Vor einigen Jahren höre ich das erste Mal davon, dass zwei Prozent der Menschen Amusie haben. Die Störung sorgt dafür, dass sie statt Musik nur Lärm wahrnehmen. Ich kann mir das nicht vorstellen: ein Leben ohne Musik. Ohne Evergreens auf Partys, zu denen morgens um halb vier alle sentimental werden. Ohne epische Fußballhymnen, die sich automatisch unter die Erinnerung an das Sommermärchen 2006 legen. Geht das? Fehlt da nicht was?
Ich lerne Jasmin Pfeifer bei einer wissenschaftlichen Veranstaltung kennen, als sie einen Vortrag über Amusie hält. Sie erklärt die neurologischen Grundlagen, berichtet über die dünne Studienlage, erzählt, wie sie selbst dazu forscht – und, dass sie selbst betroffen ist. Mich interessiert, wie es ist, ohne Musik zu leben.
Wenn Jasmin mal Musik hört, geht es ihr nur um den Text. Selbst auf Konzerten trägt sie Ohrstöpsel, um die störenden Instrumente etwas zu dämpfen. Jasmin ist nicht nur selbst Betroffene, sondern auch die einzige Amusie-Forscherin in Deutschland. Die 37-Jährige arbeitet in einem geräumigen Büro mit großem Eckschreibtisch in einem Siebzigerjahrebau der Düsseldorfer Universität, zwei Etagen über dem Akustiklabor, wo sie ihre Tests durchführt. Ihre neueste Errungenschaft ist ein Hirnstimulator, mit dem sie bestimmte Hirnregionen zum Schwingen bringen kann. Das könnte ein allererster, winziger Schritt auf dem Weg zu einer Therapie sein.
Jasmin, Taylor Swift hat 300 Millionen Tonträger verkauft, letztes Jahr wurde ihre Musik mehr als 26 Milliarden Mal gestreamt. Verstehst du diesen Hype?
Witzigerweise habe ich ihr Debütalbum geschenkt bekommen, weil ich damals nach dem Abi in einem Countryladen in Kanada gearbeitet habe. Ich weiß also, wer sie ist. Aber die Musik höre ich nicht – und auch den Hype um sie verstehe ich nicht, weil ich ihn auch nicht wirklich verstehen kann. Bei mir kommt nur Krach an, so wie bei jeder Musik.
Dass du Musik nicht richtig wahrnehmen kannst, liegt an deiner Amusie. Das ist eine angeborene Störung, bei der das Gehirn die Musik nicht richtig verarbeitet. Kannst du beschreiben, wie Musik für dich klingt? Ist es einfach laut oder hört es sich wie ein Presslufthammer auf einer Baustelle an?
Musik klingt für mich am ehesten wie das Geräusch, wenn jemand auf Töpfen herumschlägt. Also nach einem metallischen Scheppern. Überhaupt ist Musik für mich meistens einfach nur unnötiger Lärm, aber das ist auch vom Genre abhängig.
Erinnerst du dich an den Moment, als du zum ersten Mal gemerkt hast, dass du Musik anders wahrnimmst als andere?
Das war wahrscheinlich im Musikunterricht in meiner Montessori-Grundschule. Wir sollten ein Musikstück hören und etwas dazu malen. Unser Lehrer hat „Die Moldau“ von Smetana angemacht.
Also ein Stück mit weicher Melodie und vielen Streichern.
Genau. Alle haben auch was Fließendes und Schönes gemalt. Ich habe mit einem schwarzen Stift nur Chaoslinien über das ganze Blatt gezogen.
Hat dir das Angst gemacht?
Ich habe gemerkt, dass da etwas anders ist, aber ich habe das in dem Alter gar nicht richtig verstanden. Schlimmer war es in der Oberstufe, als wir uns im Musikunterricht vorne neben das Klavier stellen mussten und sagen sollten, was für ein Ton gespielt wird. Mein Lehrer konnte überhaupt nicht nachvollziehen, dass ich das nicht kann. Er fordert mich auf, mich jede Stunde einmal zu melden und dann zu sagen, dass ich die Antwort nicht kenne. Dafür habe ich eine 3 im Zeugnis bekommen, pädagogisch wertvoll war das natürlich nicht. Und meine Mitschüler fanden es seltsam, dass ich das nicht kann und mich trotzdem melde.
Für viele Jugendliche ist Musik extrem wichtig. Sie drücken sich darüber aus oder identifizieren sich mit einer Band und deren Lifestyle. Wie war es für dich, kein Lieblingslied und keine Lieblingsband zu haben?
Natürlich habe ich den sozialen Druck verspürt, mich für Musik zu interessieren. In meinem engen Freundeskreis waren aber eher nerdige Leute. Musik war bei uns kein großes Thema. Aber bevor wir unsere Abiturzeugnisse bekamen, sollte jeder ein Lied aussuchen, das gespielt wird, sobald man auf die Bühne geht. Ich wollte kein Lied haben, aber alle haben versucht, mich zu überreden. Bei der Verleihung war ich die Einzige, die bei Stille hochmarschiert ist. Danach haben mich ganz viele Eltern gefragt, warum ich vergessen hätte, mein Lied einzureichen.
Rund ums Abi ist auch die Zeit, in der man feiern geht. Konntest du mitfeiern?
Ich wollte zwar mitgehen, um dazuzugehören. Aber ich hatte bei Partys keinen Spaß und habe mich die ganze Zeit gefragt, was das Feiern den anderen gibt. Weil ich den Rhythmus nicht richtig wahrnehme, treffe ich den Takt nicht und kann nicht zur Musik tanzen. Das ist in einem Club auch nicht so cool. Ich habe das ein paar Mal ausprobiert und es mir dann geschenkt.
In dieser Zeit wusstest du noch nicht, dass du Amusie hast. Wie hast du herausgefunden, dass hinter deinem Problem, keine verschiedenen Tonhöhen und Rhythmen zu hören, eine Störung steckt?
Das war im ersten Semester an der Uni. Ich war in Linguistik sehr gut, alles fiel mir leicht – bis auf Phonetik, also die Lautlehre. Wir sollten Vokale hören und diese in Lautschrift aufschreiben. Das war für mich eine Katastrophe! Ich bin zu meiner Dozentin in die Sprechstunde gegangen und habe gesagt: „Liebe Frau Hamann, ich kann das noch dreißig Stunden probieren, aber das ändert nichts daran, dass ich das einfach nicht kann.“ Das war der Moment, in dem mein Glück anfing: Frau Hamann war ganz anders als mein Musiklehrer in der Schule, sie hat mir das geglaubt. Wir haben zusammen nachgeforscht, warum ich das nicht kann. Sie hat mir einen Text aus dem 19. Jahrhundert vom Sprachwissenschaftler Franz Boas empfohlen, in dem er das Phänomen „Soundblindness“ beschreibt, also sozusagen Klangblindheit. So haben wir herausgefunden, dass ich wahrscheinlich Amusie habe. Zu dem Zeitpunkt, das war 2007, gab es erst vier oder fünf Studien dazu. Mir wurde immer wieder gesagt: „Das musst du doch können!“ Jetzt konnte ich das erste Mal plausibel erklären, warum ich das eben nicht können muss. Mich hat erleichtert zu wissen, dass es nicht an mir liegt. Dass ich nicht schuld bin. Dass ich es nicht nur nicht hart genug versucht habe, sondern dass ich Musik halt nicht hören kann. Es war ein riesiges Glück, dass diese Dozentin da war. Sie ist später meine Doktormutter geworden.
Deine Dissertation hast du über Amusie geschrieben und dabei unter anderem untersucht, wie die Störung präzise diagnostiziert wird. Mittlerweile sind es 16 Jahre, in denen du deine eigene Störung erforschst und Untersuchungen mit anderen Betroffenen machst. Manche machen bei dir im Labor das erste Mal einen Test und erfahren, dass sie Amusie haben. Was macht das mit ihnen?
Für die meisten ist das super erleichternd. Viele haben sich ihr Leben lang gefragt, was mit ihnen nicht stimmt oder warum sie anders sind. Oft erlebe ich, dass andere mit Amusie wahnsinnig frustriert sind, weil sie zum Beispiel unbedingt ein Instrument lernen wollen. Zu begreifen, dass man eine Störung hat und manches daher nicht kann, kann helfen. Mir ging es so. Und mir hilft es auch, selbst daran zu forschen und meine Störung besser zu verstehen: Wenn ich nachvollziehen kann, warum etwas nicht klappt, kann ich das besser akzeptieren. Das gilt auch für das Gehirn, das bei Menschen mit Amusie nicht richtig funktioniert.
Gibt es eine Erklärung dafür, warum das so ist?
Ganz grob gesprochen entschlüsselt das Gehirn das Gehörte nicht richtig, sodass es Musik nur als Lärm wahrnimmt. Das liegt wahrscheinlich an der grauen Hirnsubstanz, also den neuronalen Zellen, die unter anderem akustische Signale verarbeiten. Davon haben Menschen mit Amusie in bestimmten Regionen im Gehirn zu wenig oder zu viel: Das Verhältnis zur weißen Hirnsubstanz, also zu den Nervenfasern, stimmt nicht. Welche Hirnregion dafür verantwortlich ist, weiß man noch nicht. Da widersprechen sich die Studien.
Es gibt weltweit nur wenige Forschende, die zu Amusie arbeiten. Woran arbeitest du gerade?
Beispielsweise untersuche ich zusammen mit Genetikern, wie Amusie vererbt wird. Wir sehen, dass es in Familien verläuft, sodass es wahrscheinlich keine spontane Mutation ist. Aber wir müssen erst noch verstehen, welche Gene dabei eine Rolle spielen. Außerdem sind Leute mit Amusie sehr schlecht darin, zum Beispiel Fahrräder zu zeichnen. Ich teste das immer wieder und offenbar haben Menschen mit Amusie eine schlechtere räumliche Wahrnehmung. Das könnte auch der Grund sein, warum sie nicht gut darin sind, Bälle zu fangen. Es gibt einige solcher Alltagsphänome, die mit der Amusie zusammenhängen, zu denen es aber noch keine Studien gibt.
Auch das Verständnis von Sprache ist davon betroffen, oder?
Menschen mit Amusie können verschiedene Tonhöhen nicht unterscheiden. Das bedeutet, sie hören nicht, ob die Stimme hoch- oder runtergeht. Dadurch ergibt sich aber erst, ob ein Satz eine Aussage oder eine Frage ist – oder sogar ironisch gemeint ist. Um das im Alltag auszugleichen, achte ich stark darauf, wie die Person gerade guckt. Schwieriger ist es, wenn ich die Person nicht sehe. Mein Mann und ich haben immer wieder die Situation, dass wir uns fertig machen, weil wir los wollen: Wenn ich gerade im Bad bin, sagt mein Mann sowas wie: „Wir gehen los.“ Da erkenne ich nicht, ob das eine normale Erinnerung oder eine Frage ist – oder ob er schon genervt ist.
Gibt es eine Therapie für Amusie?
Nein. Wir versuchen, erste Grundlagen dafür zu legen. Ich habe bisher zwei Studien zu Hirnstimulationen gemacht und seit Kurzem habe ich in unserem Labor einen eigenen Hirnstimulator. Damit können wir die Hirnregionen so stimulieren, dass sie schwingen. Denn beim Hören von Musik schwingen normalerweise einzelne Hirnregionen. Bei Menschen mit Amusie gibt es diese Schwingungen nicht. Zumindest in manchen Tests mit dem Hirnstimulator schneiden die Betroffenen vorübergehend etwas besser ab. Sie können also verschiedene Töne etwas besser unterscheiden.Ich habe die Hoffnung, langfristig eine Hilfe für die Leute entwickeln zu können.
Eine schnelle Verbesserung ist für Leute mit Amusie also nicht in Sicht. Wie gehst du mittlerweile mit Musik in deinem Alltag um?
Eigentlich höre ich nur Musik, wenn mein Mann sie zu Hause anmacht. Er hört sehr gerne Musik, aber je nachdem, was das für Musik ist, muss er dann halt leiser oder die Tür zumachen. Sonst ist es für mich schwer, das auszuhalten. Vor ein paar Jahren hat mir mein Mann Konzertkarten für Mark Forster geschenkt, weil ich dessen Texte mag. Auf dem Konzert habe ich die meiste Zeit Ohrstöpsel getragen. Zusammen mit meinem Mann war das schon in Ordnung, aber ich brauche das nicht häufiger.
Besondere Momente im Leben wie Hochzeiten werden oft durch Musik noch emotionaler. Fehlt dir das?
Im Gegenteil! Mein Mann und ich haben mitten in der Pandemie geheiratet. Das war die absurde Zeit, in der einige Sachen noch verboten waren, aber manche auch wieder möglich: Feiern waren erlaubt, aber es durfte nicht getanzt werden. Wir hatten eine schöne Feier mit etwa 50 Gästen, aber es gab keinen Hochzeitstanz. Das war großes Glück! So bin ich um den Tanz herumgekommen. Meine Schwiegereltern hatten schon gefragt, welches Lied wir für den Tanz auswählen, aber da konnte ich sagen, dass das wegen Corona leider, leider nicht geht.
Eine Hochzeit ganz ohne Musik stelle ich mir fast schon komisch vor.
Es sollte ein Lied gespielt werden, während wir zum Altar gehen. Ich habe Songs rausgesucht, bei denen ich den Text mag und die auch zu einer Hochzeit passen, also Kram von Ed Sheeran oder so. Aber mein Mann sagte: „Zu dem Rhythmus kann man nicht schreiten.“ Das war mir gar nicht aufgefallen. Es hat lange gedauert, bis wir was gefunden haben, was für uns beide passte.
Fehlt es dir in solchen Momenten, Musik richtig wahrnehmen zu können?
Nein, mir kann nur etwas fehlen, das ich kenne. Jemand, der von Geburt blind ist, vermisst in der Regel auch nicht das Sehen. Der Vergleich hinkt zwar, aber er zeigt, dass ich einfach kein Konzept davon habe, wie Musik für andere ist. Ich weiß also nicht, wie es ist, von Musik so sehr berührt zu sein, dass ich eine Gänsehaut bekomme.
Gibt es Musik, die für dich erträglicher ist?
Klassische Musik ist für mich ganz furchtbar. Da stellen sich mir die Nackenhaare auf und ich will nur noch die Wände hochgehen. Wenn ich Geigen höre, ist das so, als würde jemand mit den Fingernägeln an einer Tafel langziehen. Es wird besser, sobald Lieder mit weniger Instrumenten gespielt werden und aus mehr Text bestehen. Zum Beispiel hört mein Mann deutsche Liedermacher wie Reinhard Mey. Der klimpert auf seiner Gitarre nur ein bisschen herum, das ist nicht ganz so schlimm.
Es gibt Musik, der man im Alltag nur schwer ausweichen kann: Was machst du, wenn im Supermarkt Musik läuft?
Meistens fällt mir das nicht mehr auf, weil ich die Musik unbewusst ausblende – das kann ich mittlerweile ziemlich gut. Manchmal sind meine Freunde von der Musik genervt, die ich gar nicht mehr wahrnehme.
Amusie hat also auch was Gutes?
Wenn du so willst, ja. Ich kann zum Beispiel keine Ohrwürmer bekommen, das ist sicherlich ein Vorteil. Mit meiner Amusie habe ich auch ein schlechtes Gedächtnis für Lieder. Wenn du mir „Happy Birthday“ vorspielst, kann ich nicht sagen, welches Lied das ist. Auch die Nationalhymne würde ich nicht erkennen. Bei den beiden Stücken weiß ich, dass Leute sie normalerweise erkennen, aber das weiß ich nur aus Erzählungen und aus der Literatur. Mich stört es auch nicht, wenn jemand schief singt. Das hört sich für mich genauso schief an, wie jeder andere Gesang.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert