Eine Hand ragt aus einem Kornfeld gen Himmel.

Teilweise Ki-Generiert | Furkan Elveren/Unsplash

Psyche und Gesundheit

Protokoll: „Wir wissen nicht, wie viele Menschen wir retten“

Seit sich ihr Onkel umbrachte, arbeitet Toni bei der Suizidprävention für junge Erwachsene. Was sie dort erfährt, beschäftigt Toni oft jahrelang. Warum, erzählt sie hier.

Profilbild von Mirjam Ratmann
Freie Reporterin

Marie war gerade mal 13 Jahre alt, als sie mir schrieb. Nach dem Sonntagsfrühstück saß ich an meinem Schreibtisch und las ihre Mail. „Es fühlt sich an wie Krieg im Kopf“, schrieb sie. Sie erzählte, sich seit drei Jahren selbst zu verletzen und nicht mehr zu können. „Ich brauche dringend Hilfe.“ Ihre Selbstverletzungen nannte sie eine Sucht. Marie klang sehr verzweifelt, darum wollte ich ihr schnell antworten. Ich habe mich verantwortlich gefühlt, ihr mit meiner Antwort helfen zu müssen. Ich habe ihr geschrieben, dass es sehr anstrengend und belastend klinge, was sie erzählt. Als ich sie nach konkreten Suizidgedanken fragte, antwortete sie mir nicht mehr. Es ist zwar durchaus normal, dass ein Teil der Betroffenen nach der ersten Mail nicht noch einmal schreibt. Trotzdem ist bei mir direkt das Kopfkino angegangen: Hat sie sich was angetan? Noch Tage später habe ich meine Mails immer wieder aktualisiert, in der Hoffnung, doch noch eine Antwort zu bekommen.

Als sich mein Onkel im vergangenen Jahr das Leben genommen hat, war das ein Schock für mich und meine Familie. Es war ein sonniger Frühlingstag, ich war gerade beim Volleyballspielen. Nach dem Spiel habe ich auf mein Handy geschaut und sah die zahlreichen Anrufe. Mein Bruder erzählte mir, was passiert war. Ich konnte es nicht glauben. Mein Onkel war erst kurz davor in einer Psychiatrie gewesen, weil er plötzlich mit starken Depressionen zu kämpfen hatte. Ich dachte damals: „Super, er möchte sich helfen lassen.“ Nach vier Wochen kam er wieder nach Hause. Er sagte, dass er sich besser fühle. Acht Tage später war er tot.

Der Suizid meines Onkels änderte alles

Obwohl in meiner Familie drei Menschen depressiv sind, ist mir erst nach dem Tod meines Onkels bewusst geworden, dass eine Depression tödlich enden kann. Auch mein Cousin, der Sohn meines verstorbenen Onkels, leidet seit zehn Jahren unter schweren Depressionen. Er ist so alt wie ich, 24 Jahre, wir stehen uns sehr nah. Er hat schon häufiger Suizidgedanken angedeutet, ist aber nie ins Detail gegangen, um mich nicht zu belasten. Ich habe mich nie mit Suizid beschäftigt. Als Teenagerin war das für mich schlicht nicht greifbar. Natürlich habe ich mir Sorgen gemacht, aber ich glaube, ich habe es von mir ferngehalten, um mich selbst zu schützen.

Das änderte sich. Ich habe Zahlen über Suizide recherchiert. Das Ausmaß hat mich sehr erschreckt. Obwohl inzwischen mehr Menschen über ihre mentalen Probleme sprechen, redet kaum jemand über Suizidgedanken. Auch mein Onkel hat nie darüber gesprochen.

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Ich informierte mich auch über Hilfsangebote, weil ich anderen helfen wollte. Darum habe ich mich bereits ein dreiviertel Jahr nach dem Tod meines Onkels bei der Suizidprävention „U25“ der Caritas angemeldet. Meine Familie hat sehr verhalten und zurückhaltend reagiert, als ich davon erzählt habe. Ich hatte Angst, was das mit mir machen könnte. Tatsächlich gibt mir das Ehrenamt ein positives Gefühl: Ich kann wirksam sein und anderen helfen.

„Sobald ich alleine bin, ist meine Stimmung am Boden“, schreibt Sarah

Vor der Mail an meine erste Klientin war ich sehr nervös. Ich hatte erst den Tag davor meine Ausbildung als Ehrenamtliche abgeschlossen. Am Sonntagvormittag saß ich an meinem Schreibtisch, die Unterlagen und Arbeitsblätter vom Vortag neben mir. Sarah war in meinem Alter und studierte sogar das Gleiche wie ich. Ich wollte unbedingt alles richtig machen, auf all ihre Punkte eingehen und dann auch die richtige Antwort finden. In diesem Moment wurde mir bewusst, in wie viele Fettnäpfchen ich treten oder welche Trigger ich auslösen könnte, wenn ich die falschen Worte wählte. Das Problem am Mail-Kontakt ist ja, dass Dinge ganz anders beim Gegenüber ankommen können, als man sie gemeint hat. Über eine Stunde saß ich an den paar Zeilen.

„Mit Freunden und Familie bin ich immer total gut gelaunt, aber sobald ich alleine bin, ist meine Stimmung am Boden“, schrieb Sarah. Als kleines Kind sei sie regelmäßig weggeschickt und allein gelassen worden. „Ich glaube, deswegen traue ich mich bis heute nicht, mich jemandem anzuvertrauen.“ Stattdessen mache sie immer alles mit sich selbst aus. Sie hatte sich zwar das Ziel gesetzt, eine Therapeutin zu finden, wollte aber niemandem den Platz wegnehmen, weil sie glaubte, ihr ginge es nicht schlecht genug. Zugleich hatte sie Angst, nicht ernst genommen zu werden. Ich habe Sarah den Rat gegeben, sich erstmal jemandem aus ihrem Umfeld anzuvertrauen. Daraufhin hat sie mit ihrer Mitbewohnerin gesprochen. In ihrer nächsten Mail schrieb sie mir, dass sie sehr erleichtert sei. Das Gespräch habe ihr ein Stück der Belastung genommen. Sie fühlte sich ernst genommen und hatte erkannt: Sie hat ein Recht, sich Hilfe zu suchen. Dass ich mit ein paar Mails einen solchen Unterschied machen kann, gibt mir Gänsehaut.

Normalerweise habe ich fünf bis sieben Tage Zeit, um auf eine Mail zu reagieren. Sobald uns jemand schreibt, wird eine automatische Antwortmail herausgeschickt. In dieser weisen wir darauf hin, dass wir keine akute Krisenberatung sind. Für eine Antwort kann ich auch schon mal eine Stunde brauchen. Es kommt immer darauf an, wie komplex der Inhalt der Mail ist. Bevor ich eine Mail verschicke, liest jemand der Hauptamtlichen drüber. Sobald alles okay ist, kann die Mail raus.

Das Besondere bei „U25“ ist, dass sie komplett anonym läuft – auch wir Beratende arbeiten anonym. So entsteht ein Raum, in dem alle offen erzählen können, ohne Angst haben zu müssen. Wir hören zu und sind verständnisvoll. Wir üben keinen Druck aus und vermitteln: „Alle deine Gedanken und Sorgen sind legitim und werden ernst genommen.“ Wir fragen auch immer konkret nach Suizidgedanken, um das Tabu darüber aufzulösen. Ein Teil der Erstanfragen schreibt nach der ersten Mail nicht wieder, ohne dass wir wissen, warum. Häufig hilft es den Menschen schon, einfach aufzuschreiben, was sie belastet.

Miteinander zu sprechen, wäre vielleicht einfacher, aber auch belastender

Weil wir keine ausgebildeten Therapeut:innen sind, können wir nicht aktiv eingreifen oder gar eine Therapie ersetzen. Wir geben nur Hilfe zur Selbsthilfe. Ich frage also: „Wie kann ich dir jetzt gerade helfen? Wie können wir es schaffen, dass es dir besser geht?“ Das kann bedeuten, den Blick auf etwas Positives zu lenken und den Fokus auf die bereits vorhandenen Ressourcen zu legen. Zum Beispiel die Person darauf hinzuweisen, dass sie sich vielleicht im ersten Schritt an eine ihr nahestehende Person richtet, wie meine erste Klientin Sarah an ihre Mitbewohnerin. Manchmal frage ich auch: „Was machst du gern in deiner Freizeit?“ So kann man die Person besser kennenlernen. Manchmal denke ich, dass es einfacher wäre, die Person persönlich zu sehen und mit ihr zu sprechen. Wahrscheinlich würde mich das aber deutlich mehr belasten.

Was mir hilft ist, mich mit meiner Mitbewohnerin und meinen Freund:innen über das Ehrenamt auszutauschen. Beim Joggen oder Spazierengehen bekomme ich den Kopf frei. Den anderen Berater:innen habe ich zu Beginn meiner Ausbildung vom Tod meines Onkels erzählt. Es war sehr bedrückend, aber auch sehr befreiend, mir das alles mal von der Seele zu reden. Ich musste dabei viel weinen.

Wir wissen nicht, wie viele Menschen wir retten

Obwohl wir in der Beratung alle eher unterschiedliche Charaktere sind, eint uns das Bedürfnis, anderen helfen zu wollen. Wir können Suizide verhindern. Die Menschen, die uns schreiben, haben noch nicht aufgegeben. Sie wollen leben. Wenn sie über Suizid sprechen, heißt das nicht, dass sie sich tatsächlich das Leben nehmen werden. Leider wissen wir nicht, wie viele Menschen wir retten. Ich hoffe, dass sich die meisten unserer Klient:innen für das Leben entscheiden.

Ich wünsche mir, dass sich noch mehr Menschen ehrenamtlich gegen Suizide einsetzen möchten. An unserem Standort sind wir 25 Berater:innen. Der Bedarf der Ratsuchenden ist aber viel höher. Immerhin konnte ich eine Kommilitonin motivieren, sich das Projekt mal anzuschauen.

Manchmal denke ich an meine 13-jährige Klientin. Ich hatte einige Tage lang Angst, dass sie nicht mehr lebt. Dann redete ich mir ein, dass es irgendeinen harmlosen Grund geben wird, warum sie nicht antwortete. Ich werde wahrscheinlich nie erfahren, ob diese eine Mail ihr geholfen hat oder nicht.


Sowohl der Name der Protagonistin als auch die Familienmitglieder wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert, sind der Redaktion aber bekannt.

Erste:r Ansprechpartner:in bei einer Depression und/oder Suizidgedanken ist der Hausarzt oder die Hausärztin, der:die Betroffene an eine:n Psychotherapeut:in oder Psychiater:in überweisen kann.

Betroffene können sich außerdem an das Infotelefon Depression wenden (0800-3344533) oder an die Telefonseelsorge (unter 0800-1110111, 0800-1110222 oder 116123). Bei der Telefonseelsorge findet auch Beratung per Chat oder Mail statt.

Die „Nummer gegen Kummer“ richtet sich explizit an betroffene Kinder und Jugendliche: 116 111 oder Online-Beratung unter Nummergegenkummer.de.

Wenn jemand einen konkreten Suizidplan äußert und bereit ist, diesen in den nächsten Minuten oder Stunden durchzuführen, sollte man als beobachtende oder involvierte Person sofort die 110 oder 112 anrufen.


Redaktion: Astrid Probst und Lars Lindauer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert, Bildredaktion: Philipp Sipos

„Wir wissen nicht, wie viele Menschen wir retten“

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