Herr Schellberg, wie viele Penisse sehen Sie im Jahr?
In der Woche sicher an die 50. Das wären im Jahr 2.500 Penisse.
Dann können Sie mir sicher die Frage beantworten: Ist der Penis für Männer eine Schwachstelle?
Nein, Schwachstelle kann man eigentlich nicht sagen. Aber ich denke, für viele Männer ist der Penis das unbekannte Wesen. Er ist wichtig in ihrem Leben, sie tragen ihn dauernd durch die Gegend – es bleibt ihnen ja auch nichts anderes übrig. Aber so richtig viel wissen sie eigentlich nicht über ihn. Und verstehen tun sie ihn auch nicht. Er ist halt da.
Sven Schellberg ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Berlin. Er und seine Kolleg:innen haben sich auf Infektionsmedizin spezialisiert, insbesondere im Bereich sexueller Gesundheit. Foto: Novopraxis Berlin
Aber wie kann das denn sein? Ich habe häufig das Gefühl, dass Männer mächtig stolz auf ihre Penisse sind. Manche nennen ihre Hoden sogar „Kronjuwelen“!
Ich glaube, viele Männer sind ziemlich stolz darauf, dass sie einen Penis haben und könnten sich auch nicht vorstellen, wie es ist, wenn man keinen hat. Der ist ja das pure Lustinstrument. Gerade beim Sex spielt sich für Männer viel über den Schwanz ab. Aber auf der anderen Seite ist er für viele auch ein Instrument, um sich mit anderen zu messen und mit dem man nie so richtig zufrieden ist. Er könnte ja immer noch größer, dicker, länger oder härter sein. Das macht ihn auch ein bisschen zum Endgegner, weil man ja nicht so viel an ihm ändern kann. Vielleicht kann man ihn mit Potenzmitteln noch ein bisschen härter machen. Und manche Männer fangen an, ihn durch Penisverlängerungen oder -verdickungen noch ein bisschen länger und dicker zu machen. Aber letztlich kann man an seinem Penis nicht viel ändern und muss damit leben.
Ich habe eine Umfrage unter unseren Lesern gemacht. Fast 1.000 Teilnehmer haben teilgenommen. Die erste Frage war: Wie findest du deinen Penis? Auf einer Skala von 1 bis 5 haben die Teilnehmer mit einem Durchschnitt von 3,9 geantwortet. Wundert Sie das Ergebnis?
Ehrlich gesagt, nein. Das zeigt eine klassische Zerrissenheit. Einerseits ist kaum ein Mann wirklich zufrieden mit seinem Penis. Auf der anderen Seite will natürlich auch keiner sagen: Mein Schwanz ist total scheiße. Das verletzt sonst das Ego. Deshalb kommt hier so ein Mittelwert raus: nicht super happy, aber passt schon. Dazu kommt, dass mir der schönste Penis nichts bringt, wenn ich gar nicht weiß, wie ich damit Lust bereiten und empfinden kann. Ich sage das auch meinen Patienten hier immer: Auch wenn ihr nicht hundertprozentig zufrieden seid, im Alltag kommt ihr ja doch ganz gut klar und ihr und eure Partner:innen sind ganz zufrieden damit.
Sind die Männer, die zu Ihnen in die Praxis kommen, zufrieden mit ihrem Penis?
Männer reden nicht wirklich über ihre Penisse. Eigentlich nur, wenn etwas kaputt ist. Oder nicht so funktioniert, wie sie das gerne hätten. Die kommen nicht in meine Praxis und sagen: Boah, ich wollte dir mal meinen Lümmel zeigen. Aber auch das hatte ich schon. Ich hatte mal einen Patienten, der zum ersten Mal hier war. Wir waren gerade mitten im Gespräch, da stand er auf, öffnete seine Hose, holte seinen Schwanz raus und legte ihn mir einfach auf den Tisch – ohne eine Aufforderung von mir. Der hatte gar keine Scham und wohl auch wenig Erfahrung, was Arzttermine angeht.
Die Männer, die in meine Praxis kommen, haben meistens ein konkretes Problem. Sie reden nicht darüber, wie sie ihren Penis allgemein finden. Es kommt aber vor, dass Patienten hier sagen: Mein Schwanz ist zu klein, zu krumm, hat zu dicke Venen oder zu viel Vorhaut. Dann sage ich: Weißt du was, ich sehe jeden Tag 20, 25 Penisse. Im statistisch nicht gemittelten Vergleich kannst du ganz zufrieden sein. Dann gibt es manchmal erst einen schönen Lacher. Aber ich glaube, es bewirkt auch eine echte Entlastung. Wenn jemand wie ich, im weißen Kittel quasi, sagt, das sieht alles ganz normal aus, dann kann es nicht so schlecht sein.
Sollten Männer mehr über ihre Penisse reden?
Das Vorurteil über Männer ist: Wenn jemand mit einem anderen Typen über seinen Schwanz spricht, ist der entweder ein echter Kerl und stockbesoffen – oder er ist schwul, was gesellschaftlich immer noch ein wenig anrüchig ist. Beste Freundinnen sitzen nebeneinander und unterhalten sich über ihre Menstruation. Das geht. Man kann sich aber schwer vorstellen, dass heterosexuelle Typen im nüchternen Zustand nebeneinander sitzen und ein tiefes Gespräch über ihre Schwänze führen. Das wäre sicher manchmal sehr hilfreich und meiner Meinung nach auch überhaupt nicht peinlich.
Dieser Text ist mit unserer Community entstanden.
Vielen Dank an alle, die bei der Umfrage zu diesem Text mitgemacht haben und ihre Gedanken, Fragen und Einschätzungen geteilt haben. Weiter oben im Text findest du ausgewählte Ergebnisse der Umfrage im Detail, hinter dem blauen +.
Welche Rolle spielen Penisse für ihr Gefühl von Männlichkeit?
Der Penis ist, bei aller Schwammigkeit der Definitionen, eines der wesentlichen körperlichen Merkmale für Männlichkeit. Das ist in der allgemeinen Vorstellung etwas, das erstmal nur ein Mann hat. Wenn Männer mit ihrem Penis ein Problem haben, bedeutet das für sie viel mehr als nur ein Organproblem. Es betrifft ihre Selbstidentität. Das wird in der öffentlichen Diskussion total unterschätzt. Ich sehe das manchmal in speziellen Situationen, wo Männer ein Problem am Penis haben, das sie woanders nicht so sehr betreffen würde. Ein Beispiel: Feigwarzen. Am Hintern werden die von vielen einfach ignoriert. Aber am Schwanz sind die der pure Alptraum! Das geht denen echt an die Seele und greift ihre Männlichkeit an. Mein Penis ist verletzt, ich bin kein echter Mann mehr!
Nehmen Sie bei diesem Thema Unterschiede zwischen heterosexuellen und queeren Männern wahr?
Männer, die Sex mit Männern haben, setzen sich in der Regel irgendwie mit Männlichkeit und Sexualität auseinander. Das liegt an der Rollenverteilung beim Sex. Bei heterosexuellem Sex übernimmt der Mann in der Regel den aktiven Part. Das muss bei schwulem Sex aber nicht so sein. Die besten Gespräche zu dem Thema führe ich aber mit transidenten Personen. Der Klassiker: Jemand macht die Transition von Frau zu Mann. Die Person sitzt vor mir, vollbärtig, mit Haaren auf der Brust und sagt: „Ich bin ein Mann, aber ich brauche keinen Schwanz, ich will meine Vagina behalten.“ Punkt. Warum soll ich mir jetzt ein mäßig gut funktionierendes Geschlechtsteil zusammenbasteln lassen, wenn ich doch eins habe, das super funktioniert? Das ist für mich ein genialer, total reflektierter Umgang mit Männlichkeit. Davon könnten viele schwule oder heterosexuelle Männer lernen.
Ich habe in meiner Umfrage auch gefragt, ob die Teilnehmenden ihren Penis mit anderen vergleichen. Das haben tatsächlich die meisten bejaht.
Natürlich ist da eine Neugierde. Nicht umsonst hängen in vielen Bars oder Cafés diese Blickschutzdinger am Pissoir. Eine Tendenz zu gucken ist also da. Das finde ich auch nicht schlimm, Frauen vergleichen sich ja auch. Ich denke nur, wenn Männer das Vergleichen konsequenter machen würden, dann hätten sie viel weniger Probleme. Dann würden sie nämlich sehen, dass 95 Prozent der anderen Schwänze auch nicht dicker, länger oder breiter als ihr eigener sind. Die meisten Männer müssten einfach mal Frieden mit ihrem Schwanz schließen. Nach dem Motto: Ich finde dich eigentlich auch ganz gut. Du tust meistens das, was du tun solltest und wir sind gute Freunde.
Welches Verhältnis haben Männer zu ihrem Körper?
Das ist sehr generationenabhängig. Ich würde sagen: je jünger, desto schwieriger ist das Verhältnis. Das heißt nicht, dass die Alten automatisch weiser sind. Aber ich glaube, je älter Männer werden, desto versöhnter werden sie mit ihrem Körper. Die haben auch schon viel mehr ausprobiert, als wir oft glauben. Die wissen schon, welche Sexpraktiken ihnen gefallen und sind mit ihrem Körper insgesamt unbefangener. Die sind auch hier in der Praxis während der Untersuchungen entspannter. Die Jüngeren haben weniger Erfahrung, aber gleichzeitig viel mehr Druck. Ich möchte mit einem 23-Jährigen von heute nicht tauschen. Denn er steht in einem extremen Wettbewerb. Damit meine ich nicht nur den Wettbewerb unter der Dusche im Fitnessstudio oder Schwimmbad, sondern auch den Wettbewerb mit der virtuellen Welt, also über Pornos oder Datingplattformen. Der ist immens. Die Jungen sozialisieren sich sexuell im Internet. Was sie dort sehen, können sie nicht immer einordnen. Entweder sie haben gar keine realistische Vorstellung davon, wie ein Körper funktioniert. Oder sie bekommen abstruse Vorstellungen, wie ein Körper funktionieren sollte. Es ist nicht normal, wie im Porno sechsmal hintereinander abzuspritzen und danach immer noch einen Ständer zu haben. Manche Erektionsprobleme lösen sich alleine schon dadurch, dass man den Männern sagt: Es ist normal, dass dein Penis nach der Ejakulation schlaff wird. Das ist gar kein Erektionsproblem, wenn das passiert.
Was raten Sie Männern?
Ich sage immer: Hab dich doch mal lieb! Es gibt Männer, die ihre Körper fast schon pathologisch kritisieren, in Richtung einer Körperschemastörung. Das heißt, sie tendieren dazu, ihren Körper anders wahrzunehmen, als er eigentlich ist. Zum Beispiel würden sie ihren Penis immer zu klein malen oder auf einem Maßband zu klein zeigen. Ich sage dann, weißt du was, mach dich mal nackig, stell dich vor den Spiegel und sage dir: Boah, bin ich geil! Da lachen viele und antworten, aber das, was ich da sehe, ist vielleicht nicht so geil. Ich gebe dann zurück: Machs doch einfach mal.
Braucht es das wirklich? Finden Männer sich nicht eh schon geil, so wie sie sind?
Klar, es gibt natürlich auch die Narzissten, die sich nichts Schöneres auf der Welt als sich selbst vorstellen können. Aber ich glaube, die Mehrzahl der Männer hat eher ein maximal neutrales Verhältnis zu ihrem Körper oder einen sehr kritischen Umgang damit. Egal, wie sie sich in Bezug auf die sexuelle Präferenz einsortieren. Und je jünger sie sind, desto kritischer beurteilen sie sich.
Ich nehme junge Leute heute – zumindest in bestimmten Kreisen und Gruppen – als sehr aufgeklärt und aufmerksam wahr. Gerade in Bezug auf andere Lebenswelten, auf Körperformen oder auch auf Sexualität.
Das gibt es natürlich. Bei manchen Jüngeren spielen Themen wie sexuelle Präferenzen oder Selbstbild wirklich gar keine Rolle mehr. Aber die meisten sind trotzdem extrem schlecht aufgeklärt. Nicht nur, dass sie wenig wissen, die meisten haben auch eine exorbitante Sprachlosigkeit, was Sexualität angeht. Die wissen gar nicht, wie sie überhaupt über Sexualität sprechen sollen. Das ist bei Männern noch viel schlimmer ausgeprägt als bei Frauen. Frauen lernen das oft irgendwann. Aber wenn ich als Mann mit meinem besten Bro über meine Ejakulation reden will, hält der mich womöglich für schwul. Dann lasse ich es lieber. So findet gar kein Austausch statt, weil ihnen die Sprache fehlt. Die lernen nirgends, über Sexualität zu sprechen. Das liegt zum einen daran, dass die Sexualerziehung, wie ich sie früher in der Schule noch erlebt habe, heute so nicht mehr stattfindet. Das hat unterschiedliche Gründe: Personalmangel zum Beispiel. Es gibt auch immer noch auch Eltern, die sich dagegen wehren, aus kulturellen oder religiösen Gründen. Dann sitzen die Jugendlichen später bei ihrem ersten Date und wissen nicht, wie sie das Kondom auspacken und welche Körperöffnung sie jetzt benutzen sollen.
Das sind ja rosige Aussichten!
Ja, vor allem, wenn auf der anderen Seite eine virtuelle Welt Kindern schon ab zwölf oder 13 Jahren Sachen zeigt, die wir wahrscheinlich mit 20 noch nicht gesehen hatten. Die Kinder haben deshalb ganz viele Fragen, können aber mit niemandem darüber reden. Dazu kommt, dass sie Pornos als Realität wahrnehmen und denken, alle haben so Sex. Noch schwieriger wird es dadurch, dass es jetzt auch KI-Pornos gibt. Wir kommen also von: „Ich vergleiche mich mit anderen“ zu: „Ich vergleiche mich mit einem Porno“ zu: „Ich vergleiche mich mit künstlicher Intelligenz.“ Das wird die Probleme unserer Patienten hier in der Praxis noch verstärken.
Wie können wir dagegensteuern?
Ich glaube, wir müssen vieles erstmal destigmatisieren. Sexualität muss destigmatisiert werden. Nacktheit muss destigmatisiert werden. Wir müssen wieder eine Kultur erreichen, um in den Schulen über diese Themen zu sprechen. Viele Themen sind auch im Rahmen der Political Correctness hintenüber gefallen. Früher wurde in der Schule klarer über Sexualität gesprochen, das gehörte einfach dazu. Heute gibt es mehr Vorbehalte und Sorgen bei den Eltern und dadurch trauen Lehrer:innen sich nicht mehr so viel. Das ist ein echter Verlust. Meine Biolehrerin Evelyn in den 1980er Jahren in Nordrhein-Westfalen hat uns im Biologieunterricht erklärt, wie Männer wichsen. Das war natürlich urkomisch und auch ein bisschen peinlich. Sie hat uns mit einem Holzschwanz gezeigt, wie man ein Kondom überzieht. Letztlich haben wir es so aber alle verstanden. Das war in seiner Einfachheit welterweiternd. Und ich glaube, zu diesem unverkrampften Umgang müssen wir hinfinden. Wir haben das ja mal gehabt, das ist ja so absurd. Wir sind im Prinzip in der Art und Weise, wie wir über Sexualität reden, wieder in den 1950er-Jahren angekommen.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger