfen zwar fragen, aus was unser neues Telefon besteht, aber die Antwort wird uns immer wieder nur auf den Punkt zurückwerfen, dass wir in einer Welt der Geheimnisse, Verschlusssachen, Abmahnanwälte und Patente leben. Einer Welt der geschlossenen Soft- und Hardware.
„Deswegen ist das, was mit der NSA gerade passiert und wie sich unser Land auf der Welt benimmt, auch so eine beschissene Tragödie“, sagt Tim wutentbrannt und stößt Rauch aus wie ein kleiner Drache. Cyborgs sind kritisch, sie sind aufgeschlossen, sie fordern das Establishment mit ihren Waffen heraus – sie sind Bastler, Hacker und Biologen, Neurowissenschaftler, Consultants oder Mediziner. Und sie dringen auf zwei Dinge: Bewusstseinserweiterung einerseits und die Etablierung von Open-Source-Kultur andererseits. Eine transparente, bessere Gesellschaft, in der Soft- und Hardware offen sind, genauso wie politische Prozesse. Ein bisschen sind sie die Hippies des modernen Informationszeitalters.
Tim betrachtet die Pick-ups. Er holt tief Luft. „Faktisch haben wir die Evolution überlebt: Wenn ich einen Tag auf dem Sofa liege, verbrauche ich 2.000 Kalorien. Mann, wofür? Das ist total ineffizient. Und vögeln. Unsere Triebe machen uns schwach, unser Körper ist noch auf Wildnis und Überlebenskampf ausgelegt. Und, siehst du da draußen irgendwo Wildnis?“ Er deutet mit seiner E-Zigarette auf die Trucks. „Die Technik ist gut, richtig angewandt kann sie uns dabei helfen, effizienter zu werden. Der biologische Körper ist voller Fehler, er ist schwach und sterblich. Und das gilt es zu überwinden.“
Tim selbst hat sich schon überwunden. Sehr sogar. Lange musste er dafür wohl fest in ein Stück Holz beißen. Als sie ihm ohne große Narkose eine iPhone große-Platine in den Unterarm setzten – es war Tims expliziter Wunsch gewesen – konnte er nicht zu einem Arzt gehen. Wegen der Medizin-Ethik sind Eingriffe, die nicht medizinisch notwendig oder sinnvoll erscheinen, für die Ärzte ein zu großes Haftungsrisiko. Also gehen Cyborgs – Bodyhacker, wie sie auch genannt werden – zu Piercern ihres Vertrauens. Piercer dürfen aber gesetzlich keine Narkose einsetzen – betäubt wird lokal, zum Beispiel mit kühlender Salbe. Und dann biss Tim eben ins Holz, während sie in seinen Arm eine mehr als fünf Zentimeter lange Fleischtasche schneiden mussten.
90 Tage blieb Circadia drin. 90 Tage, in denen Tim teils schweißgebadet aufwachte und Todesangst hatte. „Mann, manchmal dachte ich echt: Scheiße, da läuft gerade die ganze Batterieflüssigkeit aus. Alles in deinen Körper. Du wirst jetzt sterben.“ Heute kann er darüber lachen. Immerhin wurde er mit Circadia weltberühmt – obwohl sie eigentlich nicht viel mehr konnte als ein Thermometer. Körperdaten auslesen, per Bluetooth. Tim und seinen Bastlern von Grindhouse Wetware ging es aber ums Prinzip.
In Deutschland konnte der Berliner Enno Park nicht so gut hören. Nach langem hin und her mit seiner Krankenkasse bekam Enno ein implantiertes Hörgerät – ein Cochlea-Implantat. Im Vergleich zu den Cyborgs, die sich Magneten in die Finger operieren lassen, um damit Magnetismus zu spüren, ist die Medizin viel weiter: Cochlea-Implantate sind am Kopf sitzende, hochpräzise Hörgeräte. Es gibt Herzschrittmacher, die kennt jeder, aber das Wort Hirn-Schrittmacher kennen vielleicht nur wenige. Ein Hirn-Schrittmacher ist ein Gerät, das auf Knopfdruck Parkinson ausschalten kann. Es sitzt direkt auf den Lamellen des Gehirns.
1994 schrieb die US-Wissenschaftlerin N. Katherine Hayles in einem Aufsatz, dass etwa zehn Prozent der aktuellen US-Bevölkerung aufgrund solcher fest implantierten medizinischen Geräte bereits Cyborgs seien. Aber diese Geräte sind rein darauf ausgelegt, Menschen eine Fähigkeit wiederzugeben, die sie eingebüßt haben. Und hier beginnt das Problem.
Während Enno Park, der im Dezember 2013 mit einigen Freunden die „Gesellschaft zur Förderung und kritischen Begleitung der Verschmelzung von Mensch und Technik“ – kurz: den Cyborgs e.V. – gründete, zum Arzt gehen kann, um sich einem Eingriff zu unterziehen, hat Tim diese Möglichkeit nicht. Noch nicht.
„Es ist eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung“, sagt der Sozialpsychologe von der Universität Köln, Sascha Topolinski. Er leitet die Abteilung Social Economic Cognition II am Social Cognition Center Cologne. „Sowohl die Gesellschaft als auch der Einzelne wägt für sich die Risiken einer Operation gegenüber deren Vorteilen ab. Im Laufe der Zeit nimmt die Akzeptanz, wenn es eine gute Kosten-Nutzen-Rechnung ergibt, immer mehr zu. Ein kleines Beispiel: Früher liefen nur Säufer, Seemänner und Leute aus dem Knast mit Tattoos rum. Heute hat, jedenfalls in Köln-Ehrenfeld, wo ich herkomme, jeder ein Tattoo. Eine bestimmte Sache setzt sich durch, wenn der Nutzen einer Technik immer größer wird. Zugleich beobachten wir seit Jahren, dass die Sensibilität für den eigenen Körper abnimmt. Wir befinden uns als Gesellschaft gerade in einem Findungsprozess zu der Frage, ob es ethisch und moralisch vertretbar ist, den eigenen Körper zu erweitern, auch wenn er gesund ist. Denn bei kranken Menschen akzeptieren wir diese Eingriffe viel eher“, sagt Topolinski.
Das glaubt auch Thomas Stieglitz vom Institut für Mikrosystemtechnik der Universität Freiburg, ein Experte für Implantate wie die Gehirn-Schrittmacher: „Es ist diese Debatte, die die Öffentlichkeit in den nächsten Jahren mehr und mehr erreichen wird. In der Wissenschaft führen wir sie bereits. Es geht um die Frage, inwieweit wir uns als Menschen ethisch und medizinisch erweitern dürfen und sollten. Und welche Vor- und Nachteile das hat. Es ist nämlich mitnichten so, dass wir einfach alle Fähigkeiten beliebig erweitern können. Koppeln sie beispielsweise einen dritten, einen mechanischen Arm mit dem zentraleren Nervensystem, wird das Hirn überlasten und der Arm nicht funktionieren“, erklärt Stieglitz.
Ich denke an Tim: Wir sind also tatsächlich nur begrenzt aufwärts kompatibel, wie eine Playstation, auf der die neuen Spiele nicht mehr laufen. Aber die Akzeptanz wiederum scheint zu steigen: Laut einer von TNS Emnid durchgeführten Umfrage befürwortet mittlerweile die Mehrheit der Deutschen (51 Prozent) Implantate, die geistige Fähigkeiten steigern - um die Konzentration beziehungsweise die Gedächtnisleistung zu verbessern. Wichtig sei dabei, dass die Geräte nicht unkontrolliert Daten sammeln und speichern.
Tims Circadia, dieser Eingriff liegt schon eine Weile zurück – wobei er betont, dass es „ganz sicher nicht der letzte ist“. Die Narbe ist noch da, und am Bein trägt er dieses Tattoo eines sich zwischen die Beine kotzenden Punks. Gestern auf der Tagung wurde er auf dem Podium wieder mal von einem medizinischen Experten unter Feuer gesetzt: Das, was er sich da antue, könne man doch nicht machen. Lebensgefährlich sei das. Er habe ja nicht mal eine medizinische Ausbildung.
„Manchmal“, sagt Tim und starrt aus dem Fenster, „denke ich auch, es wäre bestimmt einfacher, wenn ich was anderes machen würde, was die Leute nicht so auf die Barrikaden gehen lässt. Süße Hasenohren tragen zum Beispiel.“
„Wie meinst du das?“
„Die etablierte Wissenschaft hält uns für verrückt. So wie sie Leonardo da Vinci, Galilei und all die anderen für verrückt gehalten hat. Sie wollen uns nicht teilhaben lassen am Diskurs, denn wenn wir verrückt sind, brauchen sie sich nicht mit uns beschäftigen. Denn mit Verrückten redet man ja nicht. Aber, da bin ich mir ganz sicher: Wir können Antworten liefern, sie werden nur vielen Menschen da draußen nicht gefallen. Und das ist auch der Grund, warum wir nicht mitspielen sollen.“
„Wem gefallen sie nicht?“, frage ich.
„Den Konzernen, den dicken Säcken mit Geld und den Leuten, die unser Land regieren. Den Menschen halt, die Geld damit verdienen, dass der Zustand dieser Welt so bleibt, wie er ist. Diese Leute. Du weißt schon.“
Er dreht sich langsam zu mir um, weg vom Fenster. Kurz denke ich an diese James-Bond-Filme, wo sich auch immer jemand umdreht, bevor etwas Wichtiges in der Story passiert.
Tim lächelt, während er bedeutungsschwanger an seiner E-Zigarette zieht.
„Aber sie werden es nicht aufhalten können. Und weißt du …“, sagt Tim dann und deutet auf mein Handy, auf dem ich tippe, während er sich zurück zum Fenster dreht. „Viele von uns sind längst Cyborgs. Sie haben es nur noch nicht gemerkt.“
Ein Teil der Zitate und Recherche-Ergebnisse stammt aus meinem Buch „Wir sind Cyborgs“, das im Blumenbar Verlag erschienen ist. Für die Themenwoche habe ich allerdings viele Facetten neu entwickelt. Im Buch begleite ich Tim und den Rest seiner Gang wesentlich länger. Ich beschreibe aber auch, was Neil Harbisson zum ersten offiziellen Cyborg der Welt machte, und Enno Park und andere füllen ganze Kapitel, in denen sie ausführlich erklären, was gerade passiert - und welche Chancen und Risiken darin stecken.
Das Aufmacherbild zeigt Tim Cannons Circadia; Foto: Andrew Obenreder. Die Illustration machte Veronika Neubauer.