Für diesen Text habe ich Aryna und ihre Mutter Maryna mehrmals besucht. Ich habe mit ihnen einzeln und zusammen gesprochen, mir Dokumente, Behandlungsverträge und Videos aus der Zeit zeigen lassen. Hier erzählen Mutter und Tochter im Wechsel.
Kontrollverlust – Februar 2021
Maryna (46 Jahre): Aryna hat nie gesagt, dass sie sich dick fühlt. Und plötzlich beschloss sie: Ich will dünn sein. Richtig dünn.
Aryna (15 Jahre): Alles zerfiel: Der Unterricht fiel weg, Homeschooling funktionierte nicht wirklich, Freundschaften waren auf Eis gelegt. Meine Eltern ließen sich scheiden, später brach in meiner Heimat, der Ukraine, ein Krieg aus. Das einzige, worüber ich Kontrolle hatte, war mein Körper.
Maryna: Es war wie ein Sturm. Alles Schlechte passierte zur gleichen Zeit. Und dann wurde es noch schlimmer.
Aryna: Während der Pandemie war ich monatelang nicht draußen. Ich habe vergessen, wie echte Menschen aussehen. Auf Tiktok sah ich nur diese dünnen Mädchen. Früher hatte ich Katzenvideos, irgendwelche Witze über ukrainische Filme und Memes gesehen.
Maryna: Im Februar fragte sie mich nach Tipps für gesunde Ernährung und Sport. Ich sagte: Als 13-Jährige kannst du nicht ins Fitnessstudio gehen, aber du kannst zu Hause Sport machen.
Aryna: Ich habe mich einfach gesünder ernährt. Meine Mutter hat mir geholfen, sie hat Avocado-Toast zum Frühstück gemacht. Mittags aß ich, was Bodybuilder essen: Hähnchenbrust, Reis und Brokkoli. Dasselbe zum Abendessen.
Maryna: Sie ist eine Perfektionistin. Das war sie schon immer. Ich erinnere mich, wie ich während der Pandemie von zu Hause arbeitete. Neben mir am Boden Aryna, die wieder mal ein Workout machte. Ich sah ihr Gesicht, sie sah traurig aus.
„Was ist los?“ Sie sagte: „Mum, es bringt nichts!“
„Nein, nein, du musst nur dranbleiben. Bald siehst du Ergebnisse.“
Es hat mit guten Absichten angefangen, aber dann ist es wirklich schnell außer Kontrolle geraten.
Aryna: Ich sah immer mehr Videos: Iss 1.200 Kalorien am Tag, dann wirst du abnehmen. Also habe ich Kalorien gezählt. Süßigkeiten habe ich komplett gestrichen. Nicht mal ein Kinderbonbon erlaubte ich mir.
Maryna: Als sie die ersten Ergebnisse sah, war sie nicht mehr zu bremsen.
Aryna: Es war wie eine Droge. Wenn ich eine Zahl auf der Waage erreicht hatte, wollte ich eine niedrigere und dann eine noch niedrigere erreichen.
Aryna und ihre Mutter Maryna. © Moritz Hilker
Traumkörper – Juni bis September 2021
Maryna: Im Sommer fuhren wir zu meinen Eltern nach Mariupol ans Meer. Ich machte Fotos von Aryna und dachte, wow, sie sieht perfekt aus!
Aryna: Ich wog 47 Kilo und hatte meinen Traumkörper. Doch im Urlaub bewegte ich mich viel. Und verlor noch ein paar Kilo.
Maryna: Es war mein Ex-Mann, zurück in Berlin – Aryna und ihr Bruder leben bei ihm und mir im Wechsel – der sagte: „Oh mein Gott, ist sie dünn! Viel zu dünn.“
„Findest du?“, fragte ich ihn. „Vielleicht hast du recht.“
Ich redete mit ihr: „Vielleicht solltest du weniger Sport machen oder mehr essen?“ Aryna sagte: „Auf keinen Fall, ich fühle mich so gut!“
Wir hatten einen riesigen Streit, auch, weil mein Ex-Mann und ich entschieden, Tiktok und Youtube zu sperren.
Aryna: Die ganzen Workout-Videos kannte ich schon auswendig.
Maryna: Irgendwann musste ich wieder zurück ins Büro und war tagsüber nicht mehr zu Hause. Als ich abends in die Wohnung kam, lagen die Sportsachen oft anders da als am Morgen.
Aryna: Es war die erste Schulwoche im September, an einem Abend. Mein Vater hat gesagt: „Warum gehst du so oft auf die Toilette? Hast du Probleme, weil du abgenommen hast?“ Da habe ich gesagt: „Nein, hör auf.“ Ich war genervt. Ich war müde. Er wurde misstrauisch: „Geh mal auf die Waage.“ Ich sagte: „Nein, ich möchte nicht.“ Und dann hat er gesagt: „Wenn du jetzt nicht gehst, bringen wir dich in die Klinik.“ Also habe ich mich auf die Waage gestellt. Da haben sie es gemerkt.
Maryna: Sie wog 43 Kilo. Wir berechneten ihren BMI: Sie war untergewichtig.
Aryna: Ich mochte die 43 Kilo.
Maryna: Wir fuhren in die Klinik. Zum ersten Mal. Wir sagten ihr: „Wir werden deinen Zustand überprüfen lassen, wir werden um Vorschläge bitten und sehen, ob es kritisch für dich ist, wir sollten mit einem Arzt sprechen.“ Sie fing an zu weinen und versprach, sie würde vernünftiger werden. Wir haben ihr geglaubt. Oder auch nicht – aber wir haben gesehen, wie verängstigt sie war. Richtig verängstigt. Wirklich. Ich weiß noch, mein Ex-Mann und ich haben uns angeschaut und beschlossen, okay, vielleicht klappt es anders. Sie hatte es uns so sehr versprochen. Wir kehrten zurück nach Hause.
Betrug – Oktober 2021 bis September 2022
Aryna: Ich nahm zu. Aber ich war unglücklich, weil meine Hosen nicht mehr so passten wie mit 43 Kilo.
Maryna: Silvester feierten wir in meiner Wohnung. Aryna trug ein wunderschönes Kleid. Sie sagte: „Mach ein Foto von mir, für Instagram.“ Ich habe eine Menge Fotos gemacht. In unterschiedlichen Posen, aus unterschiedlichen Winkeln, mindestens 20. Ich sagte: „Okay, Aryna, wähle einfach eins aus und poste es, wenn du willst.“ Sie wischte durch die Bilder, konnte sich nicht entscheiden und wurde sehr, sehr traurig. Sie war absolut niedergeschlagen. „Was ist?“ Sie sagte: „Muuum, ich bin so fett.“
Aryna: Als hätte sich jemand in mein Handy eingeschlichen und das Bild breiter gezogen, paarmal. Ich hasste meinen Körper. Ich wog 46 Kilo und fühlte mich fett.
Maryna: Das war sie natürlich nicht. Sie hat sich mit sich selbst verglichen, vor ein paar Monaten. Ich habe sie in ihr Zimmer gebracht und wollte sie beruhigen. Sie sagte die ganze Zeit: „Mama, ich glaube dir nicht, wenn du sagst, ich bin schön. Du lügst, weil du meine Mama bist.“
Was sollte ich sagen? „Schau dir deine Beine an, bitte. Sieh dir deinen schönen Körper an. Du bist perfekt!“
„Ach“, sagte sie, „Mama, ich glaube dir nicht.“
Das war der Zeitpunkt, an dem sie beschloss, wieder abzunehmen.
Aryna: Ich wollte wieder so aussehen wie im Sommer, das sagte ich meinen Eltern. Nur zwei Kilo sollten runter. Als ich das geschafft habe, habe ich ihnen gesagt: „Guckt, mein Gewicht ist wie im Sommer.“ Sie sagten: „Fein, aber mache jetzt bitte nicht weiter.“
Maryna: Sie hat weiter abgenommen.
Aryna: Drei Proteinpuddings aß ich am Tag, damit ich das bisschen Muskelmasse, das ich hatte, beibehalten würde. Und eine Dose Mais. Das wars. Das ist ein Drittel von dem, was ein Kleinkind braucht. Sie haben versucht, mir Sport zu verbieten. Da habe ich mir den Wecker auf 3 Uhr nachts gestellt. Bin aufgestanden. Habe zwei Stunden Workouts von Youtube gemacht, danach kurz am Waschbecken gewaschen, damit niemand aufwacht und mich wieder hingelegt. Ein paar Monate machte ich das jede Nacht, bis meine Eltern meine Bildschirmzeit sahen. Die zeigte an, dass ich nachts zwei Stunden online gewesen bin. Sie haben mir alle Apps geblockt. Aber ich hatte noch das Spazierengehen.
Maryna: Einmal versuchte sie, aus der Wohnung zu kommen, um ihre mehr als 40.000 Schritte zu gehen – das tat sie jeden Tag. Ich schloss die Tür ab. Sie schlug gegen die Tür: „Aufmachen! Aufmachen!“ Ich öffnete nicht. Dann rannte sie in ihr Zimmer und schrie aus dem Fenster: „Helft mir! Sie hat mich hier eingesperrt!“
Aryna: Ich drohte: „Ich rufe die Polizei, wenn ihr mich weiter einsperrt!“
Maryna: Wir gaben nach. Wir waren hilflos. Seit Monaten suchten wir einen Therapieplatz für sie oder eine Klinik. Nichts! Ich habe so viele E-Mails geschrieben. Alle sagten: keine freien Plätze, Warteliste … Aber wir konnten nicht warten. Das hier war ein Notfall! Ich schrieb sogar an das Gesundheitsministerium.
Dann endlich, im April, fanden wir eine ambulante Klinik. Wir sagten uns, dieses Mal werden wir nicht zurückfahren. Sie war panisch: „Werdet ihr mich ins Krankenhaus einliefern?“ Es war kein Krankenhausaufenthalt. Nur eine Kontrolle. „Aber wenn sich nichts ändert“, sagten wir, „musst du ins Krankenhaus.“ Der Arzt stellte fest, dass sie wieder untergewichtig war. Ab sofort sollte sie zu einer Therapie.
Aryna: Meine erste Sitzung war im April. Die lief immer gleich ab, ich wurde gewogen, mein Puls wurde gemessen. Dann sprach ich mit einer Psychotherapeutin. Sie fragte: „Warum isst du nichts?“ Da habe ich gesagt: „Ja, keine Ahnung, erklären Sie es mir, Sie sind doch die Therapeutin!“ Ich wollte gar nicht gesund werden. Ich habe mir gedacht: So mag ich meinen Körper viel mehr. Obwohl ich mich immer noch zu fett fühlte. Meine Wahrnehmung war eine ganz andere. Ich sah die Zahl. 37 Kilo. Und meinen Körper. Mit 37 Kilo ist man also fett, dachte ich. Wie soll man erst mit 48 Kilo sein? Mit Normalgewicht?
Maryna: Irgendwann im Herbst rief mein Ex-Mann an: „Wusstest du, dass Aryna beim Wiegen schummelt?“
Aryna: Fünf Liter Wasser konnte ich auf einmal trinken. Das habe ich vor jeder Sitzung gemacht und mein Gewicht hochgeschummelt. Als ich mal nicht mehr trinken konnte, habe ich mir eine Thermohose angezogen, einige Beutel Reis reingeschoben, darüber eine Schlaghose getragen, an den Bauch noch mehr Reis gepackt und einen weiten Pulli übergeworfen. So ging ich in die Klinik. Keiner merkte was. Einige Male ging das gut.
Maryna: Es hatte 20 Grad draußen und Aryna trug diesen warmen, riesigen Hoodie. Sie wollte sich rausschleichen. Da rief mein Ex-Mann sie zurück ins Wohnzimmer. Und da sah er Beulen unter ihrer Kleidung. Sie hatte sogar Steine in die Kleidung gesteckt. Er rief mich sofort an. Gemeinsam fuhren wir zur Klinik. Wir waren wütend. Nicht auf Aryna. Auf die Ärzte. Die nichts gemerkt hatten. Das ist ein Mädchen, das hierherkommt, weil sie stark untergewichtig ist, und die Ärzte haben sich nie gefragt, warum sie das ganze Zeug trägt? Sie haben sie nie gebeten, wenigstens den Kapuzenpulli auszuziehen. Was bringt es, sie mit all diesen Klamotten zu wiegen? Das macht doch keinen Sinn. Die Kleidung selbst wiegt ja schon was. In Arynas Fall kam es auf jedes Gramm an. Da sollte das Wiegen präzise sein. Natürlich sollte man sie nicht nackt ausziehen, aber man sollte sie bitten, zumindest die Schuhe oder die zusätzliche Kleidung auszuziehen. Aryna war während der ganzen Sache völlig verschlossen. Niemand wird gerne erwischt. Sie wollte es nicht erklären. Sie hatte auch nichts zu erklären. Es war offensichtlich. Aryna war inzwischen wie der wandelnde Tod. Das sah auch ein Arzt so: „Okay, das muss jetzt enden! Sie kann nicht unendlich viel Sport machen und nichts essen.“ Er gab uns diesen roten Überweisungszettel. Der bedeutete Krankenhausaufenthalt.
Aryna: Ich war in der Schule, als meine Eltern kamen. Sie sagten: „Wir müssen in einer Klinik ein paar Vorsorgeuntersuchungen machen lassen.“ Das war für mich schon normal.
Maryna: Wir sahen keine Chance, dass sie freiwillig mitgekommen wäre. Darum haben wir sie ausgetrickst.
Aryna: Als wir im Krankenhaus waren, sagten sie: „Du bleibst jetzt eine Zeit lang hier auf dieser Station, weil keine Essstörungsklinik in Berlin einen Therapieplatz hat. Hier wirst du wenigstens überwacht.“ Ich konnte mich von niemandem verabschieden.
Während ihrer Zeit in der Klinik malt Aryna und schreibt Tagebuch. © Moritz Hilker
Maryna: Wegen dieses roten Zettels, der Überweisung, mussten sie Aryna aufnehmen. Der Arzt dort sagte: „Okay, wir haben Ihre Unterschriften“, und er sagte zu Aryna: „Du musst auch unterschreiben.“ Wir haben uns gefragt: Was? Wovon redet der hier? Sie ist 13 Jahre alt und liegt im Sterben. Sie ist psychisch krank. Sie hat ihre Gesundheit absichtlich geschädigt. Und ihre Eltern sollen sie nicht retten dürfen? Das ist brutal. Er hat gesagt: „Das ist ein Gesetz!“
Aryna: Ich unterschrieb nicht.
Maryna: Wir mussten vor das Familiengericht. Das gab uns das Recht, über ihr Schicksal zu entscheiden.
Wir brachten sie in die Klinik. Wieder mit diesem roten Zettel. Aber das Problem war immer noch, dass sie sie nur für 24 Stunden nehmen wollten. Wir waren stinksauer. Wir hatten Todesangst um Aryna. Sie sagten: „Wir haben eine Warteliste und kaum Betten, kaum Personal.“ Vollkommen verständlich. Aber trotzdem, sie mussten sie aufnehmen. Wir hatten die Überweisung. „Aber halt nur für 24 Stunden“, sagten sie nochmal. „Von mir aus“, sagte mein Ex-Mann. „Wir werden jeden Tag zu diesem Arzt gehen und für die nächsten 24 Stunden eine neue Überweisung bringen.“
Protest – September 2022
Aryna: Als ich in der Spezialklinik war, habe ich meinen Eltern gesagt: „Ich werde hier nichts essen.“ Aus Protest.
Maryna: Sie haben sie dort überwacht. Das war das Einzige. Aryna hatte große Angst. Sie wollte nicht dort sein. Und sie hat ein Spiel angefangen: „Ich werde aufhören zu essen. Und ihr werdet sehen, dass ich dann fast sterbe und ihr werdet mich nach Hause bringen.“
Aryna: Es war wie ein Ultimatum. Und es war ihnen egal.
Maryna: Es war das erste Mal, dass sie ganz offen zugab, dass sie nichts isst. Vorher war es heimlich. Sie sagte immer: „Mama, ich liebe dein Mittagessen, das du für mich zubereitet hast.“ Und warf es weg. Die Ärzte sagten: „Wir beobachten sie. Und wenn etwas passiert, bringen wir sie in die Notaufnahme.“ Das ist interessant. Das medizinische System sollte doch solche Ereignisse verhindern? Man wartet also buchstäblich darauf, dass sie auf dem Boden zusammenbricht, bewusstlos, ohnmächtig wird. Und erst dann wird sie medizinisch behandelt? Es war absurd. Aber wir wussten auch, zu Hause wäre es noch schlimmer.
Aryna: Zuhause hätte ich mehr gegessen. Zehn Tage war ich auf der Station dort. Einmal aß ich drei Mini-Äpfel. Weil ich meinen Blutzucker ein bisschen höher haben wollte, den kontrollierten sie stündlich. Ich hatte gar keinen Hunger. Wenn man Anorexie hat, ist das Hungergefühl weg. Das Ghrelin, also das dafür zuständige Hormon, wird nicht richtig produziert. Ich hätte also ewig weiter kaum etwas essen können.
Maryna: Wir waren wütend und verängstigt und gerieten in Panik. Warum ist es so kompliziert, ihr Leben zu retten? Die Ärzte taten nichts, keine Zwangsernährung, keine Behandlung, sie überwachten nur den Puls.
Aryna: In einer Nacht hat der Pulsmonitor ständig gepiept. Jede Stunde. Die Betreuerinnen kamen rein, haben geseufzt und einen Knopf gedrückt. So ging es fünfmal. Nach dem sechsten Mal, als sie reinkamen, habe ich mir gedacht: na, so schlimm kann es ja nicht sein, aber gut, ich gucke mal, obwohl ich da eh nichts verstehen werde: Ich erinnere mich ganz genau an die 32 auf dem Pulsanzeiger.
Maryna: Wir wurden informiert. Nicht sofort. Der Anruf kam am nächsten Morgen. Ein Arzt sagte: „Es geht ihr jetzt gut.“ Das war eine Einrichtung, in der man nicht einfach so vorbeikommen kann. Es gab Besuchszeiten. Er meinte: „Warten Sie bis zum Abend. Dann können Sie vorbeikommen.“ Das haben wir gemacht.
Aryna: In der Nacht darauf ging das Alarmsystem wieder an. Als mein Vater abends wieder zu Besuch kam, erzählte ich ihm, dass es die ganze Zeit gepiept hat. Er wusste, dass es sehr kritisch ist, wenn es oft piept.
Maryna: Ihr Vater rief an, es war 21 Uhr. Er sagte: „Du musst herkommen.“ Ich fuhr hin. Aryna stand an der Heizung, als wir ins Zimmer kamen. Sie war nur noch Knochen, hatte blaue und grüne Haut. Sie trug zig Klamotten. Eine Jacke, einen Hoodie.
Aryna: Mir war eiskalt.
Maryna: Eine Ärztin, die Nachtschicht hatte, kam schläfrig dazu: „Was ist denn los?“ Wir sagten: „Ihr müsst sofort etwas tun, ihr müsst sie woanders hinbringen!“ Hier gab es keine Behandlung, nur Beobachtung und Messung. Und das ist alles. Keine Sondennahrung. Oder wenigstens ein paar Injektionen mit Vitaminen oder Nährstoffen. Nichts. Das ist nicht normal, dass ein Kind dabei ist zu sterben und dass ihm nicht geholfen wird!
Aryna: Um ehrlich zu sein, ich war darauf eingestellt zu sterben. Ich habe mir gedacht, ob ich hier sterbe oder woanders … Ich habe keinen Sinn im Leben gesehen. Ich hatte keine Freunde. Ich hatte eine schlechte Beziehung zu meiner Familie, weil ich so gemein zu allen war. Meinem Bruder habe ich gesagt, dass er der schlimmste Bruder der Welt sei. Hätte mein Vater an diesem Abend nicht um mich gekämpft, wäre ich vielleicht gestorben.
Maryna: Sie brachten sie in die Notaufnahme.
Aryna: Sie hoben mich in einen Rollstuhl und schoben mich auf die Intensivstation. Dort war ich ein paar Tage. Ich war voll verkabelt, überall wurde gemessen. Nach meinem Hungerstreik war meine Leber wohl am Absacken. Ich hatte den übelsten Eisenmangel. Eigentlich fehlte mir alles.
Maryna: Die Ärzte legten eine Sonde. Sie wurde zwangsernährt. Es war ein Alptraum, sie so zu sehen. Ich erinnere mich an ihr Gesicht mit diesem Schlauch. Ein sehr, sehr, sehr kleines, winziges, winziges Gesicht, ohne Wangen, ohne alles. Und dieser Schlauch. Und ich habe gesehen, wie eine Krankenschwester diese Nahrung hineingetan hat. Diese Substanz. Das ist etwas, auf das mich das Leben nicht vorbereitet hat.
Gleichzeitig fühlte ich mich nach allem, was wir durchgemacht haben, auch erleichtert. Ich wusste, dass dies ein erster Schritt nach vorn ist. Das ist eine echte Chance. Schlimmer, als sie mit der Sonde zu sehen, war es zu erleben, wie sie abnimmt und wir keine Hilfe bekommen. Darum dachte ich: Okay, das hier ist einfach absolut schrecklich und furchtbar. Aber als diese Krankenschwester sie mit der Sonde fütterte, hatte ich das Gefühl, jetzt tut sich wenigstens etwas. Und ich wusste, sie bekommt all diese Vitamine, Mikroelemente und so weiter. Wir hatten Hoffnung.
Aryna hat nur geweint. Ich habe gefragt: „Wie geht es dir damit? Tut es weh? Fühlt es sich unangenehm an?“ Ein Schlauch von der Nase in den Magen, das ist schwer vorstellbar. Sie sagte: „Ich fühle es nicht. Kein schlechtes Gefühl in der Nase oder im Rachen. Es ist in Ordnung. Es ist alles in Ordnung.“ Ich sagte: „Ja, gut. Okay.“ Sie fragte: „Wie siehts aus?“ Ich sagte nur: „Jetzt nicht in den Spiegel schauen!“
Aryna hat zugenommen, aber die ungesunden Gedanken ans Essen begleiten sie noch immer. © Moritz Hilker
Hunger – Oktober 2022 bis Januar 2023
Aryna: Nach einer Woche war ich stabil und kam auf die Psychosomatik-Station. Ich bekam einen Plan zur Gewichtszunahme: Acht Monate für 16 Kilogramm. Ich musste jede Woche 500 Gramm zunehmen. Weil meine Leberwerte so schlecht waren, wurde ich einen Monat lang über die Sonde ernährt. Die Ärzte befürchteten, dass meine Leber kein normales Essen vertragen würde, weil sie zu schwach war. Als ich dort ankam, wog ich 32 Kilo. Das System war so: Wenn ich zunahm, bekam ich etwas. Mehr Telefonzeit etwa. Mit 32 Kilo hatte ich keinen Ausgang, niemand durfte mich besuchen und ich durfte nur fünf Minuten am Tag telefonieren.
Maryna: Sie versuchten, sie zu motivieren. Ich war mit den Einschränkungen einverstanden. Du willst rausgehen? Dazu musst du erstmal körperlich in der Lage dazu sein. Also bitte iss doch! In ihren Gedanken fühlte sie sich fett und hässlich und sie dachte, wir wollten, dass sie das ist. Dabei ging es uns nur darum, dass sie wieder zur Schule gehen kann, dass sie wieder laufen kann, dass sie sich konzentrieren kann.
Aryna: Mit 500 Gramm mehr stieg die Telefonzeit auf zehn Minuten und eine halbe Stunde Besuchszeit. Ich sah meine Familie kaum, durfte nicht raus. Und zehn Minuten telefonieren …, in denen ich weinte und meine Mutter anrief. Die Krankenschwestern waren streng: Die Zeit sei vorbei. Und ich sagte: „Darf ich bitte noch ein bisschen mit meiner Mutter sprechen?“ Und sie sagten: „Nein.“
Maryna: Es war hart. Wir waren noch nie so lange getrennt. Ohne die Möglichkeit, sie zu sehen.
Aryna: Mein Bruder war allein zu Hause. Das tat mir leid. Als er mich das erste Mal im Krankenhaus besuchte, umarmte er mich. Am nächsten Tag erzählte meine Mutter, dass er den ganzen Weg nach Hause geweint hat, weil er mich umarmt und nur Knochen gespürt hat.
Maryna: Jedes Mal, wenn sie anrief oder wir vorbeikamen, war sie entweder traurig oder sehr gereizt. Sie hat sich oft beschwert: „Oh, Mama, ich kann nicht hier sein. Es ist wie im Gefängnis.“ Und sie schimpfte: „Ihr seid so beschissene Eltern. Andere Eltern kamen und holten ihre Töchter ab.“ Wir wussten, sie leidet. Aber wann ist man psychisch geheilt? Sie hatte sich ja kein Bein gebrochen.
Aryna: Schule und meine Zukunft sind mir das Heiligste. Ich will studieren. Ärztin oder Psychotherapeutin werden. Meine Eltern wiederholten tausendmal: „Du wirst deine Schule verpassen, du musst ein Jahr wiederholen.“ Ich habe mir gesagt: Nein, muss ich nicht, wenn ich schnell rauskomme. Und wenn ich was will, ziehe ich es durch. Da habe ich auf meine Krankheit geschissen. Also auf die Gedanken, dass ich nicht essen soll. Ich hatte die Gedanken trotzdem. Aber meine Strategie war: Ich komme raus mit dem Zielgewicht und nehme wieder ab.
Maryna: Wir dachten, es würde Monate oder fast ein Jahr dauern, bis sie entlassen wird. Aber dann hatte sie diese Idee. Aus den Gesprächen mit den Ärzten hat sie verstanden, dass es denen nur um eine Zahl ging, um das Gewicht. Nicht darum, was in ihrem Kopf passierte.
Aryna: Ich habe mir gedacht: Wenn ich schon die Möglichkeit habe, viel Ungesundes zu essen, warum also nicht? In der Nähe gab es einen Lidl. Da kaufte ich Schokolade und aß in fünf Minuten drei Tafeln. Ich habe Essen aus der Küche gestohlen und in meinem Schrank gehortet. Wie ein Hamster.
Maryna: Der Arzt hat mich mehrmals angerufen, dass Aryna Essen aus der Küche stiehlt. Und sie aß die Butter von den Tellern der anderen Mädchen. Sie informierten mich, dass sie Arynas Zimmer jeden Tag durchsuchen und nach Essen suchen werden.
Aryna: Weil sie jeden Tag mein Zimmer durchsucht haben, habe ich eine Tasse im Garten versteckt. Und ich habe jeden Tag eine Packung Haferflocken gekauft. Damit bin ich auf die Toilette gegangen und habe mir Haferflocken mit etwas Wasser gemacht. Drei Kilo pro Woche habe ich so zugenommen. Ich hatte noch diese Sonde, also sagten sie: „Oha, komisch, dass dein Körper so auf die Zwangsernährung reagiert. Eigentlich müsstest du nur 500 Gramm zunehmen.“ Dass ich am Tag etwa 5.000 Kalorien aß, merkten die nicht.
Maryna: Ich machte mir Sorgen. Ich wusste, je schneller sie zunimmt, desto schneller will sie auch wieder abnehmen. Wenn man langsam zunimmt, haben der Körper, der Geist und die Augen Zeit, sich daran zu gewöhnen. Ein paar Gramm mehr und noch mal. Aber wenn es drei Kilo pro Woche sind. Ihr Kopf und ihre Augen, wenn sie sich im Spiegel ansieht, gewöhnen sich nicht daran. Sie sehen: Oh mein Gott. So ein großer Unterschied.
Aryna: Sobald ich 34,5 Kilo wog, durfte ich am Wochenende länger nach Hause. Wenn dort zehn Euro herumlagen, habe ich die genommen. Für meine Einkäufe. Die Ärzte stellten irgendwann fest, dass ich von Freitag bis Montag sehr viel zugenommen hatte. Ich habe alles gegessen, was zu Hause im Kühlschrank war. Dann mussten meine Eltern unterschreiben, dass sie mir kein Geld oder Essen geben dürften.
Maryna: Ich konnte mir nicht vorstellen, ihr kein Essen zu geben, wenn sie darum bittet. Das verstand ich nicht.
Aryna: Die Ärzte haben um mein Leben gekämpft, weil ich zehn Tage lang nichts gegessen habe. Und dann verbieten sie mir das Essen? Ich habe trotzdem statt in acht, in zwei Monaten alles zugenommen. Am 28. Dezember wog ich 49,5 Kilogramm. Einen Tag nach meinem Geburtstag, am 4. Januar, wurde ich entlassen.
Maryna: Für uns war es sehr unerwartet, dass es so schnell ging. Es war nicht so, dass wir sie nicht zu Hause haben wollten. Aber sie hätte nicht entlassen werden dürfen. Sie ließ sich nicht behandeln. Sie hat einfach alles getan, um eine Zahl zu erreichen. Ich hatte Angst, dass alles wieder so wird wie früher. Es kam so, aber in anderer Form.
Die schwarzen Graphen zeigen Arynas Plan für die Gewichtszunahme. Doch sie nimmt viel schneller zu, wie die weiße Linie zeigt. © Moritz Hilker
Hoffnung – Januar 2023 bis Januar 2024
Aryna: Ich hatte niedriges Normalgewicht. Aber mir gings kacke. Als ich 2021 zunahm, wog ich 46 Kilo und fand ich mich schon fett. Jetzt wog ich so 49 und das auch noch ohne Sport.
Maryna: Es hatte keinen Sinn, sie wieder in eine Klinik einzuweisen. Sie war nicht untergewichtig. Wir suchten eine Psychotherapeutin.
Aryna: Ab April sprach ich wöchentlich mit einer Therapeutin. Sie hatte selbst Anorexie. Mir tut das leid für sie, aber mir hilft es, mit jemandem zu reden, der mich versteht. Durch sie weiß ich, dass ich nicht alleine damit bin. Sie versteht meine Gedanken, meine Zwänge.
Maryna: Wir dachten, das würde helfen. Doch Aryna log sie an.
Aryna: Ich habe mein Gewicht hochgeschummelt. Wir reden online, sehen uns über Video. Weil sie in der Ukraine lebt. Also sah sie immer nur mein Gesicht.
Maryna: Ich fühlte mich absolut nutzlos und hilflos. Aber an dem Punkt sah ich auch, dass ich nicht mehr tun konnte, als das, was ich schon tat. Ich konnte nicht 24/7 365 Tage im Jahr gestresst sein. Ich musste arbeiten. Ich habe noch ein Kind. Und ich dachte, okay, solange sie nicht untergewichtig ist und ihr Leben nicht in Gefahr ist, ist das für mich in Ordnung.
Aryna: Für eine kurze Zeit rutschte ich in die Bulimie, aß und übergab mich wieder. Aber meine Therapeutin erzählte mir Horrorgeschichten. Dass einem davon die Zähne ausfallen würden und so. Dann ließ ich das wieder. Danach hatte ich Essanfälle. Es war wie eine Sucht. Ich aß in kurzer Zeit sehr viel. Damit ich nicht zunahm, aß ich nur einmal am Tag. Immer abends. Danach legte ich mich ins Bett. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was ich jetzt gegessen hatte. Ob es zu viel war. Ob es auf meinen Oberschenkeln landen würde. Der Schlaf sollte die Gedanken stoppen. Es klappte: Durch das Binge-Eating hielt ich mein Normalgewicht. Und ich sah normal aus, aber ich war überhaupt nicht normal. Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen. Abends aß ich Fischstäbchen, Kartoffeln und rohes Hähnchen.
Maryna: Wenn sie nur einmal am Tag isst, okay, ich kann sie nicht füttern. Ich kann sie nicht zwangsernähren. Fein. Mach, was du willst. Geh zur Schule. Lebe dein Leben, sei sozial. Mit dem Rest musste ich mich abfinden.
Aryna: Wenn ich aufwachte, habe ich mich schuldig gefühlt. Was hatte ich gegessen? War es zu viel? Also machte ich Workouts. Auf Spaziergänge hatte ich keine Lust, diese 40.000 Schritte täglich vom letzten Jahr hatte ich satt. Ich wollte so viele Kalorien wie möglich verbrennen und machte ein Workout nach dem anderen. Bis zum Winter machte ich das so: tagsüber Sport und keine Mahlzeiten und abends viele Proteine.
Bis mir meine Therapeutin sagte, dass unabhängig vom Gewicht man mich trotzdem in die Klinik bringen könnte, weil mein Essverhalten sehr ungesund ist.
Maryna: Wir sagten ihr: „Wenn du nicht normal isst, musst du wieder in die Klinik.“
Aryna: Ich wollte auf keinen Fall zurück. Dann wurde ich krank. Irgendwas mit Magendarm. Drei Tage lang lag ich nur rum, sogar zur Toilette zu gehen war schwer. Ich nahm ab, übergab mich. Irgendwie erinnerte mich das an die Zeit in der Klinik und ich dachte: Entweder ich lande auf der Intensivstation und dann ist wieder alles weg, Schule, Freunde – oder ich ändere was. Ich kann mich noch an den Moment erinnern, als ich mein erstes Frühstück aß. Das war am 7. Januar 2024. Ein Sonntag. Mit meiner Familie. Am Wochenende frühstücken wir immer gemeinsam. Ich weiß noch, wir saßen bei meinem Vater am Tisch. Meine Oma aus der Ukraine war online zugeschaltet. Und da habe ich vor meiner Oma diesen Toast genommen. So ein Avocado-Toast. Und mein Vater sagte: „Du schaffst das.“ Und es klappte. Und mit jeder Mahlzeit wurde es einfacher.
Maryna: Seit Neujahr, also seit etwa elf Monaten, isst sie dreimal am Tag. Sie sieht gesund aus. Sie ist gut in der Schule. Ich habe Hoffnung.
Aryna: Ich habe immer noch eine leichte Körperdismorphie. Ich nehme meinen Körper anders wahr, als er ist. Heute gehe ich auf diese Gedanken nicht ein. Oder zumindest weiß ich, dass sie nicht wahr sind. Genauso ist es mit meinen Gedanken, wenn ich esse. Sie kommen immer wieder, von wegen: Iss das nicht oder das verdienst du nicht. Oder du musst danach Sport machen. Aber ich weiß inzwischen, wie ich mit diesen Gedanken umgehe. Und je öfter ich diese Gedanken ablehne und ihnen nicht folge, desto stärker wird meine gesunde Stimme. Die kranke Stimme wird immer leiser, aber sie wird nie weg sein.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger