Ein Mann schiebt seinen Vater im Rollstuhl. Er lächelt ihn an.

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Psyche und Gesundheit

Das musst du wissen, wenn deine Eltern jetzt Pflege brauchen

Stelle dich darauf ein: Deine Eltern werden es hassen.

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Reporter

Ich sehe das Kontaktbild meiner Mutter auf meinem Handydisplay und weiß sofort: Etwas stimmt nicht. Sie hatte mich nie vom Handy angerufen, immer vom Festnetz.

„Hallo Lars, ich bin im Krankenhaus, die Ärzte sagen, es ist Brustkrebs, aber erstmal abwarten, mach dir keine Sorgen, ich melde mich wieder!“ Es war Dienstag, ich saß im Büro der Hamburger Werbeagentur, in der ich erst seit ein paar Wochen ein Praktikum machte. Ich nahm meine Zigaretten, ging raus vor die Tür und rief meinen Bruder an. „Weißt du schon Bescheid? Was heißt das denn jetzt? Und: Was machen wir jetzt?“

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Ein Anruf und du bist verantwortlich. Kurz darauf saß ich im Zug in die Heimat, auf dem Weg ins Krankenhaus zu meiner Mutter.

Manchmal zeichnen sich diese Situationen auch schon früher ab. Pflegebedürftigkeit kann, muss aber nicht plötzlich auftreten. Die gute Nachricht ist, auf einiges kann man sich vorbereiten oder schon einstellen. Ich habe 17 Tipps und Infos aus unserer Community zusammengetragen, die dir helfen, wenn es losgeht.

Insgesamt gibt es drei wichtige Blöcke:

👉 Was ist am Anfang wichtig?
👉 Wie organisiere ich das?
👉 Wie komme ich da gut durch?

Ich beginne mit dem wichtigsten:

1. Beantrage als allererstes einen Pflegegrad!

Der Pflegegrad ist das zentrale Element bei der Pflege einer Person. Er bestimmt darüber, wie viel Hilfe aus der Pflegekasse du bei der Pflege deiner Eltern bekommen wirst. Die Bearbeitung dauert eine Weile und ist kompliziert.

Die gute Nachricht: Der erste Schritt ist schnell erledigt! Um den Prozess zu beginnen, muss man lediglich einen formlosen „Pflegeantrag“ stellen. Das geht bei den meisten Krankenkassen auf der Homepage. Du kannst auch anrufen oder dich per Post melden.

Nachdem der Pflegeantrag gestellt ist, muss die Pflegeversicherung dir ein Formular zukommen lassen, mit dem du die Leistungen beantragen kannst. Darauf folgt ein Besuch bei deinen Eltern zu Hause, wo ihre Pflegesituation begutachtet und eingeschätzt wird. Aus dieser „Erstbegutachtung“ geht die Einteilung in einen Pflegegrad hervor.

2. Sei bei der Erstbegutachtung für den Pflegegrad unbedingt dabei

Stell dir vor, jemand kommt zu dir nach Hause und schaut dir dabei zu, wie du auf die Toilette gehst. Danach blättert diese Person durch deine Unterlagen und stellt dir persönliche Fragen dazu. Können Sie sich noch alleine anziehen? Wie machen Sie das mit dem Essen? Und wie oft sehen Sie Freunde und Bekannte?

Die Gutachter:innen des Medizinischen Dienstes (bei Privatversicherten: der Medicproof GmbH) vergeben während der Begutachtung Punkte, um den „Grad der Pflegebedürftigkeit“ festzulegen. Es liegt nahe, dass man sich aus Stolz oder Scham hier gut und kompetent darstellen möchte. Das Problem ist: Je „besser“ oder „selbstständiger“ man erscheint, umso weniger Leistungen bekommt man von der Pflegekasse. Pflegende oder Betreuer:innen der Pflegebedürftigen haben oft einen ganz anderen Blick auf die Situation vor Ort. Darum sollte am besten immer noch jemand Drittes bei der Begutachtung dabei sein.

3. Pflegegrade sind wichtig für alles – und können sich ändern!

Die Pflegegrade geben an, wie viel Unterstützung einem Pflegebedürftigen zukommt. Es gibt insgesamt fünf Pflegegrade, die den Grad der Selbstständigkeit definieren: Der erste Grad gibt eine „geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“ an, der fünfte die „schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung“.

Je höher der Pflegegrad, desto mehr Leistungen bekommt ihr von der Pflegekasse. Der Pflegegrad ist auch wichtig für andere Versicherungen, wie private Pflegeversicherungen oder zum Beispiel bei der Heimunterbringung.

Einen guten Eindruck, welche Leistungen einem selbst oder Pflegebedürftigen zustehen könnten (und vielleicht auch jetzt schon zustehen können), geben „Pflegegradrechner“ im Internet. Wichtig zu wissen: Pflegegrade bestehen nicht für das ganze Leben. Verändert sich der Gesundheitszustand deiner Eltern, kann der Medizinische Dienst sie neu einstufen. Damit werden die Pflegegrade zum ständigen Begleiter und Thema bei der Pflege, gewöhne dich dran.

4. Hab sobald wie möglich alle Vollmachten und Unterlagen zusammen

Die Pflege von Eltern oder anderen Angehörigen ist – Überraschung – eine bürokratische Herausforderung. Deshalb hilft es, schon früh anzufangen, die rechtliche Grundlage für einen reibungslosen Übergang zu schaffen. Vollmachten sind ein wichtiges Werkzeug, wenn es jemandem schlecht geht.

Eine Generalvollmacht ist die umfassendste Form. Sie gilt ab Ausstellung und befähigt jemanden, Rechtsgeschäfte im Namen anderer zu erledigen. Die Rechte sind umfassend und gelten auch über den Tod hinaus, man sollte also viel Vertrauen zu der bevollmächtigten Person haben. Die etwas weniger extreme Form ist die Vorsorgevollmacht. Du und deine Eltern können sie früh abschließen, sie wird aber erst gültig, wenn Pflegebedürftige psychisch oder physisch nicht mehr in der Lage sind, selbst zu handeln. Außerdem erlischt sie mit dem Tod des Ausstellers.

5. Du kannst dich für die Pflege von deiner Arbeit freistellen lassen

Wer sich plötzlich und unerwartet um einen Angehörigen kümmern muss, der pflegebedürftig wird, kann sich davon vom Job freistellen lassen. Bis zu zehn Tage gibt es im Jahr für diese „kurzzeitige Arbeitsverhinderung“. Für den dadurch entstehenden Lohnausfall kannst du etwa Pflegeunterstützungsgeld bei der Pflegekasse beantragen.

Das kann jede:r, unabhängig von der Größe des Unternehmens, in dem er oder sie arbeitet. Zehn Tage sind im akuten Fall natürlich sehr wenig Zeit.

Ich empfehle dir, schnell mit deinem Arbeitgeber zu sprechen, um eine Regelung zu finden. Denn ziemlich sicher wirst du noch häufiger auf Arbeit fehlen. Eine Möglichkeit dafür: die „Pflegezeit“ (bis zu sechs Monate) oder die „Familienpflegezeit“ für bis zu zwei Jahre teilweiser Freistellung.

6. Du musst nicht alles selbst bezahlen

Die Pflege zu Hause kostet viel Geld, bis zu 2.500 Euro können im Monat anfallen. Die Pflegeversicherung übernimmt viele Kosten und rechnet sie auch direkt ab. Wie viel die Pflegekasse zahlt, bestimmt der Pflegegrad.

Es gibt zum Beispiel Pflegesachleistungen und das Pflegegeld. Bei Pflegegrad 5, der höchsten Stufe, sind das theoretisch über 3.000 Euro im Monat. Aber die Leistungen bedingen sich gegenseitig und werden nicht einfach ausbezahlt. Aber wer zum Beispiel nicht alle Pflegesachleistungen ausschöpft, kann sich den verbliebenen Anspruch als Pflegegeld auszahlen lassen. Hier gibt es eine Übersicht dazu.

7. Du musst wahrscheinlich keinen Elternunterhalt zahlen

Oft übersteigen die Kosten für die Pflege der Eltern deren finanzielle Möglichkeiten. Für die Lücke, die nach Ausschöpfung aller Leistungen, der verfügbaren Rente oder Einkommen der Eltern entsteht, gibt es den Elternunterhalt.

Ob du zur Zahlung von Elternunterhalt verpflichtet bist, klärt das Sozialamt und bittet dich als Kind von Pflegebedürftigen um Informationen über dein Einkommen und Vermögen.

Seit 2020 gibt es das Angehörigen-Entlastungsgesetz. Das Gesetz regelt, dass du als direkter Nachkomme erst ab einem eigenen Brutto-Jahreseinkommen von mehr als 100.000 Euro zur Zahlung von Elternunterhalt verpflichtet bist. Wenn du weniger verdienst, trägt das Sozialamt die Kosten. Bei höherem Einkommen musst du ran. Es gibt auch Schonvermögen und Ausnahmen, hier gibt es Infos.

8. Hole dir Hilfe in deinem Umfeld

Es ist sinnvoll, die anfallenden Aufgaben auf mehrere Menschen aufzuteilen, um genug Freizeit zu schaffen (und nicht durchzudrehen) – vor allem, wenn die Pflege länger anhält.

Das ist in der Organisation erstmal vielleicht aufwändiger, aber es macht den eigenen Kopf frei. Einkaufen? Regelt die Schwester. Blumen gießen? Macht der Nachbar einmal in der Woche. Den Arzttermin nächste Woche? Kann ich selbst übernehmen. Es ist keine Schande, von Anfang an Grenzen zu setzen und Aufgaben abzugeben.

Es gibt auch Pflegebedürftige, die kein großes soziales Umfeld haben. Das macht die Situation komplizierter, aber nicht unlösbar: Es gibt zum Beispiel die Grünen Damen und Herren von der Evangelischen Kranken- und Alten-Hilfe oder den Besuchsdienst vom DRK, die kleinere Aufgaben übernehmen können.

9. Du musst dich um alles selbst kümmern

Niemand wird dir die Organisation der Pflege komplett abnehmen. Selbst, wenn du genug Geld hast, um zum Beispiel einen guten Heimplatz in der Nähe zu organisieren, gibt es immer etwas zu tun, abzustimmen oder eine Rechnung zu bezahlen. Es gibt Beratung und Unterstützung, aber die Fäden müssen bei irgendwem zusammenlaufen. Und das bist – wenn du diesen Text liest – vermutlich du.

10. Es gibt keine zentrale Anlaufstelle, aber sehr gute dezentrale

Die gute Nachricht ist, dass es viele Anlaufstellen und Beratungsmöglichkeiten gibt, wenn Hilfe in der Pflege benötigt wird. Es gibt aber nicht die eine zentrale Stelle.

Das heißt, vor allem am Anfang oder bei Änderungen der Pflegebedürftigkeit kann es zu einem regelrechten Abklappern der verschiedenen Ämter, Versicherungen oder ärztlichen Praxen kommen. Eine wichtige Anlaufstelle sind aber die Pflegestützpunkte. Das sind unabhängige Beratungsstellen, die bei der Koordination von Pflege umfassend helfen sollen. Die Stützpunkte bieten ihre nicht nur in größeren Städten an, sondern sehr häufig auch in ländlichen Gebieten. In Sachsen-Anhalt und Sachsen gibt es die Vernetzte Pflegeberatung.

11. Es gibt viele Infos und Kurse zur Pflege zu Hause

Neben den Pflegestützpunkten informiert beispielsweise auch das Gesundheitsministeriums auf der Seite gesund.bund.de. Sie liefert dir Infos über ambulante Pflegedienste, die täglich vorbeikommen und dabei helfen, Medikamente einzunehmen oder auch bei der Körperpflege.

Du kannst auch einen Pflegekurs für Angehörige absolvieren. Die Pflegekassen sind dazu verpflichtet, die Kosten für diese Kurse zu übernehmen. Dort lernt man das Wichtigste zur praktischen Pflege zu Hause; auch online. Und du kannst einen Kurs machen, für die letzten Stunden der Pflege. Das sind besondere Momente, für die du vielleicht besondere Vorbereitung brauchst.

12. Es gibt keine „24-Stunden-Pflege“

Auch wenn viele Seiten im Internet etwas anderes behaupten: Es ist in Deutschland nicht erlaubt, ohne Pausen und ohne Arbeitsende zu arbeiten – auch nicht für Fachkräfte aus dem Ausland. Das heißt, wer einfach jemanden gegen (schwarze) Bezahlung zu Hause einziehen lässt, der sich um die Pflege der Eltern kümmert, handelt illegal. Auch Fachkräfte aus dem Ausland müssen versichert werden und angestellt sein.

Trotzdem gibt es viele Pflegekräfte, vor allem aus Polen, die sich in Deutschland um die Pflegebedürftigen kümmern. Wer überlegt, tatsächlich jemanden mit der Pflege zu Hause beauftragen zu wollen, kann selbst Arbeitgeber werden und die Pflegekraft richtig anstellen. Die Caritas hat eine Handreichung erstellt mit Hinweisen zu Bezahlung und den rechtlichen Rahmenbedingungen dieser „Live-in-Care“. Sicher ist: Die Kosten übersteigen die Leistungen aus der Pflegekasse und du musst selbst Geld dazugeben.

13. Pflegeheime sind eine Alternative, aber es gibt nicht genug freie Plätze

Es gibt zu wenig freie Heimplätze. Die Situation in der Pflege ist bekannt. Der Bedarf an Plätzen steigt außerdem schneller als das Angebot, die Lage wird zukünftig also noch schlechter. Die Krankenkasse oder der Pflegestützpunkt informieren zu den Einrichtungen in der Nähe.

Wenn man Glück hat und es ein geeignetes Heim in der Nähe gibt, muss man trotzdem oft mehrere Monate warten, bis ein Platz frei wird. Diese Zeit musst du zu Hause (oder auch in der Kurzzeitpflege) überbrücken.

Und wenn es so weit ist, heißt es sofort umziehen, um den Platz in Anspruch nehmen zu können. Je nach Pflegegrad übernimmt die Pflegekasse die Kosten für den Heimplatz anteilig, seit diesem Jahr gibt es auch einen Zuschlag für vollstationäre Pflege, der sich an der Pflegedauer orientiert und mit der Zeit steigt. Aber die Pflegekasse übernimmt nicht alle Kosten. In den meisten Fällen muss der oder die Pflegebedürftige selbst zahlen.

14. Deine Eltern werden es hassen

Niemand gibt gerne seine Selbstständigkeit auf. Pflege bedeutet aber genau das: von anderen versorgt werden, weil man es nicht mehr alleine schafft. Für viele Eltern ist es deshalb oft auch eine unangenehme Situation, die eigenen Kinder oder Pflegekräfte bitten zu müssen, beim Toilettengang zu helfen oder alles immer hinter einem herzuräumen. Das gehört aber dazu. Auch wenn die Pflegesituation für niemanden ideal ist, gibt es bessere und schlechtere Phasen. Trotzdem haben du und deine Eltern, auch bei guter Vorbereitung, unterschiedliche Vorstellungen und ihr könntet euch streiten. Das Pflegetelefon kann helfen, Konflikte zu lösen.

15. Bleib ruhig, es ist nicht alles planbar

Du kannst nicht alles regeln und planen. Wer in eine neue, unübersichtliche Situation kommt, sehnt sich oft nach Ordnung. Die Pflege von Eltern ist so eine Situation. Was muss ich als Erstes tun, wie gehts jetzt weiter? Ein Tipp aus unserer Community: Entspanne dich, es ist eh nicht alles planbar. Die Pflegesituation verändert sich immer wieder. Auch gesundheitlich, finanziell oder zeitlich ändert sich die Lage immer wieder. Oft erscheinen diese neuen Situationen auch erstmal schlimmer, als sie tatsächlich sind. Es ist leichter gesagt als getan, aber versuche, ruhig und flexibel zu bleiben.

16. Du bist nicht allein

Wenn man andere pflegt, gibt es sehr einsame Momente. Vor allem zu Beginn, am Abend, wenn meine Mutter im Bett lag, hatte ich früher oft ein großes und schweres Gefühl von Einsamkeit. Das ganze Leben on hold. Wie lange geht das noch so? Keine Chance, einfach spazieren oder ins Kino zu gehen. Ich saß damals sehr oft alleine auf dem Balkon, habe viel Wein getrunken und noch viel mehr geraucht. Das hat natürlich nicht wirklich gegen die Einsamkeit geholfen, die man in der Pflege häufig spürt. Was mehr hilft: mit anderen darüber sprechen, denen es ähnlich geht. Es gibt Selbsthilfegruppen für Menschen, die Angehörige pflegen. Zum Beispiel über den Verein Wir pflegen e.V. oder über die Kontakt- und Informationsstellen zur Selbsthilfe in jeder größeren Stadt.

Wir möchten mit der Pflegeserie ebenfalls einen Ort zum Austausch schaffen. Erzähle uns gerne von deinen Erfahrungen oder schick uns Feedback. Hier kannst du dich für den Newsletter eintragen:

17. Pflege kann auch heilen

Bei aller Einsamkeit, allem Stress und Ärger hat die Pflege von Eltern auch schöne Momente. Auf einmal verbringt man wieder sehr viel Zeit mit oder bei den Eltern. Das kann auch alte Konflikte und Probleme lösen. Auch wenn man eigentlich kein gutes Verhältnis hat oder weit weg wohnt und viele Umstände auf sich nimmt, um für die Eltern da zu sein, gibt es sehr friedliche Momente. Das schrieb auch Sandra aus der KR-Community, sie hätte gerne früher gewusst, „dass, Menschen beim Sterben zu begleiten, irgendwie etwas Heilsames hat.“

Bei mir und meiner Mutter waren das die Umarmungen, wenn ich wieder für eine Weile weg nach Hamburg gegangen bin. Bevor sie krank wurde, waren wir nie besonders körperlich miteinander, eher distanziert. Nun haben wir uns immer umarmt, bevor ich wieder losmusste. Ich weiß heute noch, wie wir uns immer fest umarmten, gerade so fest, wie es ihr kranker Körper zugelassen hatte. Dann bin ich immer schnell raus, zum Bahnhof, nach Hamburg, zurück in die Werbeagentur.


Dieser Text ist mit der Krautreporter-Community entstanden. Vielen Dank für alle Tipps und Infos!

Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos