Eine KI-generierte Collage mit Musiknoten, einen Menschen der Beethoven ähnlich sieht und Geigen, vor einem gelben und orangenen Hintergrund

KI-GENERIERT | Midjourney

Psyche und Gesundheit

Wie unterscheiden sich Künstler:innen von anderen Menschen?

Sie haben Vielen nur eine Sache voraus.

Profilbild von Abigail Jareño Gómez

In unserem Bestreben danach, Kunstschaffende und ihre Genialität zu verstehen, stellen wir sie oft auf ein Podest oder nehmen an, sie seien Wesen aus anderen Sphären mit unverständlichen Gedanken.

Dieser Mythos ist weit verbreitet, aber entfernt uns von dem, was sie mit uns teilen. Er gibt uns das Gefühl, dass wir ihre Leistungen und Erfolge nicht erreichen können.

Es ist wichtig, die Vorstellung zu entmystifizieren, dass sich Künstler:innen radikal von uns unterscheiden. Dazu müssen wir ihr Verhalten mit unseren gemeinsamen menschlichen Erfahrungen in Bezug setzen.

Ich habe jahrelang die Persönlichkeit und den Charakter historischer Figuren erforscht, insbesondere Ludwig van Beethoven aus psychologischer Sicht. Außerdem bin ich tief in die Literatur über die Psychologie einiger berühmter kreativer Köpfe der Geschichte eingestiegen.

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Obwohl jede:r Künstler:in anders ist, gibt es bestimmte Charakterzüge und Muster in ihren Persönlichkeiten, die bemerkenswert sind. Wenn wir diese verstehen, können wir uns ihren kreativen Welten annähern, ohne uns als Außenseiter zu fühlen.

Wir können dafür die „Big Five“ nutzen, also die psychologischen Säulen der Persönlichkeit: Extrovertiertheit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus, Verträglichkeit und Offenheit für Erfahrungen.

Introvertiertheit und Extrovertiertheit: ein feines, aber notwendiges Gleichgewicht

Künstler:innen gelten gemeinhin als introvertiert, weil sie oft alleine arbeiten. Es ist schwieriger, im Lärm und Chaos der Gesellschaft kreativ zu denken. Das heißt nicht, dass sie sozialen Kontakt meiden oder es nicht genießen, von Freunden und Angehörigen umgeben zu sein. Es kommt auf das richtige Gleichgewicht an.

Pablo Picasso ist ein gutes Beispiel. In seiner Wohnung in Montparnasse in Paris widmete er den größten Raum der Malerei und verbot jedem, diesen ohne seine Erlaubnis zu betreten. Dort umgab er sich mit Malutensilien und seinen Haustieren: einem Hund, drei Katzen und einem Affen. Er arbeitete, bis es dunkel wurde und hasste Ablenkungen, obwohl er Besuch schätzte und ein guter Gastgeber war.

Gewissenhaftigkeit: Ordnung und Ehrgeiz im Griff

Das Konzept der Gewissenhaftigkeit bei Kunstschaffenden wird oft missverstanden. Es wird oft mit Ordnung und Organisation in Verbindung gebracht, während Künstler:innen eher als chaotisch oder geistesabwesend wahrgenommen werden. Sie weisen jedoch auch Charakterzüge auf, die mit Pflichtbewusstsein verbunden sind, zum Beispiel ein Bedürfnis nach Leistung, einen starken Willen, exzellent zu sein und ein hohes Maß an Disziplin.

Die mexikanische Malerin Frida Kahlo ist ein gutes Beispiel für die Gewissenhaftigkeit von Künstler:innen. Trotz gesundheitlicher Probleme in der Kindheit und einem Busunfall mit 18 Jahren, blieb sie ihrer Arbeit treu und hinterließ der Welt ein großes künstlerisches Vermächtnis.

Neurotizismus: Sensibilität und emotionale Stabilität

Es gibt viele Spekulationen über Künstler:innen und Neurotizismus oder psychische Erkrankungen. Viele Künstler:innen drücken ihre Emotionen sehr intensiv aus oder haben labile, psychisch schwierige Phasen. Die Psychologie kennt aber keinen Zusammenhang zwischen einem höheren Neurotizismus und einer größeren künstlerischen Begabung.

Eine erhöhte emotionale Sensibilität ist nicht immer mit emotionaler Instabilität gleichzusetzen. Das bedeutet aber auch nicht, dass Künstler:innen ihr Schaffen nicht auch dafür nutzen, emotionale Schwierigkeiten, Schmerzen oder Traumata auszudrücken. Und auch nicht, dass Gefühle nicht in künstlerischem Ausdruck kanalisiert werden können.

In ihrem Buch „Saved by a Song“ erzählt die US-amerikanische Sängerin Mary Gauthier von ihrer Trauma- und Suchtgeschichte. Sie berichtet, wie die Musik und das Songs schreiben ihr ein Gefühl von Sinn und einen Ausweg aus ihrer Situation boten. Im Moment geht es ihr psychisch gut. Das zeigt sich auch in ihren Auftritten und wie sie bei Konzerten mit dem Publikum interagiert.

Sympathie: das empfindliche Gleichgewicht der Originalität

Eigenschaften wie Verträglichkeit, Vertrauen in andere, Bescheidenheit und der Wunsch nach Zusammenarbeit scheinen vielen Künstler:innen zu fehlen. Außerdem können ihre Vorliebe für Einsamkeit und die Hingabe an ihr Werk dazu führen, als unfreundlich und misstrauisch zu gelten.

Das heißt aber nicht, dass sie darum egoistisch sind oder dass sie kein Mitgefühl haben. Die, die sich mit Kunst beschäftigen, fühlen sich gezwungen, ein Gefühl für ihre eigene Einzigartigkeit und Originalität zu entwickeln, was viele dazu veranlasst, ihre Kunst der Welt zu zeigen und damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das, was viele als kreatives Selbstverständnis bezeichnen, wird von anderen als Arroganz fehlinterpretiert.

In einem Interview hat der spanische Balletttänzer und Choreograph Nacho Duato angedeutet, dass er sich von anderen abgrenzen muss, um persönlich und beruflich zu wachsen. Gleichzeitig war er bescheiden in der Anerkennung seiner eigenen Arbeit und bezeichnete sich selbst als „Handwerker der Bewegung“.

Offenheit für Erfahrungen: der Schlüssel zur Kreativität

Eine Eigenschaft, die Künstler:innen besonders auszeichnet, ist die Offenheit für Erfahrungen. Dazu gehören Neugier, der Wunsch, Neues zu entdecken, die Wertschätzung von Schönheit und der Wille, Horizonte zu erweitern. Die Offenheit für neue Erfahrungen ermöglicht es, frische, originelle Ideen zu entwickeln, die Innovationen im künstlerischen Bereich vorantreiben können.

Ein klassisches Beispiel für diese Charaktereigenschaften ist der Komponist Ludwig van Beethoven. Er hat immer respektiert, wo er herkommt und was er gelernt hat, aber er hatte auch ein starkes Bedürfnis zu experimentieren und Grenzen zu überschreiten. Er forderte beispielsweise Klavierbauer auf, den Instrumenten Tasten hinzuzufügen und widersetzte sich den musikalischen Konventionen seiner Zeit. Eine seiner wichtigsten Neuerungen war die Einbeziehung von Gesangsstimmen in eine Sinfonie – ein Kompositionsstil, der bis dahin ausschließlich auf Instrumenten basierte.

Jenseits der Mythen

Auch wenn die Persönlichkeiten von Künstler:innen in mancher Hinsicht vielleicht einzigartig sind, weisen sie doch viele Gemeinsamkeiten mit der allgemeinen menschlichen Erfahrung auf. Wenn Du diese Eigenschaften selbst erforschst, wirst Du vielleicht entdecken, dass auch in Dir ein kreativer Funke steckt, der es verdient, zum Ausdruck gebracht zu werden.

Der Hauptunterschied zwischen Künstler:innen und anderen Menschen ist vielleicht nur der Mut, auf sich selbst zu hören, sich selbst zu beobachten und sich zu trauen. Also das zu zeigen, was in einem selbst vorgeht.


Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch bei The Conversation erschienen. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen.

Übersetzung: Vincent Baur, Redaktion: Lars Lindauer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Bent Freiwald

The Conversation