Es gibt Aussagen, die immer wieder in meinem Gehirn herumspuken, als seien sie ein hartnäckiger Ohrwurm. In Dauerschleife wiederholen sie sich. Breiten sich aus, während ich versuche, sie mit anderen Gedanken zu verjagen. Aber wie mit einem Ohrwurm gelingt das nur mäßig.
Tausende negative Kommentare zu mir oder meinem Aussehen habe ich abgespeichert. Sei es zu dem Pullover, von dem ich dachte, dass er mir stehen würde. Oder zu der Tatsache, dass ich zwar wirklich handwerklich geschickt sei, nur, dass ich eben eines nicht könne: Löcher in Wände bohren. Ich erinnere mich, wie ich in meinem Schülerpraktikum bei einer Zeitung einen Zettel auf meinem Schreibtisch fand. Darauf hatte eine Redakteurin gekritzelt: „Lerne Kommaregeln!“
Von dieser Erinnerung habe ich vor Kurzem zum ersten Mal in unserem neuen Weird-Newsletter erzählt. Als ich auf „Senden“ klickte, hatte ich Angst. Davor, dass nur wenige verstehen, was ich beschreibe. Oder dass ich Antworten erhalte, die mir sagen, ich solle mich nicht so anstellen. Und ja, auch davor, dass jemand einen Kommafehler entdeckt.
Stattdessen erhielt ich Nachricht über Nachricht. E-Mails voll mit Erfahrungen und Geschichten, die mich berührten. Die vom Schmerz zeugen, die Kommentare verursachen können. Durch meine Umfrage in der KR-Community kamen nochmal mehr Berichte über Erlebnisse, die Jahre und manchmal Jahrzehnte zurückliegen und die Gegenwart beeinflussen. Wie lässt man so etwas los?
Was ich als Erstes gelernt habe: Ich bin nicht allein. Selbst David Remnick, der Chefredakteur des weltberühmten Magazins „The New Yorker“ ist und den Pulitzer-Preis gewann, DEN wichtigsten Preis im Journalismus, hat so ein Zitat im Kopf. Er war zur Verleihung des Literaturnobelpreises nach Stockholm geflogen, hatte den japanischen Schriftsteller Kenzaburō Ōe getroffen und ihn porträtiert. Und als Feedback auf den Text kam von seiner Redakteurin: „It’s basically okay.“ Also: Es ist im Grunde genommen in Ordnung.
Autsch.
Es ist ein Satz, der für immer in seinem Kopf leben wird, erzählte er in einem Podcast der Zeit. Mittlerweile tut er es schon seit 30 Jahren.
„Wer hat Ihnen eigentlich das Abitur gegeben?“
Der Anblick des Kommaregeln-Zettels, er war blassgrün, begleitet mich seit mehr als 15 Jahren und ploppt gelegentlich auf, wenn ich meinem Redakteur die erste Version eines Textes schicke.
Auch unsere Leser:innen tragen solche Erinnerungen und Sätze mit sich herum. Die meisten Leser:innen wollten nicht ihren Namen nennen, deshalb lassen wir ihn komplett weg. Die Geschichten habe ich hier gesammelt, weil sie deutlich machen: Viele leiden unter solchen Kommentaren. Und sie halten uns in gewisser Weise den Spiegel vor. Vielleicht ist man nicht immer nur die Person, die einen Spruch abbekommt, sondern auch die, die einen unbedachten Kommentar äußert. Das sind die Sätze, die unsere Leser:innen nicht mehr loslassen:
„55 Kilogramm sind das ideale Gewicht für eine hübsche Frau.“
Ich war 13 und denke 30 Jahre später immer noch daran, wenn ich mich wiege. Es hat mich als Jugendliche in eine Essstörung getrieben.
„Wer hat Ihnen eigentlich das Abitur gegeben?“
Ich habe seit dieser Aussage große Schwierigkeiten, meine Leistungen beruflich/akademisch selbst anzuerkennen und nicht auf glückliche Umstände oder mir wohlgesonnene Personen zurückzuführen. Oder auch gern: Ich täusche meine Fähigkeiten und Fertigkeiten nur vor und es ist eine Frage der Zeit, bis man mir auf die Schliche kommt.
Nach einem gemeinsamen Klogang mit einer Freundin als wir ca. 13 Jahre alt waren: „Du pinkelst wie ein Pferd.“ Hatte mir davor nie Gedanken dazu gemacht, aber bis heute probiere ich, auf dem Klo so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Außerdem der Kommentar eines Mitschülers laut durchs Klassenzimmer gerufen: „Lisa hat einen braunen Bart.“ Seitdem zupfe ich regelmäßig die dunkleren Haare über meiner Oberlippe und störe mich sehr an meiner Gesichtsbehaarung.
„Wirst du mit deiner Piepsstimme überhaupt ernst genommen, wenn du beim Bürgermeister anrufst?“
Ich war 19, Volontärin bei einer Tageszeitung, und habe dann erstmal das Rauchen angefangen. Der Satz hat mich 30 Jahre lang verfolgt, heute aber nicht mehr. Dem Typen, der ihn mir damals reingedrückt hat, würde ich trotzdem nochmal gerne vors Schienbein treten.
„Es bringt keinen Spaß, sich mit dir zu unterhalten.“
Ich war verunsichert, zurückhaltender und gleichzeitig wütend.
Meine Mutter sagte: „Du läufst wie der Teletaps.“
Ich war davon überzeugt, dass ich wirklich eine eigenartige Art zu gehen hätte. Für mein Selbstbewusstsein war das Gift. Jahre später sagte ein Kollege zu mir: „Du hast eine wunderschöne Art zu gehen.“ Da war es leider schon zu spät.
„Das hast du schon alles im Leben gemacht? Sicher, dass du nicht lügst?“
Ich versuche, in Gesprächen weniger über mich zu erzählen, lasse Dinge aus meinem Leben aus oder spiele Erreichtes herunter.
Mir hat mal ein Typ, auf den ich stand, gesagt, ich könne nicht tanzen, es sähe komisch aus. Vor Scham wollte ich in den Boden versinken und bis heute lässt mich der Satz nicht los. Seither tanze ich nicht mehr.
„Du bist halt anders als der Rest der Familie. Ein schwarzes Schaf halt. Aber damit stehst du auch gern im Mittelpunkt.“
Wenn dir ständig gesagt wird, dass du „anders“ bist, aber niemand greifen oder erklären kann, warum, fühlst du dich meistens nie ganz akzeptiert. Stattdessen fühlt sich das immer an, wie an Bedingungen geknüpft. Ich hab immer versucht zu maskieren und hab versucht, mich „runterzuregeln“, als wäre ich ein Radio. Insgesamt hab ich mich einfach falsch gefühlt, als hätten alle eine Bedienungsanleitung bekommen, wie das Leben funktioniert, nur ich nicht.
Durch den Negativity Bias brennen sich solche Kommentare ins Gehirn
Dass Negatives so viel schwerer wiegt als Positives, alles durchdringt, als sei es klein wie ein Molekül und gleichzeitig groß wie eine Gewitterwolke, die alles überschattet, weiß die Forschung schon seit den 1970er Jahren. Sie spricht von Negativitätsverzerrung und Negativity Bias. Immer wieder belegen Studien: Unser Gehirn reagiert stärker auf negative Ereignisse als auf positive.
Als Erklärung dafür heißt es oft, das sei evolutionsbedingt. Für unser Überleben sei es wichtiger, Negatives wahrzunehmen als Positives und zu vermeiden, einen Tiger oder giftige Maiglöckchen, die wie Bärlauch aussehen.
Klar, neben der Zettel-Erinnerung habe ich seither in meinem Gehirn auch zusätzlich und hoffentlich zuverlässig sämtliche Kommaregeln verzeichnet. Ich vermute aber, ich hätte sie auch ohne diese Erfahrung gelernt. Durch Übung, durch Schreiben. Stattdessen schrieb ich erstmal gar nichts mehr. Zu groß war die Angst KOMMA ein Komma zu vergessen.
So stand ich mir selbst im Weg, weil ich es nicht schaffte, loszulassen. Ich ließ zu, dass diese eine negative Aussage alles andere wegwischte. Es war egal, wie oft meine Texte und Ideen gelobt wurden. Für mich zählte nur diese eine Lücke zwischen zwei Worten oder Sätzen, an der dieses winzige Satzzeichen stehen sollte. Als würde die Lücke bestimmen, wie gut die Wörter und Gedanken sind, die sich um sie gesellen.
Kreisen die eigenen Gedanken nur noch um diesen einen Kommentar, überschreitet man womöglich die Grenze zwischen intensivem Nachdenken und Grübeln. Dann beginnt das Gedankenkarussell. Selten ist das zielführend. Selten findet man Lösungen. Stattdessen macht man sich zum doppelten Opfer: der Meinung anderer und der eigenen Verurteilung. Das zeigen auch die Erlebnisse, von denen KR-Leser:innen berichten:
Meine Mutter sagte einmal zu mir: „Deine Knie sehen in den Shorts zu dick aus.“
Ich habe ab diesem Moment an der Richtigkeit meines Körpers und meiner Einstellung zu ihm gezweifelt. Das und zwei weitere Kommentare zu meinem Aussehen führten mich, untergewichtig, in eine zehnjährige Essstörung.
„Du bist ein Pessimist!“
Ich habe diese Zuschreibung jahrelang einfach so akzeptiert und mich selbst als Pessimist und Schwarzseher bezeichnet, obwohl ich das eigentlich überhaupt nicht bin. Im Rahmen einer Therapie habe ich realisiert, wie sehr mich diese Zuschreibung geprägt hat.
Ein Freund hat mich mal ausgelacht, weil ich mich geschminkt hatte und zwar so richtig mit Grundierung und so weiter. Ich habe mich danach nur noch selten geschminkt, das ist jetzt kein Drama, aber das Lachen über mich wirkt nach.
„Das schaffst du sowieso nicht. Du hast kein Durchhaltevermögen.“
Seither habe ich ein mangelndes Selbstvertrauen
„Ganz schön laut, deine Tochter.“
Wenn ich eine Situation in einer Gruppe habe, in der ich etwas lebhafter war und viel erzählt habe, habe ich später ein schlechtes Gewissen. Generell fühle ich mich in Gruppen nicht so wohl und halte mich deshalb inzwischen eher zurück.
„Du hast aber eine spitze Nase.“
Ich finde meine Nase seither auch zu spitz.
Ein früherer Chef hat mir im Jahresgespräch nochmal aufgeführt, dass meine Präsentationskompetenz zu verbessern sei. Das wusste ich sehr gut selbst, da ich auf einer Veranstaltung einen Blackout hatte. Es war zudem schon Monate her. Es hat auf jeden Fall meine Angst vor Präsentationen verstärkt. Ich habe gut ein Jahr mit einer Therapeutin daran gearbeitet, aber nie über die Aussage meines Chefs gesprochen. Gerade lese ich das Buch „Feedback“ von Chris Wolf und sehe die Reaktion meines Chefs nun aus einem neuen Blickwinkel.
Das Fremdbild muss man nicht übernehmen
Wer diese Gedanken loslassen will, dem rät die Philosophin Natalie Knapp: „Man muss sich auch Geschichten des Gelingens erzählen, sich in einen Kontext einfügen, der mir ein Gefühl gibt, dass eine Veränderung möglich ist.“
Das Fremdbild muss nicht zum Selbstbild werden. Statt die kritische Stimme gegen sich zu richten, sich zu fragen, ob man wie ein Teletaps läuft, wirklich eine Piepsstimme hat oder zu dünn ist, könnte man sich fragen, was befähigt die Person überhaupt zu urteilen? Ist sie etwa ein Stimmexperte? Eine Gehexpertin? Ein Gewichtsexperte? Was wir nicht ändern können, ist die Vergangenheit und andere Menschen. Was man ändern kann, ist die eigene Sichtweise.
In Artikeln und Fachliteratur konnte ich folgende Tipps finden, die einem beim Umgang damit helfen. Stelle dir diese Fragen:
- Statt dich zu fragen, ob etwas stimmt, frage dich: Bringt es mir etwas, das zu glauben?
- Nur weil jemand etwas sagt, ist es nicht automatisch wahr. Frage dich: Ist das wirklich objektiv so, oder ist das nur eine subjektive Sicht?
- Höre auf, in der Vergangenheit zu verharren. Bleibe lieber im gegenwärtigen Moment und frage dich, wie du dich fühlst.
- Wer sind die Stimmen in deinem Kopf, denen du Gewicht gibst? Manchmal übernehmen wir unbewusst die Stimmen von Eltern, Lehrern und anderen. Feuere sie! Und tausche sie gegen wohlwollende, realistische Stimmen aus.
- Übe dich in Achtsamkeit: Statt eine Aussage zu glauben, sage dir: „Ich bemerke gerade, dass ich denke, ich sei zu laut.“ Dadurch erlangst du Abstand zu dem Kommentar und hast einen Zugriff auf deine Wut.
Heute kann ich die Erinnerung an den Komma-Zettel zwar noch immer nicht ganz loslassen. Aber ich übe es mehr und mehr. So zum Beispiel: Wer einen Kommafehler findet, darf ihn behalten!
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert