Mein Vater ist gestorben, als ich 18 Jahre alt war. Lange dachte ich, dass der Schmerz eines Tages von allein nachlässt. Aber geholfen hat mir etwas anderes.
Wie gelähmt blicke ich auf den Bildschirm meines Smartphones. Ich beginne am ganzen Körper zu schwitzen, am allermeisten auf meiner Brust. Darunter schlägt mein Herz bereits in rasendem Tempo. Das Beben schwillt an. Bumm, Bumm, Bumm hallt es durch meinen Körper. Bis ich denke, mein Herzklopfen müsste das gesamte Büro ausfüllen. Doch rund um mich hämmern meine Redaktionskolleg:innen weiter fleißig in die Tastaturen, es scheint niemand zu merken, was gerade in mir vorgeht.
Die Nachricht, die auf meinem Smartphone aufleuchtet, ist von meinem großen Bruder. „Wir haben gerade den Jumbo für 1.500 Euro verkauft“, schreibt er. Der Jumbo, das ist ein weinroter Kastenwagen, sechs Meter lang, drei Tonnen schwer. Mein verstorbener Vater hatte den vor mehr als zwanzig Jahren bereits gebraucht gekauft und zum Camper umgebaut. Jetzt war es langsam an der Zeit, den alten, klapprigen Wohnwagen in Rente zu schicken. Das wusste ich. Trotzdem trifft mich die Nachricht meines Bruders wie ein Blitz in mein Herz und löst in mir den totalen Notfallmodus aus.
Ich kenne diesen Zustand. Zum ersten Mal habe ich ihn vor knapp fünf Jahren erlebt, an dem Morgen, als mein Papa nicht aus dem Schlaf erwachte.
Nach ein paar Minuten kriege ich mich langsam wieder ein. Mein Herz schlägt wieder in seinem gewohnten Tempo, meine Brust ist nicht mehr klatschnass vor Schweiß. Tausend Gedanken rasen mir durch den Kopf. Und ich verspüre Wut. Wut auf mich selbst.
Ich gab mir nie die Chance, mich mit dem Tod meines Papas auseinanderzusetzen. Stattdessen drückte ich alles hinunter, so tief wie möglich, und sagte mir immer wieder: „Livio, du machst das toll, wie du mit Papas Tod umgehst.“ Ich hatte zwar begriffen, dass mein Papa gestorben ist, aber ich habe es nicht verarbeitet.
Ohne es zu wissen, hatte ich den Satz „Die Zeit heilt alle Wunden“ verinnerlicht. Ich glaubte, nichts tun zu müssen, um dieses Trauma zu verarbeiten, die Zeit würde es für mich erledigen, während Tage, Wochen, Monate und Jahre vergingen.
Falsch. Die Zeit heilt einen Scheiß.
Am liebsten hätte ich ein Jahr übersprungen
Ich war 18 Jahre alt, als mein Papa gestorben ist. Eine Woche zuvor hatte ich die Matura gemacht, so nennt man das Abitur in Österreich. Mein Leben konnte so richtig starten. Ich wollte in die weite Welt hinaus, so bald wie möglich von zu Hause ausziehen und reisen. Marokko, Indien, China. Ich hatte Pläne, ich hatte Hoffnung und ich hatte so richtig Lust aufs Leben.
Ich mit meinem Vater als ich zehn Jahre alt war. Wir waren in der Toskana in San Gimignano. Die Kamera hatte mein Vater immer dabei.
Dann, am 17. Juni 2020, krachte meine Welt zusammen. Meine Erinnerung an diesen Tag ist voller Lücken, aber ich weiß noch, dass ich den ganzen Tag in diesem Notfallmodus verbracht habe, von dem Moment an, als ich meinen Papa gegen zehn Uhr aufwecken wollte und spürte, wie kalt er war. Wie blau seine Lippen waren wegen des Sauerstoffmangels. Ich habe in dem Moment sofort gespürt, dass er nicht mehr lebte.
Bis zu diesem Tag war es für mich unvorstellbar, dass Eltern sterben können. Beziehungsweise, dass sie so sterben können. Plötzlich, ohne Vorwarnung, von einem Tag auf den anderen. Am Vorabend kam ich vom Feiern nach Hause, mein Vater war mal wieder am Küchentisch vor seiner Arbeit am Laptop eingeschlafen. Wie so oft weckte ich ihn auf und sagte ihm, er solle ins Bett gehen. „Gute Nacht Papa“, waren die letzten Worte, die ich zu ihm sagte, bevor ein Herzinfarkt sein Leben mit 56 Jahren beendete.
Ich weiß noch, wie damals unsere Wohnung im 9. Wiener Bezirk aus allen Nähten platzte. Als Erstes trafen Polizist:innen ein, als Nächstes kamen Sanitäter:innen und zuletzt der Notarzt. Während die alle durch die Wohnung stapften, saßen meine Mutter, mein Bruder und ich im Wohnzimmer auf dem Sofa. Zwei Mitarbeiterinnen des Kriseninterventionszentrums waren gekommen, um uns durch diese traumatische Situation zu leiten.
Damals sagte ich, ich möchte das nächste Jahr überspringen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man aus so einer Ausnahmesituation wieder zurück ins „normale“ Leben kommen kann. Vielleicht war es dem Schock geschuldet, vielleicht war ich auch einfach naiv, aber ich wollte so schnell wie möglich mit dem Tod meines Papas abschließen. Das Bild, wie er regungslos im Bett liegt, aus dem Kopf bekommen und die ganze Situation einfach hinter mir lassen.
Ich dachte, die Zeit wird es schon richten.
In unserer Kultur gibt es wenig Übung darin, Gefühle zuzulassen
Ich habe in der Krautreporter-Community nachgefragt, was unsere Leser:innen über den Spruch „Die Zeit heilt alle Wunden“ denken. Ich habe ehrliche, emotionale und bewegende Antworten bekommen.
Eva glaubt, dass der Satz nicht mehr ist als „ein leeres Versprechen, das Menschen sich selbst und anderen geben.“ Meike schreibt: „Die Zeit heilt nur dann alle Wunden, wenn du das auch zulässt und dich aktiv darum kümmerst, dass diese Wunden heilen dürfen.“ Corinna sieht das ähnlich, sie sieht in dem Spruch einen misslungenen Versuch, Trost zu spenden. Die Leute meinten damit eigentlich: „Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.“
Catherine Marten kann das bestätigen. Sie ist Trauerbegleiterin und spricht mit Menschen, die Verluste verarbeiten müssen. In ihrer Erfahrung dient der Satz „Die Zeit alle Wunden“ eher der Erleichterung der Menschen, die ihn aussprechen. Trauernde könne er dagegen unter Druck setzen. „Es kann sehr verletzend sein, wenn man das hört. Man fragt sich, wie lange darf meine Trauer eigentlich noch gehen?“
Dabei gibt es für Trauer weder einen vorgegebenen Zeitrahmen noch einen klaren, linearen Ablauf. Wichtig ist laut Marten nicht, wie viel Zeit vergeht, sondern ob Trauernde, sich genügend Raum nehmen, um den Verlust einer nahestehenden Person zu verarbeiten. Viele Menschen wüssten nicht, wie man mit Trauer umgehen soll – weder als trauernde Person noch als außenstehende. „Eigentlich bräuchte jeder einen Einführungskurs im Trauern. Ich glaube, in unserer Kultur gibt es wenig Übung darin, Gefühle zuzulassen.“
Kinder sind besser im Trauern, meint Marten. Sie hätten einen intuitiven Zugang dazu. In der Trauerforschung nenne man das „Pfützentrauer“: Kinder springen in die Trauer hinein wie in eine Pfütze, setzen sich kurz und intensiv mit ihren Emotionen auseinander und springen wieder aus der Pfütze hinaus, wenn es ihnen zu viel wird. Damit sorgen sie für eine Emotionsregulierung und ein Gleichgewicht, das bei Erwachsenen nicht immer da sei, sagt Marten. „Viele Leute denken, wenn ich nicht die ganze Zeit traurig bin, dann stimmt was nicht.“ Dabei sei es in Trauerprozessen enorm wichtig, auch Zeit für schöne Erlebnisse zu finden, um daraus Kraft zu schöpfen, sagt die Trauerbegleiterin.
Privat
Trauer kann krank machen
Trauer ist ein normaler menschlicher Vorgang. Schafft man es aber nicht, auch schöne Momente zu erleben, kann sich daraus eine Krankheit entwickeln. Dafür gibt es eine eigene Diagnose, die sich von einer Depression oder einer posttraumatischen Belastungsstörung abhebt: die anhaltende Trauerstörung.
Birgit Wagner ist seit 2014 Professorin für Klinische Psychologie und Verhaltenstherapie an der Medical School Berlin. Sie sagt, von einem pathologischen Krankheitsverlauf spreche man, wenn „die trauernde Person beispielsweise einen sehr starken körperlichen und seelischen Schmerz verspürt, eine große Sehnsucht nach der verstorbenen Person erlebt, sich stark zurückzieht und deswegen gar nicht mehr zur Arbeit gehen oder Hobbys wahrnehmen kann.“ In Deutschland leiden etwa fünf Prozent der Hinterbliebenen an einer anhaltenden Trauerstörung, sagt die Psychologin.
Besonders betroffen sind Hinterbliebene, wenn es sich beim Todesfall um einen Suizid, einen besonders traumatischen oder unerwarteten Tod handelt. Das zeigt eine Studie der Freien Universität Berlin und der Universitäten Utrecht, Twente und Groningen. Außerdem spielt es eine Rolle, wer gestorben ist: Das eigene Kind, die Partnerin oder den Partner oder eine Schwester oder einen Bruder zu verlieren, erhöht die Wahrscheinlichkeit, an einer anhaltenden Trauerstörung zu erkranken. In diesen Fällen sei eine psychotherapeutische Behandlung wichtig, sagt Birgit Wagner.
Wie viele Menschen wirklich an einer anhaltenden Trauerstörung leiden, ist derzeit schwer zu sagen. Fachleute geben Schätzungen zwischen einem Prozent (das sagt zum Beispiel Rita Rosner, sie ist Professorin für Klinische Psychologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt) und zehn Prozent (dieser Meinung ist die Schweizer Psychologin Clare Killikelly der Universität Zürich) der Hinterbliebenen an. Birgit Wagner sprach im Interview mit mir von fünf Prozent in Deutschland und neun Prozent weltweit.
Laut der oben genannten Studie der Freien Universität Berlin zeigen etwas mehr als die Hälfte der Befragten Symptome einer anhaltenden Trauerstörung, Depression oder posttraumatischen Belastungsstörung. Die Studie sagt dabei aber nicht aus, bei wie vielen der Befragten tatsächlich eine anhaltende Trauerstörung zu diagnostizieren wäre.
Schöne Erinnerungen helfen, auch wenn sie wehtun
Catherine Marten verlor ihren Vater, als sie 19 Jahre alt war. Wie mein Vater starb auch er an einem Herzinfarkt. „Ich war nur noch die, deren Vater gestorben ist. All eyes on you. Das ist total überfordernd“, sagt sie. Gleichzeitig erlebte sie damals viel Einsamkeit. Als Trauernde will man über seine Trauer reden und darin gesehen werden, aber viele Menschen sprechen einen nicht darauf an. „Sie denken, ich will dich ja nicht daran erinnern. Aber das ist ein komischer Gedanke, als ob man jemals vergessen würde, dass der Vater tot ist“, sagt Marten. Sie findet, Trauer müsse aus der Tabuzone kommen.
Das finde ich auch. Mir hat es geholfen, über meine Trauer zu sprechen. Ein Jahr nach dem Tod meines Vaters begann ich allmählich, mich zu öffnen, zunächst gegenüber meiner Partnerin, dann auch gegenüber Freund:innen und irgendwann auch gegenüber meiner Mutter und meinem Bruder. Ich erzählte von meinen Albträumen, in denen mein Papa wieder und wieder stirbt, meinen Schlafproblemen und meiner Angst, selbst an einem Herzinfarkt zu sterben.
Das war schmerzhaft, keine Frage. Aber es war notwendig. „Schmerz reinigt“, schrieb mir Krautreporter-Leser Matthias. Ich stimme ihm zu.
Darüber sprechen hilft, weil man sich in seiner Trauer gesehen fühlt. Aber auch, weil mit dem Reden Erinnerungen hochkommen. Schmerzlich-schöne Erinnerungen.
KR-Leser Alexander schrieb mir: „Als ich deinen Aufruf las, hatte ich sofort den Verlust meiner Eltern vor Augen. Dabei kommen Erinnerungen hoch, die schmerzhaft sein können. Aber positive Erinnerungen wirken wie eine Salbe, die Linderung verschafft.“
Als ich diesen Satz las, musste ich sofort wieder an den gerade verkauften Camper meines Papas denken, an den Jumbo. Im ersten Moment habe ich panisch reagiert. Jetzt kann ich darauf zurückblicken und darüber nachdenken, was der Wohnwagen eigentlich für mich bedeutet.
Privat
Die Narbe gehört zu mir
Ich verbinde viele schöne Erinnerungen mit dem Camper. In fast allen spielt mein Vater eine Rolle. Jumbo und Papa, für mich gehören die zwei zusammen wie Kaiser und Schmarrn.
Der Camper war auch meinem Vater sehr wichtig. Er hat den sechs Meter langen Mercedes Sprinter mit seinen eigenen Händen umgebaut, mit vier Schlafplätzen, zwei Herdplatten, Kühlschrank und sogar einem Klo.
Jeden Sommer sind wir nach Italien gefahren und haben gecampt. Wenn die italienische Mittagssonne während der Fahrt über die Strada del Sole auf die Motorhaube brutzelte, dann war es nicht immer angenehm im Jumbo. Aber mein Papa hat es trotzdem immer geschafft, meinen Bruder und mich bei Laune zu halten, sei es mit „Rote Autos zählen“-Wettbewerben oder dem Teekessel-Spiel. Manchmal dröhnte Vasco Rossi aus den Lautsprechern, wenn mein Papa sich mit seinen Musikwünschen durchsetzen konnte, manchmal durfte ich meine „Das magische Baumhaus“-Hörspiele hören. Langweilig war uns auf den Autobahnen Italiens eigentlich nie.
Der Jumbo ist für mich mehr als ein Auto. Er ist wie ein Schlüssel in meine Kindheit – eine glückliche Kindheit, die mir meine Mama, mein Papa und auch mein Bruder ermöglicht haben. Ich vermisse die langen Fahrten über die italienischen Autobahnen, die labbrigen Auto-Grill-Panini und sogar das Schnarchen meines Papas, das auf den Campingplätzen Italiens berüchtigt sein musste. Ich weiß, dass diese Zeit nie wieder kommen wird.
Aber das ist okay. Der Tod meines Papas hat eine Narbe hinterlassen. Die Narbe kann aufreißen, bluten wie am ersten Tag. Aber ich habe das Glück, schöne Erinnerungen zu haben, die Linderung verschaffen. Ich weiß heute, wie ich mich um die Narbe kümmern muss, wenn sie mal wieder schmerzt. Die Narbe gehört zu mir, sie macht mich zu dem Menschen, der ich bin.
Nicht die Zeit hat meine Wunde geheilt. Ich war es.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert
Vielen Dank an Gabriele, Ruth-Anne, Günter, Alexander, Meike, Benni, Diana, Lisa, Vincent, Franziska, Stefanie, Viviana, Beatrice, Matthias, Eva, Corinna, Janna, Christian, Yasemin, Bernd, Georg, Sascha, Andy, Heike, Jerry und Dominique für ihre E-Mails und die wirklich berührenden Erzählungen.