Hattest du schon mal eine Psychose?
Wahrscheinlich antwortest du mit Nein.
Nun. Ich glaube, du liegst falsch. Ich bin sogar ziemlich sicher, du hattest schon mal eine Psychose. Vielleicht sogar heute Nacht. Jedenfalls, wenn du geträumt hast.
Matt Walker ist Neurowissenschaftler und hat das wohl bekannteste Buch übers Träumen geschrieben: „Why We Dream“. Er sagt, es sprechen fünf Gründe dafür, dass der Vergleich mit der Psychose passend ist.
Wenn du träumst …
… siehst du Dinge, die nicht da sind. Du halluzinierst.
… glaubst du Dinge, die nicht wahr sein können.
… verwirrst du Zeit, Ort und Menschen miteinander. Du bist desorientiert.
… springen deine Emotionen hin und her. Psychiater nennen das „affektive Instabilität“.
… wachst du morgens auf und erinnerst dich an das meiste davon nicht mehr.
Würdest du auch nur eine dieser Erfahrungen im wachen Zustand machen, müsstest du eine Ärztin oder einen Apotheker aufsuchen. Machen wir diese Erfahrungen aber im Schlaf, sind sie völlig normal.
Manchen kommen ihre Träume so real vor, dass sie nach dem Aufwachen erstmal ein paar Minuten brauchen, um zu verstehen: Das war nicht echt. Viele träumen völlig bizarres Zeug. Und einige behaupten, ihre Träume beeinflussen zu können.
Alle Träume haben aber etwas gemeinsam: Sie entstehen im Gehirn. Deshalb habe ich mir die wichtigsten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse angeschaut. Wie Träume entstehen und was sie uns nutzen. Die gute Nachricht ist, dass die Hirnforschung darauf hindeutet, dass Träume eine kostenlose Overnight-Therapie sein können – unter bestimmten Bedingungen. Und am Ende des Textes lernen wir auch, unsere Träume zu steuern.
Wenn deine Augen sich ziemlich schnell bewegen
Das, was die meisten unter Träumen verstehen, passiert in einer bestimmten Phase des Schlafes, dem REM-Schlaf. REM steht für Rapid Eye Movement. Und weil sich in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr Wissenschaftler:innen damit beschäftigt haben, was genau während des REM-Schlafes im Gehirn passiert, gibt es auch neue Erkenntnisse übers Träumen. Genauer gesagt zu drei bestimmten Fragen:
- Wie genau kreiert das Gehirn diese neuronale Aktivität, die wir Träumen nennen?
- Basieren Träume auf unseren Erfahrungen oder kreiert das Gehirn einfach neue Erlebnisse?
- Warum träumen wir überhaupt?
Die Arbeit von Matt Walker beschäftigt sich genau mit diesen drei Fragen. Also mit dem Wie, dem Was und dem Warum des Träumens. Wir starten mit der ersten Frage: Was genau passiert da im Gehirn, wenn wir träumen?
Heute Nacht habe ich fast zwei Stunden geträumt
Wie immer in der Hirnforschung, werden auch in der Traumforschung ständig Menschen in Magnetresonanztomografen (MRTs) geschoben. Röhren, in denen die Wissenschaftler:innen messen können, wann welche Region im Gehirn aktiv ist.
Wenn man mich heute Nacht in eine solche Röhre geschoben hätte, hätte man gesehen, dass ich für eine Stunde und 51 Minuten meines Schlafes ich in der REM-Phase war.
Ja, das ist eine echte Aufzeichnung meiner Smartwatch von heute Nacht. Ja, ich wache oft so früh auf (5:56 Uhr). Und ja, ich bin müde.
In der MRT-Röhre wäre Wissenschaftler:innen mein Übergang vom Tiefschlaf in den REM-Schlaf sofort aufgefallen. Als 1953 zwei Wissenschaftler der Universität von Chicago, Eugene Aserinsky und Nathaniel Kleitman, den REM-Schlaf entdeckten, stellten sie fest, dass bestimmte Regionen im Gehirn deutlich aktiver waren, als sie es im Wach-Zustand und anderen Schlafphasen waren. Sie feuern geradezu wild drauf los – als ob das träumende Gehirn aufwacht, während der Körper weiterschläft.
Um diese vier Regionen geht es hauptsächlich:
- Visuell-räumliche Regionen. Normalerweise sind diese Regionen aktiv während der visuellen Wahrnehmung. Wenn du schläfst, sind deine Augen zu – die Regionen aber feuern los, sobald du träumst.
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Der Motor-Kortex. Normalerweise ist diese Region aktiv, wenn wir uns bewegen. Während du schläfst, liegst du nur still da – die Regionen im Motor-Kortex feuern trotzdem los, sobald du träumst.
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Der Hippocampus. Diese Region spielt eine große Rolle für unser Gedächtnis, vor allem für unser autobiografisches Gedächtnis, also für alle Erinnerungen, die uns selbst betreffen.
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Die Amygdala und der cinguläre Kortex. Beide Regionen spielen eine wichtige Rolle beim Generieren und Verarbeiten von Emotionen.
Während diese vier Regionen vor Aktivität nur so strotzen, gibt es eine Region, die es sich gemütlich macht, wenn wir beginnen zu träumen: der laterale präfrontale Kortex; er ist sowas wie der CEO des Gehirns. Er spielt eine große Rolle in unserer Handlungsplanung und wenn wir rationale Entscheidungen treffen. Seine Aktivität reduziert sich schlagartig, wenn wir träumen. Jedenfalls bei den meisten von uns.
Als ich die Krautreporter-Leser:innen in einer Umfrage nach ihren Träumen gefragt habe, erzählten die fast 700 Teilnehmer:innen von absurden Situationen, die rational gesehen unmöglich sind. KR-Leser Christian zum Beispiel erzählt: „Ich war Kommissar in einem Tatort, der irgendetwas mit Strukturvertrieb für Pudding tun hatte. Ich war auf einer Versammlung der Vertriebler, es gab noch kein Verbrechen, und eigentlich musste ich die Geschichte auch lesen – wobei ich immerzu eingeschlafen bin und den Faden verloren habe.“
Die Pause des lateralen präfrontalen Kortex erklärt, was hinter solchen absurden Szenarien steckt: Der CEO unseres Gehirns macht Pause, wenn wir träumen.
Die Aktivität in den visuell-räumlichen Regionen erklärt wiederum, warum unsere Träume so oft visuell ansprechend sind. Und die Aktivität im Hippocampus erklärt, warum in unseren Träumen so oft Menschen vorkommen, denen wir schon mal begegnet sind. Sie sind Teil unseres autobiografischen Gedächtnisses.
Natürlich vermutete man Gott hinter alldem
Kommen wir zur nächsten Frage. Warum träumen wir eigentlich? Früher, also viel früher, im alten Ägypten, dachten die Menschen, dass Träume eine Form göttlicher Kontaktaufnahme seien – eine Botschaft des Himmels. Gott war damals die Erklärung für alles, was man sich nicht anders erklären konnte. Später war es Sigmund Freud, der dafür sorgte, dass Träumen nicht mehr Gott zugeschrieben wurden, sondern dem Gehirn. (Danke dafür!) Er selbst entwickelte die Theorie, dass Träume den Ausdruck unserer unbewussten Wünsche widerspiegeln, dass diese verdrängten Wünsche aber vom Gehirn in eine Traumerzählung umgewandelt und verschleiert werden.
Freuds Theorie besagte, dass unsere verdrängten Wünsche beim Träumen einen Sensor in unserem Gehirn passieren und dann auf der anderen Seite als für den Träumenden unerkennbare Erfahrungen wieder herauskommen. Er glaubte, dass er die Funktionsweise des Sensors verstand und die verdeckten Träume entschlüsseln konnte und somit etwas über seine Patient:innen wusste, das er mit ihnen teilen konnte.
Das klingt alles spannend, ob Freud richtig lag, weiß aber niemand. Seine Theorie war komplett unwissenschaftlich; sie hatte keinerlei Thesen, die man hätte überprüfen können. Eine Art Sensor, der Wünsche passieren lässt oder nicht, wurde bis heute nicht entdeckt. Und es sprechen auch noch andere Argumente gegen seine Thesen.
Thom Milkovic, Abdur Ahmanus, Alvan Nee/Unsplash|NASA. Montage: Philipp Sipos
Träume wiederholen nicht einfach das, was wir tagsüber erleben
Die moderne Hirnforschung beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, warum wir träumen. Und es kamen schon viele verschiedene Theorien dabei heraus. Tatsächlich ist die Wissenschaft der Träume weiterhin alles andere als geklärt. Viele Neurowissenschaftler:innen haben Träume lange als zufällige Gehirngespräche betrachtet. Einige Theorien besagen, dass Träume unsere Erinnerungen festigen, andere, dass sie uns helfen, zu vergessen. Neuerdings beschäftigen sich Hirnforscher:innen auch mit der These, dass Träume dazu da sind, unseren Körper besser kennenzulernen.
Eine andere Theorie ist populärer. Träume sind eine Wiederholung unserer Erfahrungen aus dem Wachleben und unserer vergangenen Erinnerungen. Wenn wir tagsüber schwimmen waren, wiederholen wir die Tätigkeit im Schlaf, so die Idee. KR-Leserin Anke schreibt: „Ich träume gerade viel von Geschirr, vom Umziehen und Ausräumen, da ich das Haus meiner Eltern ausräume. Anscheinend verarbeite ich einen Teil meiner Gefühle und Erlebnisse so.“ Fast 40 Prozent der Teilnehmer:innen meiner Umfrage geben an, dass sie immer oder meistens von Dingen oder Situationen träumen, die sie gerade beschäftigen.
Der amerikanische Psychiater Robert Stickgold untersuchte genau diese These. In seiner Studie ließ er 29 Proband:innen Traumberichte erstellen. Er schaute sich diese fast 300 Berichte an und verglich sie mit dem, was diese Menschen tagsüber tatsächlich erlebt hatten.
Das Ergebnis: 65 Prozent der Berichte griffen zwar bestimmte Aspekte des Wachzustands auf, aber tatsächliche Wiederholungen von Erfahrungen, die die Teilnehmer:innen während des Tages machten, gab es nur in ein bis zwei Prozent der Träume.
Er schlussfolgerte: Wir lassen in unseren Träumen nicht einfach den Film nochmal ablaufen, den wir tagsüber aufgenommen haben. Aber eine Sache wird tatsächlich in den Träumen wieder aufgegriffen, und das sind die Emotionen, die wir tagsüber haben. Also die emotionalen Zustände und die Menschen, mit denen wir diese Emotionen verbinden, die tauchen tatsächlich in unseren Träumen auf. Nicht immer, aber immer wieder.
Kann man Träume lesen?
Kann die Hirnforschung noch einen Schritt weitergehen? Könnte man herausfinden, wovon jemand träumt, indem man die Aktivitäten seines Gehirns während des Träumens aufzeichnet? Man kann. Das zeigt eine Studie aus Japan.
Die Wissenschaftler haben drei Teilnehmer:innen während mehrerer Tage immer wieder in eine MRT-Röhre geschoben. Jedes Mal, wenn die Teilnehmer:innen eingeschlafen sind, haben die Forschenden angefangen, die Aktivität im Gehirn zu messen. Anschließend haben sie die Teilnehmer:innen aufgeweckt und sie gebeten aufzuschreiben, wovon sie geträumt haben. Und das machten sie immer und immer wieder. Dieser Vorgang wurde mehr als 200 Mal wiederholt.
Einer der Teilnehmer:innen beschrieb zum Beispiel, dass er eine große bronzefarbene Statue auf einem Hügel sah. Unter dem Hügel waren Häuser, Bäume und Straßen. Die Wissenschaftler unterteilten die Traumberichte ihrer Patient:innen in 20 Kategorien, die immer wieder aufgetaucht sind: Bücher, Autos, Essen, Möbel. Um herauszufinden, welche Regionen normalerweise aktiviert werden, wenn die Teilnehmer:innen diese Objekte wahrnehmen, schoben die Wissenschaftler sie nochmal in die MRT-Röhre. Dieses Mal waren sie wach und schauten sich Fotos der jeweiligen Kategorien an. Die Wissenschaftler zeichneten wieder die Hirnaktivitäten auf. Auf diese Weise konnten sie sehen, welche Regionen bei welchen Kategorien aktiviert werden.
Syed Ahmad Fathi/WIKIMEDIA COMMONS)|NASA|Sasha Freemind/Unsplash Montage: Philipp Sipos
Eine Traumdeutungsmaschine bleibt erstmal Science Fiction
Anschließend suchten die Forscher, ob sie diese Muster auch in den Aufzeichnungen der Hirnaktivität während der Träume der Teilnehmer:innen fanden. Und tatsächlich: Bei der nächsten Runde von Schlaftests konnten die Forscher durch die Überwachung der Gehirnscans feststellen, was die Freiwilligen in ihren Träumen sahen. Sie konnten mit einer Genauigkeit von 60 Prozent einschätzen, zu welcher Kategorie die Träume gehörten. „Wir konnten anhand der Hirnaktivität während des Schlafs Trauminhalte erkennen, die mit den verbalen Berichten der Probanden übereinstimmten“, erklärte einer der Macher der Studie, Yukiyasu Kamitani.
Zwei Einschränkungen gibt es aber. Die Wissenschaftler konnten nicht voraussagen, von welchem Auto genau oder von welcher Frau genau die Menschen geträumt haben. (Tja.) Und die Voraussagen waren zwar ziemlich genau, aber auch nur für diese drei Teilnehmer:innen der Studie. Eine Maschine, die Träume unabhängig von der Person voraussagen kann, bleibt also erstmal Science Fiction.
Träume machen kreativer und lassen uns Probleme besser lösen
Träume müssen aber gar nicht science-fiction-mäßig daherkommen, um merkwürdig zu sein. Letztens, zum Beispiel, habe ich davon geträumt, dass wir in dem Zeltlager, in das ich jedes Jahr mit 150 Kindern und Jugendlichen fahre, aus Versehen etwas Falsches zum Mittagessen gekocht haben. Überall im Zeltlager verteilt lagen haufenweise Fischstäbchen rum, die wir zubereiten sollten, aber übersehen hatten. Wir mussten sie alle wegschmeißen. Anschließend habe ich davon geträumt, dass ich in eine Dachgeschosswohnung gezogen bin, die keine Wände hatte. Man hätte also jederzeit mehrere Stockwerke herunterfallen können, wenn man nicht aufgepasst hätte. Das Schlimme: Der ganze Wohnblock wackelte permanent!
Wenn du jetzt denkst: Hä?? So ging es mir auch. Träume sind merkwürdig. Da kann man sich schon mal fragen, was das eigentlich alles soll. In seinem Buch „Why We Sleep“ beschreibt Matt Walker, dass Träumen mindestens zwei Funktionen hat, die man kennen sollte.
Dass Schlaf an sich (unabhäng vom Träumen) wahnsinnig wichtig für unser Gedächtnis ist, weiß man schon länger. Gerade in den Tiefschlafphasen stärken wir unsere Erinnerungen. Eine Funktion dabei ist die sogenannte Konsolidierung. Einfach gesagt: Aus einem langsamen, bewussten und anstrengenden Prozess wird ein schneller, unbewusster, automatischer. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass uns Klavierstücke irgendwann ganz leicht fallen, wenn wir sie oft genug geübt haben (und oft genug geschlafen haben).
In den letzten Jahren hat man aber herausgefunden, dass das Gehirn beim Schlafen noch einen Schritt weitergeht. Während wir träumen, in der REM-Phase, nimmt es die neuen Erinnerungen und vermischt sie mit alten Erinnerungen. Es bildet neue Verbindungen zwischen ihnen. Das scheint eine wichtige Grundlage für etwas zu sein, von dem wir alle gern noch mehr hätten: Kreativität.
Welche Auswirkungen das hat, zeigt diese Studie: Forscher haben Proband:innen einen komplexen Algorithmus beigebracht. Die Teilnehmer:innen wussten allerdings nicht, dass es einen Shortcut gab. Einen einfachen Rechenschritt, mit dem man die Rechenzeit deutlich reduzieren konnte und zum gleichen Ergebnis kam. Bevor sie ins Bett gegangen sind, hatten nur wenige Teilnehmer:innen diesen Shortcut entdeckt. Nach dem Schlaf hat sich die Zahl der Teilnehmer:innen, die von ihm wussten, verdoppelt. Teilnehmer:innen, denen der Schlaf verweigert wurde, hatten diesen Heureka-Moment nie.
Diese Ergebnisse blieben stabil, egal, wann die Teilnehmer:innen die Aufgaben bewältigen sollten. An der zusätzlichen Zeit alleine kann es also nicht gelegen haben. Es lag am Schlaf. Aber lag es auch an den Träumen? Wahrscheinlich schon, wie eine andere Studie nahelegt.
Es ist nicht nur wichtig, dass wir träumen, sondern auch, wovon
Matt Walker und sein Team haben in einer ihrer Studie etwas gemacht, das unter Schlafforscher:innen beliebt ist. Sie haben Teilnehmer:innen mitten in der Nacht aufgeweckt. Manche holten sie direkt aus ihrer REM-Schlafphase, also aus ihren Träumen, zurück in die Realität. Andere haben sie in anderen Schlafphasen aufgeweckt. Anschließend gaben sie den Teilnehmer:innen Aufgaben, in denen sie verschiedene Probleme lösen sollten.
Das Ergebnis: Diejenigen, die direkt aus ihren Träumen gerissen wurden, schnitten bei den anschließenden Aufgaben 30 Prozent besser ab. Und nicht nur das; es änderte sich auch die Art und Weise, wie die Probleme angegangen wurden. Statt etablierte Lösungswege auszuprobieren, ließen sich die Teilnehmer:innen, die aus ihren Träumen gerissen wurden, auf neue, noch nicht erprobte (manche würden sagen: geniale) Lösungswege ein. Matt Walker sagt: „Für mich klingt das [Träumen] nach der biologischen Basis von Kreativität.“
Es scheint aber nicht nur wichtig zu sein, dass man träumt, sondern auch, wovon. In einer weiteren Studie sollten Teilnehmer:innen ein extrem schweres 3-D-Labyrinth lösen. Diejenigen, die während eines kurzen Schlafes von diesem Labyrinth geträumt hatten, waren anschließend im Schnitt zehnmal besser als diejenigen, die nicht schliefen oder nicht von dem Labyrinth geträumt hatten.
Träumen ist wie Therapie, nur ohne die lange Wartezeit
Träumen macht uns also kreativ und lässt uns Probleme besser lösen. Matt Walker nennt Träumen oft aber auch eine „emotionale erste Hilfe“. Was meint er damit? Vor ein paar Jahren wollten er und sein Team einem bekannten Sprichwort nachgehen: Zeit heilt alle Wunden.
In unserem Gedächtnis speichern wir nie nur ein Geschehen ab, wie es passiert ist, sondern immer auch, welche Emotionen wir dabei gespürt haben. Wenn wir uns zum Beispiel daran erinnern, dass unsere Freundin oder Ehefrau uns vor einer Woche verlassen hat, ruft unser Gedächtnis nicht nur die Szene ab, in der sie uns ihren Entschluss mitgeteilt hat, sondern auch, wie wir uns dabei gefühlt haben (schrecklich!). Oft fangen wir dann allein durch die Erinnerung wieder an zu weinen. Erinnern wir uns ein Jahr später an die gleiche Szene, sieht das schon ganz anders aus. Der zeitliche Abstand zum Geschehen lässt uns gelassener zurückblicken – die Zeit hat die Wunde geheilt.
Könnten Träume dahinter stecken?
Hoffentlich habe ich von meiner Trennung geträumt
Eine der frühen Pionier:innen in der Traumforschung war die Neurowissenschaftlerin Rosalind Cartwright. In ihren Studien untersuchte sie unter anderem die Träume von Menschen, die aufgrund einer schwierigen emotionalen Situation (z.B. einer Trennung) in eine Depression gerutscht waren.
Dafür ließ sie Patient:innen aufschreiben, wovon sie geträumt hatten. Wenig überraschend träumten nahezu alle Patient:innen. Aber nur einige von ihnen träumten auch von dem Ereignis, das sie emotional so belastet hat. Ein Jahr nach der ersten Studienphase ließ Cartwright die Patient:innen wiederkommen. Sie wollte wissen, welche Patient:innen ihre Depressionen und Ängste überwinden konnten und welche weiterhin litten. Und sie fand ein erstaunliches Muster. Lediglich die Patient:innen, die von den emotionalen Belastungen geträumt, sie also in ihren Träumen verarbeitet hatten,konnten die Depression hinter sich lassen. Träume dienen als eine Art Overnight-Therapie. Nur ohne die langen Wartezeiten.
Emotionen werden von der Erinnerung getrennt
Schlaf scheint nicht zu reichen. Auch scheint das Träumen allein nicht zu reichen. Anscheinend kommen wir vor allem dann besser über eine schwierige Situation hinweg, wenn wir genau von den Ereignissen träumen, die uns emotional so mitgenommen haben. Matt Walker schlussfolgert in seinem Buch:
„Nicht die Zeit heilt alle Wunden, sondern die im Traumschlaf verbrachte Zeit sorgt für emotionale Genesung.“
Träumen, so Walker, führe dazu, dass die emotionale Erinnerung von der sachlichen, neutralen Erinnerung nach und nach getrennt wird – sodass die Emotionen nicht jedes Mal in der gleichen Intensität wieder mit abgerufen werden, wenn wir uns erinnern.
Bevor du jetzt durchdrehst, weil du nicht ständig von emotionalen Ereignissen träumst, nachdem sie geschehen – wahrscheinlich tust du das sehr wohl, kannst dich aber nicht daran erinnern.
Wenn man all das weiß, könnte man sich wünschen, seine Träume beeinflussen zu können, sie zu steuern. Dafür gibt es einen Namen: luzides Träumen.
NASA|Cody Hiscox/Unsplash. Montage: Philipp Sipos
War dir während des Träumens schon mal bewusst, dass du gerade träumst?
KR-Leserin Anja schreibt in meiner Umfrage: „Ich träume vom Wäsche aufhängen und merke, dass ich träume. Dann wünsche ich mir, dass die Wäsche eben einfach schon fertig aufgehangen ist. Am liebsten fliege ich aber, wenn ich durch Zufall bewusst träume. Beim letzten Mal habe ich Kuchen an Omis verteilt beim rumliegen. Das war schön!“
Mir ist das noch nie passiert. Zumindest erinnere ich mich nicht daran, jemals luzide geträumt zu haben. Luzide Träume werden auch Klarträume genannt, denn wer luzide träumt, dem ist klar, dass er träumt, während er träumt.
Oftmals geht die Vorstellung darüber, was luzides Träumen ausmacht, aber noch weiter. Es geht nicht nur darum, sich des Träumens bewusst zu sein, sondern auch steuern zu können, wovon man träumt und wie man sich im Traum verhält. KR-Leserin Andrea fasst das so zusammen: „Wenn ich merke, dass ich träume, dann kann ich steuern, wie es weitergeht. Es ist, als ob ich mich selbst beobachte.“
Historisch gesehen war luzides Träumen unter Wissenschaftler:innen lange verpönt – man konnte sich schlichtweg nicht vorstellen, dass man etwas sowieso schon so Absurdes wie Träumen auch noch aktiv beeinflussen kann. Außerdem war man sich sicher, dass man etwas so Subjektives wie Träumen (wobei die Patient:innen nicht mal wach sind!), nicht objektiv, wissenschaftlich untersuchen könnte.
Nun: Die Methoden wurden besser. Wissenschaftler:innen kreierten aufwändige Studien-Set-Ups, um nachzuweisen, dass es sehr wohl möglich ist, luzide zu träumen. Und sie fanden Methoden, die die Wahrscheinlichkeit des Klarträumens erhöhen und die jede:r anwenden kann.
Die Studie, die alles verändert hat
Vor einigen Jahren schaffte es ein Experiment, viele skeptische Wissenschaftler:innen umzustimmen. Die Teilnehmer:innen waren alle selbst davon überzeugt, luzide träumen zu können. Man schob sie – wie so oft – in ein MRT-Gerät. Beim ersten Teil der Studie waren die Teilnehmer:innen wach. Sie sollten, während sie da lagen, erst ihre linke Hand ballen und dann ihre rechte. Immer und immer wieder. Die Wissenschaftler:innen machten währenddessen Aufnahmen vom Gehirn und konnten so genau die Regionen bestimmen, die während des Händeballens der beiden Hände aktiv waren.
Im zweiten Teil des Experiments durften die Teilnehmer:innen dann schlafen – und träumen. Während des REM-Schlafs, so sagt man, sind unsere Körper gelähmt, um uns daran zu hindern, unsere Träume auszuleben. Man nennt das „Paralyse“. Wenn wir doch mal zucken, sind das Bewegungen, die durch Lücken schlüpfen. Aber in der Regel können wir uns nicht wirklich bewegen, und das ist auch besser so. Denn sonst würden wir viel zu oft aus dem Bett fallen.
Eine Ausnahme gibt es aber: die sogenannten extraokularen Muskeln des Auges. Sie steuern die Bewegungen des Augapfels und des oberen Augenlids. Deshalb heißt die REM-Phase des Schlafes auch Rapid Eye Movement Phase. Die Wissenschaftler:innen machten sich das zunutze, denn durch die Bewegung der Augen hatten die Studienteilnehmer:innen eine Form der Kommunikation, die sie während des Träumens nutzen konnten.
Drei Augenbewegungen nach links, drei nach rechts
Die Forscher:innen und die Teilnehmenden vereinbarten Zeichen miteinander. Wenn sie zum Beispiel drei Augenbewegungen nach links hintereinander machten, war das das Zeichen dafür, dass sie nun bewusst, also luzide, träumen. So konnten die Teilnehmenden auch signalisieren, wenn sie ihre linke oder rechte Hand im Traum ballen. Und das ist wichtig: nur im Traum. Denn durch die Paralyse bewegten sich die Hände natürlich nicht in echt. Auf den Gehirnscans sahen die Wissenschaftler:innen aber, dass die gleichen Hirnregionen aktiv waren wie im wachen Zustand, als die Teilnehmer:innen ihre Hände tatsächlich bewegten.
Ich fasse das mal zusammen. Nachdem Forscher:innen Jahrzehnte lang dachten, dass luzides Träumen nicht Gegenstand von seriöser Forschung sein könnte, haben die Wissenschaftler:innen in diesem Experiment gezeigt, dass luzide Träumer nicht nur wissen, dass sie träumen, sondern auch beeinflussen können, was sie träumen, während sie träumen.
Beeindruckend. Aber wie ist das möglich?
Wie anfangs beschrieben, feuern bestimmte Hirnregionen geradezu drauf los, wenn wir träumen. Die visuell-räumlichen Regionen, der Motor-Kortex, der Hippocampus und die Amygdala. Und eine Hirnregion wird praktisch ausgeschalten: der präfrontale Kortex, der CEO, die vielleicht wichtigste Region, die mit Bewusstsein und rationalem Handeln und Entscheiden in Verbindung gebracht wird. Das Besondere bei luziden Träumern scheint zu sein, dass genau diese Regionen im präfrontalen Kortex plötzlich wieder aktiv sind, wenn sie sich bewusst darüber sind, dass sie träumen. Forscher:innen gehen davon aus, dass genau diese Aktivität dafür sorgt, dass man die Träume bewusst steuern kann.
So kannst auch du luzide träumen
Wenn Träume wie eine Art Overnight-Therapie fungieren, ist es natürlich sehr verlockend, selbst entscheiden zu können, was man träumt. 60 Prozent der Teilnehmer:innen meiner Umfrage geben an, dass sie ihre Träume gern steuern würden.
Und ungefähr 30 Prozent der Teilnehmer:innen geben an, dass sie ihre Träume steuern können. KR-Leser Philo zum Beispiel sagt: „Manchmal habe ich den Verdacht zu träumen. Dann mache ich verschiedene Tests, um das zu überprüfen. Wenn ich unter Wasser atmen kann, meine Umgebung sich zu schnell verändert oder ich Dinge zum Fliegen bringen kann, weiß ich Bescheid.“
Es gibt Methoden, die einem dabei helfen können, zum luziden Träumer zu werden. Ich habe zwei Übungen gefunden, die nicht von unseriösen Ratgebern aus der Schmuddelecke in der Buchhandlung stammen, sondern von den Wissenschaftler:innen, die luzides Träumen erforschen.
Untersuchungen weisen darauf hin, dass diese Methoden funktionieren. Aber sie sind noch lange nicht so gut erforscht, dass man eine 100-prozentige Erfolgsaussicht hätte.
Die erste Methode heißt „MILD“ (mnemonic induction of lucid dreams). Dabei gehst du ganz normal schlafen, stellst dir aber nach fünf Stunden einen Wecker. Wenn der dich weckt, wiederholst du vor dem erneuten Einschlafen diesen Satz: „Das nächste Mal, wenn ich träume, werde ich mich daran erinnern, dass ich träume.“ Dann stellst du dir vor, dass du einen luziden Traum hast.
Die zweite Methode ist die Reality-Check-Methode. Das Gute ist, dass du dich dafür nicht mitten in der Nacht aufwecken musst. Hier geht es darum, tagsüber immer wieder zu testen, ob du wach bist oder nicht. Das geht zum Beispiel so: Du schaust tagsüber immer wieder auf die Innenfläche deiner Hand. Dann schaust du wieder weg und schließlich wieder hin. Wenn du wach bist, bleiben die Linien auf deiner Hand gleich. Im Traum schafft es das Gehirn nicht, so ein komplexes Muster zweimal hintereinander gleich aussehen zu lassen. Wenn das geschieht, kann dir klar sein: Ich träume gerade.
Seit ich mich mit der Traumforschung beschäftigt habe, achte ich deutlich bewusster auf meine Träume. Wir wissen zwar noch nicht genau, warum wir träumen, aber eins ist klar: Es ist nicht egal, ob wir träumen und auch nicht, wovon wir träumen.
Redaktion: Brigitte Wenger, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger