Wahlen waren in den vergangenen Monaten in Deutschland selten ein Grund zur Freude, zumindest nicht für diejenigen, die sich Sorgen um die Zukunft der Demokratie machen. Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg schnitt die AfD, die wegen rechtsextremer Tendenzen in Teilen der Partei umstritten ist, besorgniserregend gut ab. Und jetzt kommt 2025 noch eine Bundestagswahl, viel früher als erwartet.
Wir könnten die kommenden Monate damit verbringen, uns Sorgen darüber zu machen, in was für einem Land wir nach dieser Wahl leben werden. Damit tun wir unserem Gehirn allerdings nichts Gutes.
Evolutionsbedingt ist unser Gehirn darauf ausgerichtet, unmittelbare Gefahren abzuwenden. Mit lang andauernder Unsicherheit kann es dagegen extrem schlecht umgehen. Deshalb empfinden wir ständige Ungewissheit als besonders belastend. Es fehlt ein absehbares Ende, und keine greifbare Lösung ist in Sicht.
Das Warten auf potenziell schlechte Nachrichten kann deshalb quälend sein, im wörtlichen Sinne. Ein paar Beispiele:
Studien zeigen, dass die Angst beim Warten auf schlechte Nachrichten größer sein kann als in dem Moment, in dem sie dann tatsächlich eintreffen. Eine Untersuchung unter Jurastudierenden ergab, dass das wochenlange Warten auf die Prüfungsergebnisse ihr persönliches Wohlbefinden stark beeinträchtigte. Vor allem am Anfang und am Ende der Wartezeit berichteten die Teilnehmer:innen von erhöhter Angst und Schlafproblemen.
Eine andere Studie fand heraus: Wenn wir einen schmerzhaften Stromschlag mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit erwarten, sind wir nervöser, als wenn wir sicher wissen, dass der Stromschlag kommen wird. Und Frauen, die auf die Ergebnisse einer Brustgewebeprobe warteten, hatten in einer Studie ähnlich hohe Stresshormonwerte im Speichel wie Frauen, die gerade erfahren hatten, dass sie Krebs haben.
Wenn wir an die Neuwahlen und den möglichen Erfolg der AfD denken, passiert genau das: Wir erwarten den Schmerz – und machen damit vieles noch schlimmer. Der Stress belastet und hilft nicht. Die gute Nachricht: Wir sind dem nicht schutzlos ausgeliefert. Wir können es diesmal und auch in allen bevorstehenden Krisen anders machen. Wir können eine Strategie anwenden, die fast niemand kennt und die für unser Gehirn und unser Handeln viel besser funktioniert, als uns das Schlimmste auszumalen.
Pessimist:innen sind unerschütterlich
Wir Menschen sind erstaunlich gut darin, akute Krisen zu überstehen. Studien zeigen, dass Menschen und Gruppen in unerwarteten Krisensituationen ihre Anpassungsfähigkeit und Belastbarkeit verbessern. Das kann positive langfristige Veränderungen bewirken. Manche Wissenschaftler:innen betonen sogar, dass die Mehrheit der Menschen auch nach traumatischen Ereignissen, wie schweren Verlusten oder chronischem Stress, keine nachhaltigen psychischen Erkrankungen entwickelt, sondern stattdessen Resilienz zeigt und neue Bewältigungsstrategien aufbaut.
Plötzlich auftretende Krisen können uns trotzdem aus der Bahn werfen. Aber in einer konkreten Krise reagieren Menschen oft erstaunlich gut und pragmatisch. Das zeigten in den vergangenen Jahren etwa die Flutkatastrophen im Ahrtal und in Spanien. Viele Menschen setzten Notfallpläne um, halfen Nachbar:innen, organisierten Unterstützung und handelten zielgerichtet und effektiv. Die Angst tritt in Situationen wie diesen oft in den Hintergrund, weil das Gehirn in den Überlebensmodus schaltet und sich auf konkrete Handlungen konzentriert. Anders ist es, wenn wir permanent auf eine Krise warten, die uns eventuell bevorsteht – eventuell aber auch nicht.
Wenn wir uns belastende Gedanken über die Zukunft machen, fühlt sich das nicht gut an. Wir grübeln über mögliche Probleme, was uns oft hilflos oder gestresst fühlen lässt. Manche Forscher:innen meinen sogar, dass Menschen sich nur begrenzt viele Sorgen machen können. Das heißt, wer sich intensiv um ein Thema sorgt, hat weniger Raum, sich über andere Dinge Gedanken zu machen.
Gleichzeitig sind Sorgen wichtig, denn sie können uns motivieren, aktiv zu werden. Wir spenden Geld, engagieren uns politisch und kaufen Haftpflichtversicherungen. Als im Januar 2024 das Recherchezentrum Correctiv Informationen über ein geheimes Treffen von Rechtsextremisten veröffentlichte, bei dem ein „Masterplan“ für die massenhafte Abschiebung von Menschen aus Deutschland diskutiert wurde, gingen Hundertausende dagegen auf die Straße.
Und wenn etwas eintritt, das wir befürchtet haben, kann die Sorge uns schützen. Menschen, die sich Sorgen machen, werden von schrecklichen Nachrichten weniger erschüttert. Sie haben sich schließlich auf den schlimmsten Fall vorbereitet. Pessimist:innen stehen nach der Katastrophe selbstbewusst vor ihren Kollegen oder Freundinnen und verkünden: Ich habs euch doch gesagt!
Diese Art der Sorge unterscheidet sich von allgemeiner Besorgnis, weil sie nicht nur negative Gefühle mit sich bringt, sondern Menschen auch hilft, sich auf Veränderungen einzustellen. Es ist also wichtig zu verstehen, welche Art Sorgen wir uns gerade machen, welche uns weiterhelfen und welche uns lähmen.
Sorgen machen uns dümmer, als wir sein müssten
Vielleicht wird man die Jahre nach 2020 später mal als die Jahre der großen Sorgen beschreiben. Während der Pandemie sorgten wir uns praktisch ununterbrochen: darüber, jemanden anzustecken, ob die Schulen wieder schließen, ob wir unseren Job verlieren. Die Jahre darauf waren nicht viel besser, es gab jede Menge Grund für weitere Sorgen. Der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, die um das Klima ist sowieso ständig da. Nun haben wir gerade die US-Wahlen überstanden, und schon stehen in Deutschland Neuwahlen an. Wir kommen aus den unsicheren Zeiten und dem Sorgenmachen gar nicht mehr heraus.
Es ist also wenig überraschend, dass sich viele unserer Leser:innen konstruktive, aufbauende Texte von uns wünschen. Als wir in einer Umfrage wissen wollten, was ihr in diesen Zeiten von uns erwartet, war dieser Wunsch unter den 550 Antworten mit fast 60 Prozent die häufigste Antwort. Alle weiteren Wünsche, wie Analysen zur Trump-Wahl oder zum Ampel-Chaos, kamen erst mit weitem Abstand dahinter.
Und das aus gutem Grund. Sorgen machen uns krank. Wer sich ständig sorgt, schläft schlechter. Das Immunsystem wird schwächer. Das Risiko für psychische Krankheiten steigt. Stress und Angst machen uns dümmer, als wir sein müssen (mehr dazu in diesem Text). Hilflos greifen wir zum Handy und versuchen, uns mit möglichst vielen Informationen die Sorgen zu nehmen, bewirken aber oft genau das Gegenteil. Wir glauben, dass wir uns auf das Schlimmste vorbereiten, verschwenden stattdessen aber viel Zeit damit, uns schlecht zu fühlen. Das Gehirn verwechselt in diesem Fall Beschäftigtsein mit Handeln. Es glaubt, dass das ständige Auseinandersetzen mit der Sorge hilfreich ist, obwohl es uns letztlich nur weiter belastet und uns Energie raubt.
In Zeiten, in denen negative Ereignisse ständig in Aussicht sind, kann das nicht die Lösung sein.
Optimist:innen sind zu naiv
Optimist:innen hingegen werden oft als naiv dargestellt. Schnell heißt es, sie redeten sich die Welt schöner, als sie ist. In der Kognitionsforschung gibt es mittlerweile einen Begriff dafür: unrealistischer Optimismus oder auch Optimismus-Bias. Forscher:innen der Universität Birmingham und des Max-Planck-Instituts für Stoffwechselforschung definieren ihn als „die Tendenz von Menschen zu glauben, dass sie weniger wahrscheinlich negative Ereignisse erleben und eher positive Ereignisse erleben werden als andere Menschen.“
Und das hat Folgen: Im Casino glauben wir, dass wir bessere Chancen auf einen Gewinn haben, als es uns die Statistiken eigentlich verraten (sonst würden dort nicht so viele Menschen zocken). Ein Großteil der deutschen Autofahrer:innen glaubt, besser als der Durchschnitt zu fahren (was mathematisch unmöglich ist). Wenn wir Arzttermine und Vorsorgen vernachlässigen, dann auch, weil wir glauben, dass ernste Krankheiten uns selbst bestimmt nicht erwischen. Und einer der beiden Autor:innen dieses Textes hat erst kürzlich an einer Traumhaus-Verlosung teilgenommen (wir verraten natürlich nicht wer), weil er dachte: Vielleicht klappt es ja zufälligerweise dieses Mal!
Wir erzählen uns häufig – bewusst oder unbewusst – Geschichten, die uns in der Zukunft besser dastehen lassen. Ein Problem von unrealistischen Erwartungen ist, dass sie unsere Vorstellung von der Zukunft verzerren können und möglicherweise zu Entscheidungen führen, die nicht der Realität entsprechen (das Traumhaus ging überraschenderweise an jemand anderen …).
Optimismus allein ist also nicht die Lösung. Aber pragmatischer Optimismus in Kombination mit vorsorglichem Pessimismus kann Teil einer sehr effektiven Strategie sein.
Wir sollten ganz bewusst sehr optimistisch sein
Bei Casinobesuchen oder beim Lottospielen sind die negativen Effekte einer zu optimistischen Einstellung offensichtlich (man kann sehr viel Geld verlieren). Wenn es aber um Ereignisse geht, die man selbst gar nicht in der Hand hat, so wie bundesweite Wahlen, kann Optimismus uns sogar schützen.
Kate Sweeny ist Psychologin an der University of California. Im Jahr 2012 veröffentlichte Sweeny das „Uncertainty Navigation Model“, ein Modell, das untersucht, wie Menschen in belastenden Wartezeiten denken, fühlen und handeln. Ihre Forschung umfasst verschiedene Personengruppen, darunter die Jurastudierenden, die auf Ergebnisse warten, und die Frauen, die um Brustbiopsie-Ergebnisse bangen. Während der COVID-19-Pandemie wurde Sweenys Arbeit besonders relevant, da viele Menschen weltweit mit anhaltender Unsicherheit leben mussten. Auf Basis ihrer Erkenntnisse hat sie eine Strategie entwickelt, die Optimismus und Pessimismus kombiniert. Entscheidend dabei ist das richtige Maß.
In der ersten Phase einer möglichen bevorstehenden Krise geht es darum, möglichst optimistisch zu sein. Und das am besten, bis das Ereignis eintritt. Für die Neuwahlen heißt das: Bis zum Wahltag selbst sollte man Gutes vom Ausgang dieser Wahl erwarten. Das ist gar nicht so einfach. Drei Dinge sollen einem dabei helfen:
Erstens: Kontrollieren, was man kontrollieren kann. Im Fall der Wahl heißt das: den Kandidaten oder die Kandidatin unterstützen, die der eigenen Meinung nach gewinnen sollte. In der einfachsten Variante bedeutet das, diese Person zu wählen. Etwas aufwändiger ist es, den Wahlkampf ihrer Partei aktiv zu unterstützen – selbst dann, wenn man nicht mit allen Inhalten dieser Partei übereinstimmt. (Seien wir mal ehrlich: Wer tut das schon?)
Wichtig ist, dem Drang zu widerstehen, sich ständig rückzuversichern, dass man auf dem richtigen Weg ist und die gewünschte Person Erfolg haben wird. Umfragen vor den Wahlen lagen schon so oft erschreckend weit daneben, dass wir sie getrost ignorieren können.
Wäre ein Sieg der AfD gar nicht so schlimm?
Der zweite Tipp von Sweeny kostet Überwindung: Man soll sich eine Minute Zeit nehmen, um aufzuschreiben, was alles gut wäre, wenn der falsche Kandidat oder die falsche Kandidatin gewinnt. Könnte es für diejenigen, die das Problem bislang geleugnet haben, ein Weckruf sein, wenn die AfD zur stärksten Partei werden würde? Würde die Partei ihre Wählerschaft verlieren, wenn ihre Anhänger:innen erkennen würden, dass die AfD ihre Versprechen nicht halten kann? Das Fachwort dafür lautet „Preemptive Benefit Finding“. Ungelenk könnte man das mit „präventiver Nutzenfindung“ übersetzen.
Es kann sich riskant anfühlen, eine optimistische Perspektive auf ein Worst-Case-Szenario einzunehmen. Es geht hier auch nicht darum, Faschisten zu normalisieren. Sondern erstmal nur um unser Wohlbefinden bis zur Wahl. Und da ist die Forschung ziemlich eindeutig: Studien zeigen, dass dieses präventive Nutzenfinden sowohl das Warten erleichtert, als auch den Schock reduziert, wenn der Moment des Schreckens gekommen ist. Das heißt auch: Wir bleiben handlungsfähig, wenn unsere Befürchtung eintritt.
In einer Studie mit über 700 Amerikaner:innen zur Präsidentschaftswahl 2016 fanden Sweeny und ihr Team heraus, dass Hillary-Clinton-Anhänger:innen, die sich mental auf eine mögliche Niederlage eingestellt hatten, weniger hart von Clintons Niederlage getroffen wurden. Sie konnten sich schneller wieder fangen und auf anderen Wegen für Veränderungen einsetzen.
Der dritte Tipp ist unser Lieblingstipp. Eine große Herausforderung beim Warten auf ein möglicherweise schlechtes Ereignis ist es, die Zeit zu überbrücken, ohne sich dabei elend zu fühlen. Sweeny empfiehlt dafür Ablenkung, aber nicht durch endloses Scrollen auf X oder Instagram. Stattdessen helfen Aktivitäten wie Sport, Meditation, Malen, Singen, Joggen, Schwimmen oder Kochen, also alles, was uns in einen Flow-Zustand bringt. Denn manchmal ist der beste Weg, mit einem Risiko umzugehen, dass man nicht kontrollieren kann, einfach etwas zu tun, das man selbst in der Hand hat.
Und schließlich: Voll rein in die Katastrophe!
Sweenys Strategie hat, wie beschrieben, zwei Phasen. Die erste dauert länger und strotzt vor pragmatischem Optimismus: bis zur erwarteten Krise zuversichtlich darauf blicken, das schlimmstmögliche Szenario auf positive Seiten abklopfen und die Zeit bis dahin angenehm überbrücken. Die zweite Phase ist kurz, aber heftig. Sie ist eine Form von vorsorglichem Pessimismus. Man stellt sich das Schlimmste vor, um besser gewappnet zu sein. Am Tag des Ereignisses selbst (in unserem Fall am Tag der Neuwahlen in Deutschland) sollte man mit dem Ergebnis rechnen, das man am schlimmsten finden würde. Was nicht bedeutet, den Untergang des Landes heraufzubeschwören. Man soll sich einfach vorstellen, dass die Partei, die man selbst wählt, verliert. Und der politische Gegner gewinnt. Sich den Schrecken ausmalen, ganz detailliert. Mit diesem unangenehmen Gefühl soll man sich einige Minuten lang beschäftigen. Und am besten noch aufschreiben, was man fühlt, wo im Körper man Unwohlsein spürt.
Laut Sweeny bereitet diese Strategie Menschen auf den Moment vor, wenn das Schlimmste eintritt. Aber ohne zuvor monatelang durch Angst und Stress den Alltag – und die eigene Gesundheit – anzugreifen. Gleichzeitig hilft sie, ein Gleichgewicht zu finden: Ein gewisses Maß an Optimismus kann helfen, die Zeit des Wartens weniger stressig zu gestalten, während vorsorglicher Pessimismus als zusätzliches Sicherheitsnetz dient, falls es zu Enttäuschungen kommt.
Und wenn die Katastrophe dann doch nicht eintritt, hat diese Strategie noch den schönen Vorteil, dass uns wenig so glücklich macht wie etwas, das besser ist, als erwartet.
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert