Meine Freundin griff nach ihrer Handtasche und sagte: „Ich gehe dann mal nach Hause, tschüss!“ Wir hatten ein entspanntes Wochenende miteinander verbracht und vereinbart, dass sie nach dem Frühstück geht. Eigentlich alles tutti. Nicht für mich. Tränen kullerten meine Wangen hinunter. Ich hatte das Gefühl, sie hätte mir erst einen gezackten Dolch in die Rippen gerammt und mir dann ein sanftes Küsschen auf die Wangen gehaucht.
Satte zwei Stunden heulte ich, komplett aufgelöst, kaum zu beruhigen. Ich zog die Beine in Embryostellung auf dem Bett zusammen, während eine unaufhaltsame Trauerwelle meine Lebensfreude von innen ertränkte. Meine Freundin konnte diesen psychischen Totalausfall nicht nachvollziehen. Wie auch?
Als ich vor drei Wochen auf Twitter gefragt habe, was für Depressive völlig normal, aber für Nichtbetroffene kaum denkbar ist, erhielt ich prompt über 500 Antworten. Dazu gesellten sich nochmal über 700 Menschen, die an meiner Krautreporter-Umfrage teilnahmen. Beim Lesen stellte ich fest: Die Geschichten waren unterschiedlich, aber das Gefühl der Isolation war das gleiche. Viele Menschen wissen, dass sie sich in einer depressiven Episode ungewöhnlich verhalten, können dies aber nicht ändern. Sie sehnen sich danach, in ihrer Erkrankung gesehen und verstanden zu werden.
Menschen mit Depressionen erleben immer wieder Momente, die für Außenstehende, Angehörige und sogar beste Freund:innen nur schwer nachzuempfinden sind. Deshalb schreibe ich diesen Text. Er soll eine Brücke sein. Zwischen Betroffenen und ihrem Umfeld, den Depressiven und ihren Freund:innen, kranken Angestellten und ihren Vorgesetzten.
Deshalb können sich Menschen ohne Depressionen die Schwere der Erkrankung nicht vorstellen
Ich selbst habe wiederholt auftretende Depressionen und kann mich daher sehr gut mit Betroffenen identifizieren. Um die Dynamik zwischen Angehörigen und Depressiven besser zu verstehen, habe ich mit der Psychotherapeutin Anke Glaßmeyer gesprochen. Sie klärt auf Instagram täglich über psychische Erkrankungen auf. Glaßmeyer sagt: „Wer nie am eigenen Körper erfahren hat, wie das ist, morgens wach zu werden und eigentlich keine Kraft zu haben aufzustehen, die Zähne zu putzen oder zur Arbeit zu gehen, kann sich eine Depression nur schwer vorstellen.“
Anke Glaßmeyer, Psychotherapeutin Foto: LA Management Holding OHG
Depressionen können bei jedem Menschen unterschiedlich aussehen. Manchmal sind sie auf den ersten Blick nicht erkennbar. Selbst Glaßmeyer kennt diesen Moment, wenn ein Patient in ihre Praxis kommt, und sie nicht sofort sagen kann, ob er depressiv ist oder nicht: „Schließlich hat niemand DEPRESSION auf die Stirn tätowiert“, sagt sie.
Erschwerend kommt hinzu, dass nicht alle depressiven Menschen den lieben langen Tag zu Hause im Bett liegen und an die Wand starren. Bei einer sogenannten hochfunktionalen Depression zum Beispiel funktionieren Menschen im Alltag, doch wenn sie daheim ankommen, geht wortwörtlich nichts mehr.
Es ist nicht einfach, eine Depression von außen zu erkennen. Und von innen, für die Betroffenen? Erst recht nicht. „Ich glaube, dass Menschen mit Depressionen oft nicht offen über ihre Erkrankung sprechen, weil sie Angst vor Stigmatisierung haben“, sagt Glaßmeyer. Betroffene haben Angst vor Sätzen wie: „Lach doch einfach mal“ oder: „Fahr mal wieder in der Urlaub.“ Dann lächelst du, drückst ein „Alles gut!“ heraus, obwohl du kein bisschen Freude empfindest.
Glaßmeyer sagt: „Betroffenen fehlen oft neben der Energie auch die passenden Worte, um ihre Erfahrung zu beschreiben.“ Das geht mit der Befürchtung einher, andere mit den eigenen Problemen zu belasten. Das ist ein Irrglaube, aber es führt dazu, dass Angehörige oft kein realistisches Bild der Erkrankung bekommen. Ich habe deshalb meine Community nach konkreten Beispielen gefragt, die für viele Nicht-Depressive unvorstellbar sind.
Für viele Nicht-Depressive undenkbar: lähmende Antriebslosigkeit
Man liegt stundenlang durstig im Bett, weil man keine drei Schritte laufen kann, um die Wasserflasche zu holen.
Das schrieb Jana in meiner Umfrage. Wer noch nie eine Depression hatte, denkt vielleicht: „Na dann steh doch einfach auf!“ Dabei wissen die meisten nicht, dass das Symptom der Energielosigkeit kein gefühltes, sondern auch ein körperliches ist. Menschen mit Depressionen können dann nicht aufstehen und es kostet eine unfassbare Überwindung, die mit dem gelegentlichen Mittagstief einer nicht-depressiven Person nicht zu vergleichen ist.
In meiner Akutphase ist es nicht möglich, bei schönem Wetter rauszukommen und spazieren zu gehen. – Andrea
Warum ist diese Trägheit für Nicht-Depressive undenkbar? Psychotherapeutin Glaßmeyer dreht den Spieß um: „Menschen, die sich das nicht vorstellen können, sollten mal an ihre Steuererklärung denken.“ Oder daran, wie hart es ist, mit dem Rauchen aufzuhören, sich gesünder zu ernähren, endlich wieder Sport zu machen. Wir alle kennen Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie tun sollten – und schaffen es trotzdem nicht. Bei Menschen mit Depressionen unterscheiden sich diese Aufgaben nur im Umfang.
Für viele Nicht-Depressive undenkbar: zermürbende Leere
Völlige Leere im Kopf; nichts fühlen; sich wie erstarrt fühlen. – Ina
Diese Leere kenne ich von meinen schlimmsten Phasen. Ich könnte meine Lieblingsband hören, es wäre mir schnurzegal. „Manche Patient:innen sagen mir, sie würden mal gerne wieder weinen. Diese Gleichgültigkeit, das Monotone belastet viele“, sagt Glaßmeyer. Einige Betroffene ängstigt, dass es so bleiben wird.
Wie können sich Nichtbetroffene das vorstellen? Glaßmeyer hat eine Idee: „Wenn eine Person am anderen Ende der Welt stirbt, ist das tragisch, aber dann macht das auch nicht unbedingt etwas mit dir, außer du kanntest die Person.“ Diese Distanz zu Ereignissen spüren manche Menschen mit Depressionen permanent, auch wenn die Ereignisse räumlich sehr nah sind, wie ein eigentlich meisterhaftes Klavierkonzert. Schmerzend ist in solchen Momenten das eigentlich. Betroffene wissen, dass sie ohne Erkrankung begeistert zuhören könnten.
Absolute Leere. Ich kannte das vor der Diagnose nicht und ich kann es bis heute nicht beschreiben. Dieses Gefühl des Nichts-Fühlens, als ob nichts Sinn hat und alles bedeutungslos ist. - Lisa
An diesem Beispiel sehen wir, dass Menschen mit Depressionen oft wissen, dass die Symptome ihrer Erkrankung für Nichtbetroffene kaum zu fassen sind. Dieses Wissen sorgt nicht selten für Schuldgefühle und den Eindruck, verrückt zu sein, nicht mehr „dazuzugehören“. Das verstärkt oft das Gefühl der Isolation, das in die Suizidalität treiben kann.
Für viele Nicht-Depressive undenkbar: Todessehnsucht
Nur einen Grund haben, weiterzuleben. Bei mir war es mein Kind. Ich wollte nicht, dass sie ohne Mutter aufwächst. – @NurseFanny
Wahrscheinlich kennst du das Spiel mit dem Gedanken: Was wäre, wenn ich nicht mehr leben würde? Bei Erkrankten ist diese Überlegung ein Symptom der Depression – und voller Ernst. „Es fühlt sich an, als sei der Tod die einzige Erlösung“, sagt Glaßmeyer, die vor einigen Jahren selbst betroffen war. Dieses elendige Dahinsiechen sorgt bei Betroffenen dafür, dass sie die Hoffnung verlieren, jemals wieder Glück empfinden zu können.
Wenn man Auto fährt und sich vorstellt, wie man jetzt in einen Unfall gerät. – Dani
Glaßmeyer sagt: „Empathische Menschen sollten in der Lage sein zu verstehen, dass der Wunsch nach einem Leidensende nicht unbedingt rational ist, sondern aus einem tiefen Leidensdruck resultiert.“ Betroffene wollen in der Regel nicht sterben, sondern von innerem Schmerz erlöst werden.
Nichtbetroffenen hilft vielleicht die Vorstellung, eine körperliche Krankheit zu bekommen, bei der man weiß, dass man ab einem Zeitpunkt dement und komplett von der Hilfe anderer abhängig sein wird. Dann ist der Gedanke, den viele Depressive kennen, nicht mehr weit weg: Da beende ich es lieber selbst, kurz und schmerzlos als lang und qualvoll.
Für viele Nicht-Depressive undenkbar: Kontaktabbruch
Keine Kraft zu haben, auf Nachrichten zu antworten, obwohl man es sich vorgenommen hat und einem die Personen auch wichtig sind. – @temberaubend auf Twitter
Das Keine-Kraft-Haben gilt auch für das Halten sozialer Kontakte. Jedes Gespräch ist anstrengend, eine Whatsapp-Nachricht, die auf Antwort wartet, stellt ein Hindernis dar, kaum zu überwinden. Für das Umfeld kann es irritierend sein, wenn die betreffende Person sich immer stärker zurückzieht. Hier kommt es häufig zu Missverständnissen, weil der Eindruck entsteht, dass der Erkrankte sich abwendet, nichts mehr mit einem zu tun haben will. „Das ist jedoch selten der Fall“, sagt Glaßmeyer.
Du hast die Nachricht registriert, aber schaffst es einfach nicht, zurückzuschreiben. Die Tage schwimmen ineinander und dein Zeitgefühl ist völlig im Eimer, sodass es gut auch mal einige Monate her sein kann, dass du dich bei deinen Liebsten gemeldet hast. – Lena
Glaßmeyer sagt: „Es ist kein guter Rat, jemandem zu sagen: ‚Melde dich, sobald du mich brauchst.‘ Das wird nicht passieren.“ Wenn Angehörige dann denken: „Er wird schon schreiben, wenn was ist“, entsteht eine Abwärtsspirale, die den Betroffenen abschottet und die bis zum vollständigen Kontaktabbruch führen kann. Angehörige könnten fälschlicherweise annehmen, dass, keine Nachrichten zu erhalten, ein gutes Zeichen ist, was nicht der Fall sein muss.
Angehörige müssen nicht alles mitfühlen können
Menschen, die noch nie depressiv waren und deshalb Symptome kaum nachvollziehen können, sind für Betroffene ein Ärgernis, bestimmt. Dennoch ist es normal, nicht jedes Leid dieser Welt wie das eigene zu empfinden. Psychotherapeutin Glaßmeyer sagt: „Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie es wirklich ist, gerade im Gazastreifen zu sein, mitten in diesem Krieg.“
Glaßmeyer sieht darin allerdings keine Charakterschwäche. „Für mich ist das ein Schutz, sonst würde ich am Weltschmerz verzweifeln“. Das gilt auch für Angehörige von Depressiven, für die es wichtig sein kann, sich auf gesunde Weise von der Erkrankung abzugrenzen und nicht jedes Symptom mitzufühlen. Das müssen sie auch gar nicht. Trotzdem kann es helfen, sich mit der Krankheit und dem Betroffenen selbst auseinanderzusetzen.
Drei sofort umsetzbare Strategien für Angehörige
1. Umfassend informieren: Angehörige können ihr Verständnis für Depressionen mit Hilfe von Fachliteratur vertiefen. Dafür bieten sich auch die Profile von Psychotherapeut:innen wie Anke Glaßmeyer an und Organisationen in sozialen Medien. Hier sind drei weitere, denen du sofort auf Instagram folgen kannst:
2. Aktives Zuhören und Nachfragen: Angehörige, die aufmerksam zuhören, wenn Betroffene über ihre Gefühle sprechen, lernen schneller, die Symptomatik zu verstehen. Dazu können sie durch gezielte Fragen ein feines Gespür für die individuellen Ausprägungen der Depression entwickeln. Drei Fragen, die du stellen kannst:
- Magst du mir beschreiben, wie sich dein Körper gerade anfühlt?
- Was passiert in deinem Kopf, wenn du depressiv bist?
- Was spürst du, wenn du es nicht schaffst, aufzustehen?
3. Das Gespräch mit Psychotherapeut:innen oder Ärzt:innen suchen, falls die betroffene Person in Behandlung ist: Kliniken, psychiatrische Institutsambulanzen und Psychotherapeut:innen bieten Gespräche für Angehörige an, wo Fragen geklärt werden können, um Betroffene besser zu verstehen. Dazu gehören auch Paargespräche. Selbsthilfegruppen können Angehörigen dabei helfen, mit der Erkrankung des Betroffenen, aber auch mit der eigenen Belastung zurechtzukommen.
Drei Vorschläge für Betroffene
Angehörige sind auch auf die Hilfe der Erkrankten angewiesen, weil die am besten sagen können, wie sie sich fühlen. Die Symptome variieren schließlich von Mensch zu Mensch.
1. Offen kommunizieren: Menschen mit Depressionen können versuchen, ihre Erfahrungen klar zu benennen, auch wenn es schwerfällt. Die Verwendung bildlicher Sprache kann helfen. Ein paar Beispiele:
- Ich fühle mich wie in einem dunklen Loch.
- Eine schwere Last liegt auf meinen Schultern.
- Es ist, als würden mich zehntausend Steine nach unten drücken.
2. Konkrete Beispiele geben: Es kann hilfreich sein, spezifische Situationen zu schildern, in denen die Depression besonders spürbar wird.
- Ich schaffe es beim besten Willen nicht aufzustehen.
- Ein Telefonat ist mir heute zu viel.
- Wenn ich mein Lieblingslied höre, spüre ich gar nichts.
3. Gefühle und Zustände verschriftlichen: Wenn das direkte Gespräch schwerfällt, können Betroffene versuchen, ihre Gedanken und Gefühle aufzuschreiben, sei es in einem Brief oder einer Whatsapp-Nachricht. Dabei hilft eine Skala von 1 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut), um die Schwere der Symptome zu verdeutlichen.
Wer immer wieder depressive Phasen hat, kann die Zeit zwischen den Episoden nutzen. In dieser Zeit kann es einem leichter fallen, die richtigen Worte zu finden und mit Angehörigen über die eigenen Symptome zu sprechen. Dazu gehören auch Frühwarnsignale. Das sind erste Beschwerden, die eine neue Depression ankündigen können.
Anlaufstellen für den Notfall:
Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen und Hausärzt:innen. Im Zweifel empfehle ich, den Notdienst (in Deutschland die 112) anzurufen. Wenn man selbst betroffen ist, gibt es die Telefonseelsorge unter den Nummer 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222. Der Anruf ist kostenlos und erscheint nicht auf der Telefonrechnung. Für Kinder und Jugendliche gibt es es die Youth-Life-Line und Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr die Nummer gegen Kummer: 0800 1110333 und die 116111.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert