„Positiv bleiben“: Viele, die schon einmal Beschwerden hatten oder unter einer Krankheit gelitten haben, kennen den Ratschlag. Doch ist er wirklich so hilfreich für die Gesundheit – oder im Gegenteil sogar zusätzlich belastend?
Wir haben fünf Expert:innen aus unterschiedlichen Fachbereichen gefragt, ob eine positive Einstellung den Krankheitsverlauf tatsächlich beeinflussen kann.
Alle fünf sagten: Ja.
Sie hatten jedoch wichtige Vorbehalte. Es hängt von der jeweiligen Krankheit ab. Eine Expertin betonte zum Beispiel, dass Studien zu Krebs nicht zeigen konnten, dass positives Denken den Krankheitsverlauf oder das Sterberisiko beeinflusst.
Obwohl unsere psychische Gesundheit einen starken Einfluss auf die körperliche Gesundheit hat, kann der Druck, „positiv bleiben“ zu müssen, in schwierigen Zeiten zusätzlich belastend sein. Deshalb ist es wichtig, daran zu denken, dass Trauer völlig normal ist.
„Positive mentale Einstellungen stärken die Immunität“
Erica Sloan, Stress- und Krebsforscherin
Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass psychische Zustände wie Stress oder Angst negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben können. Wir beginnen gerade, die anatomischen Grundlagen dafür zu verstehen.
Das sympathische Nervensystem erstreckt sich von unserem Gehirn durch den Körper und steuert die Kampf- oder Fluchtreaktion auf Stress. Diese Reaktion kann zwar in bestimmten Situationen hilfreich sein, hat jedoch auch negative Auswirkungen auf das Immunsystem. Sie beeinträchtigt die Fähigkeit der schützenden T-Zellen und der angeborenen Immunzellen, ihre Aufgaben effektiv zu erfüllen. Alarmierend ist zudem, dass auch Viren und Krebs auf die Kampf- oder Fluchtreaktion reagieren, was ihnen hilft zu wachsen und sich dem Immunsystem zu entziehen.
Es gibt aber nicht nur schlechte Nachrichten. Wir haben herausgefunden, dass positive mentale Einstellungen die Immunität stärken, indem sie das Belohnungszentrum des Gehirns aktivieren. Da die Diagnose einer chronischen Krankheit sehr belastend sein kann, verdeutlichen diese Ergebnisse, wie wichtig es ist, Patient:innen ganzheitlich zu behandeln und sich nicht nur ausschließlich auf die Krankheit zu konzentrieren.
„Stress kann die Genesung verzögern“
Jayashri Kulkarni, Professorin für Psychiatrie
Die psychische Gesundheit wirkt sich in vielerlei Hinsicht auf die körperliche Gesundheit aus. Belastende Ereignisse in der frühen Kindheit wirken sich auf die Psyche aus und beeinflussen die Hormone (insbesondere das Stresshormon), das Immunsystem und unsere Stimmung (einschließlich Angstzustände). All dies kann zu körperlichen Erkrankungen führen und die Genesung von bestehenden körperlichen Problemen verzögern.
Viel zu lange galt die Trennung zwischen Geist, Körper und Umwelt als Hindernis für medizinische Behandlungen. Jetzt, da wir mehr über die Wechselwirkungen wissen, können wir berücksichtigen, wie sich psychische Erkrankungen auf körperliche Erkrankungen auswirken.
Unsere Forschung zur Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigt: Frühkindlicher Missbrauch bei Mädchen korreliert mit Fettleibigkeit im Erwachsenenalter (und daraus resultierender Diabetes und Herzerkrankungen), erhöhter Unfruchtbarkeit, prämenstruellen Depressionen, starken Angstzuständen und vermehrten Autoimmunerkrankungen.
Die äußere Welt wirkt sich auf die Schaltkreise und die Chemie des Gehirns aus. Das führt dazu, dass körperliche und psychische Krankheiten entstehen oder sich verschlimmern.
„Eine gute Genesung gelingt uns am besten, wenn wir Hoffnung haben“
Michael Roche, Psychiatriepfleger, forscht zur Pflege im Bereich psychische Gesundheit, Drogen und Alkohol
Die Genesung von akuten Krankheiten und die Fähigkeit, mit chronischen Erkrankungen zu leben und sie effektiv zu bewältigen, kann stark davon beeinflusst werden, wie wir uns selbst und die betreffende Krankheit wahrnehmen.
Die Sache wird noch komplizierter, da körperliche Erkrankungen psychische Probleme wie Depressionen auslösen können, die unser Wohlbefinden und unsere Genesungsfähigkeit beeinträchtigen.
Faktoren wie intrinsischer Optimismus, Pessimismus und psychische Erkrankungen stehen in vielen Studien im Zusammenhang mit der Geschwindigkeit und dem Ausmaß der Genesung. Besonders wichtig ist dabei unsere Widerstandsfähigkeit, die wir entwickeln und stärken können. Vor allem die Unterstützung durch soziale Netzwerke und Fachkräfte im Gesundheitswesen trägt dazu bei.
Wenn wir mit einer Krankheit konfrontiert werden, müssen wir uns mit allen Facetten unseres Körpers auseinandersetzen. Denn: Eine gute Genesung gelingt uns am besten, wenn wir Hoffnung haben.
„Bei Schmerzen spielt die psychische Verfassung eine entscheidende Rolle“
Michael Vagg, Schmerzspezialist
Schmerz ist ein soziopsychobiologisches Phänomen. Das bewusste Erleben von Schmerz wird stets vom aktuellen Zustand der Bedrohungswahrnehmung im Gehirn sowie von Überzeugungen aus früheren Erfahrungen beeinflusst. Auch der soziale Kontext und Erwartungen in bestimmten Situationen spielen eine entscheidende Rolle.
Wenig davon lässt sich bewusst beeinflussen. Einfach nur „positiv zu denken“ führt bei chronischen Krankheiten nicht zwangsläufig zu besseren Ergebnissen, obwohl eine von Natur aus optimistische Einstellung vor einer Erkrankung tatsächlich hilfreich sein könnte.
Maßnahmen wie ein achtsamer Lebensstil, effektive Stressbewältigung, unterstützende, aber nicht übermäßig behütende Angehörige und klare Informationen, was einen während der Operation erwartet, können den Bedarf an Schmerzmitteln nach dem Eingriff deutlich verringern. Bei Schmerzen, egal ob akut oder chronisch, spielt die psychische Verfassung also eine entscheidende Rolle für das Ergebnis. Ist das Problem jedoch erst einmal aufgetreten, ist es schwer, es zu beeinflussen.
„Viele erleben eine zusätzliche Belastung durch den Druck, eine positive Einstellung zu haben“
Sarah Mansfield, Hausärztin
Die Belege sind widersprüchlich. Einige Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Optimismus und besseren Ergebnissen bei chronischen Krankheiten, insbesondere Herzkrankheiten, und einer möglicherweise geringeren Sterblichkeit. Zu den möglichen Erklärungen zählen eine höhere Wahrscheinlichkeit, sich auf Behandlungen und gesundheitsfördernde Verhaltensweisen einzulassen, die Entwicklung stärkerer sozialer Beziehungen und Unterstützung sowie schützende immunologische Veränderungen.
Andere Studien, insbesondere zu Krebserkrankungen, haben jedoch ergeben, dass positives Denken weder den Krankheitsverlauf noch die Sterblichkeit beeinflusst.
Zudem erleben viele Patient:innen eine zusätzliche emotionale Belastung durch den sozialen Druck, ständig eine positive Einstellung zu haben, und durch Schuldgefühle, wenn sie dies nicht erreichen.
Es ist normal, Trauer und negative Emotionen im Zusammenhang mit einer Krankheit zu erleben, und viele Krankheiten verändern tatsächlich unsere Stimmung und Persönlichkeit. Es ist wichtig, dass wir dies erkennen und das psychische Wohlbefinden der Patient:innen unterstützen, um deren Lebensqualität zu verbessern – und nicht in erster Linie, um den Verlauf einer Krankheit zu ändern.
Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch bei The Conversation erschienen. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen.
Übersetzung: Johanna Weinz, Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion Philipp Sipos; Audioversion: Florian Walter
