Die Illustration zeigt eine zentral stehende Person mit verschränkten Armen in einem roten Oberteil. Sie wirkt nachdenklich und etwas zurückgezogen. Um sie herum bewegen sich zahlreiche andere Personen, deren Körper in farbigen, wellenartigen Formen verschwimmen – als Symbol für Reizüberflutung oder emotionale Distanz. Die Farben sind lebendig, dominieren jedoch die Szene, während die zentrale Figur in einem dunklen, ruhigen Bereich steht – ein Bild für Introversion inmitten einer lauten, geschäftigen Welt.

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Psyche und Gesundheit

Das ist für viele Extrovertierte undenkbar

Introvertierte erzählen, wie sie sich tagtäglich anstrengen, um akzeptiert zu werden.

Profilbild von Martin Gommel
Reporter für psychische Gesundheit

Dieses Konzert ist ausverkauft. Auf der Bühne stehe ich mit meiner Metalcore-Band und umgeschnalltem E-Bass – und tue so, als sei ich der härteste Typ im Raum. Unser Sänger Daniel brüllt ins Mikrofon. Vor uns pogen hundert Besucher, alle in schwarz, manche können sogar unsere Texte. Es ist April 2006, ich lebe den Traum vieler Musiker und weiß: Ich, Leute, ich habe diese Songs mitgeschrieben.

Gleichzeitig würde ich gerne den Bandbus kapern, nach Hause fahren und mich drei Wochen lang einigeln. Jedes Gesicht in diesem Club ist eins zu viel. Die Musik ist super, aber zu laut. Dieses Im-Mittelpunkt-stehen, das muntere Mitgegröle, das Performen vor den Fans, all das löst in mir Unbehagen aus. Von wegen härtester Typ im Raum.

Heute habe ich dafür ein Wort: Ich war und bin introvertiert. Damals dachte ich, mit mir sei etwas nicht in Ordnung – deshalb habe ich mich auf solche Konzerte eingelassen. Ich war wütend auf mich selbst und dachte: Für die anderen ist es bestimmt undenkbar, wie ich mich vor unseren Fans fühle. Dabei hätte ich sie fragen können, ich traute mich aber nicht.

Doch mit dieser Erfahrung bin ich nicht allein und das weiß ich erst heute. Denn ich habe eine Umfrage gemacht und die Introvertierten in meiner Community gefragt, was für sie alltäglich, aber für Extrovertierte unvorstellbar ist. Mehr als 500 Menschen haben teilgenommen und mir ihre Geschichten erzählt. Ich werde sie in diesem Text zu Wort kommen lassen.

Dabei möchte ich keinen Graben zwischen Extro- und Introvertierten ziehen und sagen, alle Extros seien doof. Ich möchte eine Brücke bauen und um Verständnis werben. Denn oftmals wissen Extrovertierte gar nicht, in welchen Situationen Introvertierte sich unwohl fühlen – oder was ihnen guttut.

Kein Entweder, oder!

Vorab müssen wir aber noch eine Frage klären: Was ist das eigentlich, Introversion? Introversion ist weder ein Defizit noch eine psychische Erkrankung. Als ich neulich mit einem Freund darüber sprach, meinte er sinngemäß: Mit diesen Leuten stimmt doch was nicht, da läuft was falsch! Aber wenn etwas falsch ist, dann diese Annahme. Introversion ist eine Persönlichkeitseigenschaft und keine Persönlichkeitsstörung. Sie ist auch nicht die Ausnahme.

Die amerikanische Schriftstellerin Susan Cain schrieb 2012 in ihrem Buch „Quiet“: „Je nachdem, welche Studie wir zu Rate ziehen, ist ein Drittel bis die Hälfte der Amerikaner introvertiert – mit anderen Worten: einer von zwei oder drei Menschen, die Sie kennen.“

Extrovertierte unterscheiden sich von Introvertierten dadurch, dass sie durchsetzungsfähiger, risikobereiter, geselliger sind – und einen aktiveren Lebensstil führen. Introvertierte neigen dazu, ruhiger und weniger aktiv zu sein. Sie suchen eher Einsamkeit und Ruhe und ziehen daraus ihre Kraft.

Das bedeutet aber nicht, dass man nur das eine oder nur das andere sein kann. In der Persönlichkeitspsychologie, die Intro- und Extraversion erforscht, spricht man von einem Kontinuum. Das heißt: Menschen sind nicht einfach intro- oder extrovertiert, sondern meistens irgendwo dazwischen.

„Eine Erkenntnis aus meiner Forschung ist, dass selbst sehr introvertierte Menschen sich manchmal extrovertiert verhalten, und sehr extrovertierte Menschen verhalten sich manchmal introvertiert.“ Das sagt John Zelenski, Professor für Psychologie an der Carleton University im kanadischen Ottawa, der Extro- und Introversion erforscht.

Das stimmt auch bei mir: Obwohl ich gerne das komplette Wochenende alleine bin, gehe ich jeden Tag ins Büro. Allerdings bemerke ich abends, wie anstrengend die Präsenz der anderen für mich ist. Durch meine Umfrage habe ich noch Hunderte weitere Situationen gefunden, die für Introvertierte normal, aber für Extrovertierte oft schwer vorstellbar sind.

Für viele Extrovertierte undenkbar: Die Aura der anderen

„Wenn mehrere Menschen mit mir in einem Raum sind, fühlt es sich so an, als saugen sie meine Energie auf oder als hätten sie eine unsichtbare Aura, die mich beeinflusst.“ – Anonym

Das schreibt eine Person, die anonym bleiben möchte, in meiner Umfrage. Und beschreibt präzise, was viele Introvertierte kennen: Soziale Begegnungen kosten Kraft, und hinterher müssen wir uns „davon erholen“. Das hat nicht unbedingt etwas mit den jeweiligen Menschen zu tun, die wir treffen, sondern mit der Tatsache, dass andere Menschen für uns generell herausfordernd sind.

Jacob beschreibt es in meiner Umfrage so: „Ein Arbeitstag im Büro bedeutet, dass ich am Abend keine Energie mehr für Freunde oder klassische soziale Aktivitäten habe.“

Der Psychologe Hans-Jürgen Eysenck, einer der ersten Forscher zum Thema, sagte, Introvertierte würden in sozialen Settings eine starke Erregung erleben, die schnell zu einer Überstimulation führen könne. Und die fühlt sich an wie Überforderung und der Verlust von Lebensenergie. „Das ist heute keine führende Theorie mehr, aber sie erklärt möglicherweise, warum Introvertierte in sozialen Kontexten vorsichtiger und zurückhaltender sind als Extrovertierte“, so Zelenski.

Undenkbar: Stille ist Glück

„Völlig allein in einer dunklen und komplett stillen Wohnung zu sein und das als das Beste am Tag zu empfinden.“ – Anonym

Hast du dich schon einmal darauf gefreut, endlich eine Stunde alleine zu sein? Für viele Introvertierte ist das keine Ausnahme, sondern die Regel und das Highlight des ganzen Tages. Von dieser schlichten Ruhe haben einige Teilnehmer:innen meiner Umfrage berichtet.

Daniel schrieb: „Während Corona habe ich drei Wochen lang am Stück keinen Menschen gesehen oder gesprochen. (…) Ich fand das sogar sehr schön. Jeder Extrovertierte, dem ich das erzähle, kriegt sofort das kalte Grausen.“

Dabei war es für viele Introvertierte die Zeit ihres Lebens: Endlich mal keine Erklärungen mehr erfinden müssen, warum man schon wieder nicht zur Party kommt, lieber im Homeoffice arbeitet und heute leider keine Zeit hat, Freunde zum Kaffee einzuladen.

Psychologe Zelenski sagt: „Wenn Menschen alleine sind, erleben sie eine ruhige, energiearme Emotion – und genau das fühlt sich für Introvertierte gut an.“ Extrovertierten geht es anders. Sie suchen die Stimulation, das Aufregende und das Abenteuer.

Undenkbar: Nachdenken, dann reden (oder gar nicht)

„In einer Diskussion den eigenen Standpunkt erst einbringen, wenn man vorher genau über die Formulierung nachgedacht hat und dann beim Sprechen trotzdem das eigene Herz schnell schlagen spüren.“ – Sophie

Psychologe Zelenski sagt, Sophie würde womöglich befürchten, dass das, was sie sagen möchte, von anderen nicht akzeptiert werden würde. Vielleicht handelt es sich doch um eine soziale Angst? Ich schlage eine zweite Möglichkeit vor, Sophies Zitat zu lesen, die wertfreier ist:

Während Menschen, die sich unter anderen wohlfühlen, gerne plaudern, geht es Introvertierten anders. Aber nicht, weil sie etwas befürchten oder sich Sorgen machen. Jenn Granneman, Autorin des Buches „The secret lives of introverts“ schreibt: Introvertierte Menschen neigen dazu, ihre Ideen zunächst nur zögerlich mitzuteilen. „Selbst wenn wir es tun, brauchen wir mehr Zeit, um darüber nachzudenken, was wir sagen, und werden durch negatives Feedback eher gestört als extrovertierte Menschen.“

Auch mir fällt es schwer, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen – mit dem Mund. Schon immer hatte ich den Anspruch an mich selbst, erst dann zu reden, wenn ich wirklich etwas Sinnvolles zu sagen habe. Manchmal spreche ich überhaupt nicht, weil ich es nicht schaffe, in der Gegenwart des Geredes anderer ein Argument zu Ende zu denken. Meine These? Würden wir in Gesprächen Denkpausen einlegen, könnten wir Introvertierten Raum geben mitzureden. Apropos, Raum:

Undenkbar: Tanzen ohne Disco

„Ich liebe tanzen! In Clubs?! Im Leben nicht! Alleine? Jaha! Sowas von!“ - Anonym

Als ich diesen Satz las, musste ich lachen, weil die Begeisterung fürs Alleinetanzen so erfrischend anders ist – und mit einem weitverbreiteten Missverständnis aufräumt: dass Tanzen nur mit anderen möglich ist. Tanzbegeisterte zahlen sogar dafür, dicht beieinander zu pulsierenden Beats mit den Beinen zu wackeln. Je größer die Menge, desto besser.

Dass Tanzen und Extroversion zusammenhängen, ist wissenschaftlich belegt: Eine Studie unter Leitung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main zeigt, dass Menschen, die gerne tanzen, extrovertierter sind. Das ergibt Sinn, weil laut der Erstautorin der Studie „beim Tanzen und Singen der eigene Körper als Ausdrucksmittel eingesetzt wird.“ Und das liegt Extrovertierten mehr.

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Für viele Introvertierte ist Tanzen in der Disco ein überstimulierender Alptraum. Die laute Musik, das Sich-Gegenseitig-Anschreien, grell blinkende Lichter, die Gerüche von Schweiß, Alkohol und Rauch, fehlende Rückzugsorte – all das kann schnell einen Fluchtreflex auslösen. Manche lösen dieses Dilemma mit tückischen Hilfsmitteln.

Undenkbar: Trinken als Ausweg

„Alkohol- und anderweitiger Drogenmissbrauch, um aus sich rauszukommen.” – Laura

Lauras Worte treffen einen wunden Punkt: Wenn die Gesellschaft extrovertiertes Verhalten belohnt, versuchen manche, sich durch Drogen und Alkohol extrovertierter zu verhalten. Auf Hochzeiten, WG-Partys und Betriebsfeiern sollen wir uns spontan mit anderen unterhalten und „Spaß haben“.

Psychologe Zelenski sieht das differenziert: „In Maßen ist das nicht die schlechteste Strategie.“ Doch Laura spricht nicht von gelegentlichem Konsum, sondern von Missbrauch – ein wichtiger Unterschied.

Australische Forscher haben Alkohol als Hilfsmittel bei sozialer Angst an 454 Versuchspersonen genauer untersucht. Die Wissenschaftler:innen stellten einen spannenden Unterschied zwischen Angst und Vermeidung fest. Menschen, die trotz Angst vor sozialen Situationen diese aufsuchen und erwarten, dass Alkohol hilft, trinken mehr. Und die, die diese Situationen vermeiden, entsprechend weniger.

Für mich heißt das: Wenn du nicht nur introvertiert bist, sondern auch soziale Ängste hast, die du mit Alkohol kompensierst, ist es womöglich besser für deine Gesundheit, wenn du dich unerwünschten Momenten komplett entziehst. An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass es laut der Weltgesundheitsorganisation WHO keine gesundheitlich unbedenkliche Menge beim Alkoholkonsum gibt. Das Risiko für Schäden beginnt „beim ersten Tropfen“.

Was ich mich frage: Was können wir als Freund:innen, Eltern und Kolleg:innen tun, wenn wir wissen, dass jemand introvertiert ist, um ihn oder sie eben nicht unter Druck zu setzen?

So können Extrovertierte helfen

Um das herauszufinden, spreche ich mit Sylvia Löhken, die in Deutschland die Expertin zum Thema Introversion ist und mehrere Bücher darüber geschrieben hat. Sie sagt, zu Beginn könne es helfen, sich des „Similarity Bias“ bewusst zu sein.

Das bedeutet, dass wir Menschen bevorzugen, die uns ähnlich sind. „Deshalb stellen alte, weiße und männliche Firmenchefs besonders gerne junge weiße Männer ein.“

Diese Neigung gilt auch für Persönlichkeitsmerkmale wie Intro- und Extroversion. Wenn ich also extrovertiert bin, weiß ich, dass ich unterbewusst lieber mit Menschen in Kontakt stehe, die extrovertiert sind. „Gehen Sie mit einer Art Wissbegierde auf die andere Person zu“, sagt Löhken. Im Sinne von: Diese Person ist anders als ich und das ist interessant.

So bieten sich Fragen an, die nicht werten, und somit nicht den Similarity Bias bestärken. Zum Beispiel nach längeren Treffen: „Erzähl doch mal, wie war das gerade für dich?“ Und nicht fordernd zu verlangen: „Jetzt sag doch mal was!“ Dabei ist vor allem die Haltung wichtig, nicht die exakte Wortwahl. Wenn die introvertierte Person spürt, dass du wirklich an ihr interessiert bist, macht das einen großen Unterschied.

Für den Smalltalk, den eher introvertierte Menschen schwierig finden, bietet sich ein Brückensatz an, der signalisiert, dass dies kein Überfall ist. Löhken: „Nehmen wir an, ich finde das Muster auf Ihrem Hemd interessant, dann kann ich auf Sie zugehen: ‚Entschuldigung, darf ich Ihnen eine Frage stellen?‘ Dann könnte ich fragen: ‚Sie haben so ein interessantes Design auf Ihrem Hemd, das habe ich noch nie gesehen! Woher haben Sie das?“

Das sollte man Introvertierten nicht schenken

Für gemeinsame Aktivitäten im Freundes- und Familienkreis empfiehlt Löhken, allen Beteiligten Optionen zu ermöglichen, die für Extro- als auch für Introvertierte geeignet sind. Als Beispiel nennt sie dafür einen geplanten Reitausflug: „Eröffnen Sie damit zu fragen, wer aufs Pferd und wer mit der Kutsche fahren will.“

Keine gute Idee sind Escape-Rooms als Geschenk. Löhken: „Das ist doch der Horror! Mit anderen zusammen eingesperrt zu sein und man kommt nur raus, wenn man mit allen redet.“ Genauso schwierig ist Bungee-Jumping, weil es das Sicherheitsbedürfnis untergräbt, das bei Introvertierten stärker ausgeprägt ist.

Im beruflichen Umfeld können Meetings, bei denen Probleme besprochen werden, auch unter Berücksichtigung diverser Persönlichkeitsmerkmale geführt werden. Damit nicht nur Extrovertierte Raum einnehmen, die gerne sofort, lange und detailliert vor anderen sprechen (und damit die Diskussion steuern), bietet es sich an, den Prozess nicht verbal zu führen. Sondern alle aufzufordern, Lösungsvorschläge auf eine Karte zu schreiben – und diese an eine Wand zu pinnen.

„Schreiben ist eine introspektive Tätigkeit“, sagt Löhken. „Mit diesem Ansatz gewährleisten Sie einen hundertprozentigen Output von allen.“ Außerdem bekommen Introvertierte Zeit zu überlegen, was sie aufschreiben und Extrovertierte müssen sich etwas zurückhalten, weil auf der Karte begrenzt Platz ist. Brainstorming ist hingegen keine gute Idee. Das haben übrigens Extrovertierte erfunden, sagt Löhken.


Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos

Das ist für viele Extrovertierte undenkbar

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