Sobald im Mai die Temperaturen steigen, freut sich die Welt. Nackte Haxen, flatternde Sommerkleider, kurze Cordhosen. An den Eisdielen bilden sich Schlangen, spiegelnde Sonnenbrillen flanieren über den Gehweg, ganz Deutschland sprintet in die Natur. Hurra! Gäbe es eine Jahreszeit für good vibes only, das wäre sie.
Nach ein paar Wochen kippt die Stimmung. Die Laune ist nicht mehr so mega, das nassgeschwitzte Shirt nur noch eklig. Paare streiten per Whatsapp über den Abwasch und psychisch Kranken geht die Kraft aus.
Was ist hier los? Zwischen Vorfreude und Sommerfrust hat sich eine unsichtbare Materie geschoben. Ein Faktor, der beeinflusst, wie wir denken, schlafen, fühlen, sogar, ob und wie wir rationale Entscheidungen treffen können: Hitze.
Extreme Temperaturen rauben dir den Schlaf
Sie drückt sich in die Städte Europas und Deutschlands. Und sorgt für Rekorde: Der 21. Juli 2024 war global betrachtet der heißeste Tag aller Zeiten. Bis der 22. Juli kam – der Tag danach. Die Hitze heizt Städte auf, trocknet Bäche aus und ist tödlich. 2023 sind nach Schätzungen in Europa mehr als 47.000 Menschen an den Folgen hoher Temperaturen gestorben.
Hitze ist höllisch für den Körper. Strömt sie ins Schlafzimmer, raubt sie uns den Schlaf. Fällt sie nicht unter 25 Grad, ist es wahrscheinlich, dass wir weniger als sieben Stunden schlafen. Wir sind gestresster und reagieren gereizt.
Ist es an drei aufeinanderfolgenden Tagen heißer als 30 Grad und sinkt die Temperatur auch nachts nicht unter 20, spricht man von einer Hitzewelle. Der Cortisol-Spiegel des Stresshormons steigt und löst eine Kettenreaktion aus: Wir verdauen schlechter, unser Immunsystem schützt uns weniger, unser Herz-Kreislauf kämpft. Und der Klimawandel sorgt dafür, dass wir extremer Hitze häufiger ausgesetzt sind.
Es mag sich so anfühlen, als seien wir ihr ausgeliefert. Aber machtlos sind wir nicht, das haben wir in dieser Recherche gelernt. Wir haben mit Expert:innen und der KR-Community gesprochen. Uns durch Studien gelesen, Tipps gesammelt und am Ende verstanden: Du bist nicht du, wenn es heiß ist!
So heiß findet die Krautreporter-Community die Sommerhitze
Auch die mehr als 600 Teilnehmer:innen unserer Umfrage sind von Hitze nicht begeistert. Nur sieben Prozent gaben an, sie würde ihnen guttun, mehr als zwei Drittel sagen klipp und klar: nein.
Nicht-repräsentative Umfrage unter KR-Mitgliedern im August 2024 Screenshot
Ruth sorgt sich schon im Winter vor dem kommenden Sommer. Wenn er da ist, schreibt sie, werde sie aggressiv und bekäme schlechte Laune.
Ich habe noch weniger Energie als ohnehin schon, fühle mich krank und erschöpft und es fällt mir schwer, meiner Arbeit nachzugehen. Normalerweise gehe ich raus und bewege mich, wenn meine Depression mich quält, das hilft durchzuatmen. Bei hohen Temperaturen geht das nur mit Mühe.
KR-Leserin Andrea
Eine Person, die keinen Namen angab, bekommt bei Hitze ein schlechtes Gewissen: „Wenn es über 35 Grad Celsius hat, möchte ich nicht raus und schäme mich dann dafür, nur drinnen zu liegen und TV zu schauen.“
„Früher konnte es für mich nicht heiß genug sein“, schreibt Liese. Das habe sich geändert, auch am Arbeitsplatz: „Ich bin weniger leistungsfähig, was wiederum eine Gedankenspirale in Gang setzt. Bin ich gut genug?“
Hitze durch den Klimawandel ist die größte Gesundheitsgefährdung in Deutschland
Dass uns Hitze nicht guttut, wissen inzwischen viele, sagt die Psychologin Lea Dohm. Sie arbeitet bei KLUG, der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit, die über die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels informiert. Durch Hitzeaktionstage und Hitzeschutzpläne der Bundesregierung beschäftigen wir uns mehr mit den Gefahren durch Hitze. Und klar, gerade ist es einfach sehr heiß. Erst vor Kurzem wurden in Rheinland-Pfalz 35,7 Grad gemessen. „Hitze ist die größte klimawandelbedingte Gesundheitsgefährdung in Deutschland“, sagt Dohm.
Schon jetzt leiden viele darunter. Eben, weil sie schlecht schlafen und dadurch reizbarer sind. Manche Studien sagen sogar: Hitze macht Leute aggressiver und gewalttätiger. „Hitze erhöht die psychische Belastung, macht erheblich Stress und fördert zwischenmenschliche Konflikte“, sagt Dohm. In der Forschung gibt es keinen eindeutigen Beweis dafür, dass Hitze zwangsläufig aggressiver macht. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel aus weniger Schlaf und einem anstrengenden Alltag.
Was wir wissen, ist, ab dem dritten heißen Tag nehmen aggressive Übergriffe in Psychiatrien zu. Hitze enthemmt. Sie sorgt dafür, dass uns die Kraft fehlt, uns zu beherrschen, uns zu überlegen, wie wir handeln. Und sie führt dazu, dass wir uns weniger konzentrieren können. Eine Studie ließ Teilnehmende Matheaufgaben lösen. Bei 32 Grad Celsius rechneten die Teilnehmenden deutlich schlechter als bei 22 Grad.
Und noch eine Gefahr geht von ihr aus: Sie verändert, wie Medikamente wirken. Nebenwirkungen nehmen zu, manche Medikamente wirken weniger. Andere verhindern, dass der Körper abkühlen kann oder machen die Haut sonnenempfindlicher, sagt Lea Dohm. Antibiotika oder Ibuprofen steigern beispielsweise das Sonnenbrandrisiko. Wer Psychopharmaka oder Medikamente gegen Schlafstörungen, Übelkeit oder Parkinson einnimmt, schwitzt womöglich weniger und kühlt dadurch schlechter ab. Steigt die Körpertemperatur auf mehr als 37 Grad Celsius an und kann der Körper sie nicht mehr senken, kommt es zum sogenannten Hitzestau. Das Hirn schwillt an und ein Hitzeschlag droht.
Hitze ist für viele gefährlich, für manche besonders. Zum Beispiel für Iris. Sie schreibt: „Alle Leute gehen raus, ins Schwimmbad oder spazieren, um sich abzukühlen, nur die Depression gewinnt durch die Hitze noch mehr an Wucht.“ Für Britta, die Depressionen, PTBS und ADHS hat, ist ein normaler Tagesablauf schon bei gemäßigten Temperaturen sehr anstrengend. Die Hitze kostet sie so viel Kraft, dass sie mittags schon nicht mehr kann. „Den Rest des Tages verbringe ich dann liegend und völlig erschöpft.“
Hitze ist für depressive Personen besonders belastend
Manche Menschen mit Depressionen nehmen die Energielosigkeit, die eine Folge der Hitze ist, als erstes Zeichen ihrer Erkrankung wahr. „Aber vielleicht ist die Person eine Woche lang nachts fünf- bis sechsmal aufgewacht und hat das vergessen“, sagt Umut Özdemir. Er ist Psychotherapeut in Berlin und klärt auf sozialen Medien über psychologische Themen auf.
Akut Depressiven fällt auf, dass sie zu Hause bleiben, während die anderen auf die Straßen strömen und die meiste Zeit draußen verbringen. „Das haben sie vielleicht früher gern getan, aber können sich gerade dazu nicht überwinden.“ Und das senkt die Laune erneut.
Studien würden eine höhere Suizidrate bei Hitze belegen, sagt Özdemir. Manche Studien zeigen: Wenn Temperaturen um ein Grad Celsius steigen, erhöht sich auch die Zahl der Suizidversuche und -rate um ein Prozent. Dass Hitze aber direkt zu Suizidversuchen führt, konnte bisher nicht eindeutig bewiesen werden. Bestimmt sind Hitzewellen jedoch belastend, besonders für psychisch Erkrankte. Sie können überfordern und Probleme verschlimmern. Das wird irgendwann zu viel, so erklären sich Expert:innen den Anstieg der Suizidraten.
Außerdem zeigt die Forschung, dass sich Symptome von psychischen Erkrankungen unter Hitze verstärken. Menschen mit einer Panikstörung kann das viele Schwitzen verunsichern. Manche fragen sich, ob mit ihrem Körper etwas nicht stimmt, ob sie krank sind.
Wenn Schwitzen nicht mehr reicht
Ist uns zu heiß, hat unser Körper nur ein einziges Mittel: Schwitzen. Kleine Tröpfchen treten aus den Drüsen aus, verdunsten sofort und kühlen uns ab. Reicht das nicht mehr, müssen wir andere Lösungen finden.
Viele davon sind offensichtlich: Viel Wasser trinken. Morgens und abends lüften. Kalt duschen. Ist es extrem heiß, müssen Arbeitnehmer:innen laut dem Arbeitsschutzrecht Getränke angeboten werden. Heizt sich der Raum über 30 Grad Celsius auf, müssen weitere Maßnahmen erfolgen. Etwa, dass Ventilatoren aufgestellt werden oder Anzüge als Arbeitskleidung nicht mehr Pflicht sind.
Ich liege auf dem Bett und sprühe mit ner Druckflasche Wasser in die Luft und lasse die Tröpfchen auf mich regnen.
Elke
Langfristig hilft es aber nur, sich für den Klimaschutz einzusetzen. Dafür, dass weniger Wiesen zugebaut und mehr Bäume gepflanzt werden, damit sich Städte weniger aufheizen.
Ich informiere meine Umwelt, dass Hitze für mich schwierig ist und ich bitte um Nachsicht, wenn ich rumjammere oder genervt bin.
Julia
Dieses Rätselraten: „Was ist heute nur mit mir los?“ oder: „Was hat der denn heute?“, kann mit einem Blick auf die Temperatur möglicherweise richtig gelöst werden.
Die Frage: „Was benötige ich jetzt, damit es mir gut geht?“, kennen viele aus der Psychotherapie. Sie ist angebracht, wenn es heiß ist. Denn Hitze ist mehr als extreme Wärme, Hitze ist gefährlich.
Redaktion: Brigitte Wenger, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Gabriel Schäfer; Audioversion: Iris Hochberger