Ein Knacken. Mein Herz schlägt schneller. Ein Poltern. Ich öffne die Augen. Die Nacht ist vorbei – und die Zeit der Ruhe. Beginnt der Tag, beginnen die Geräusche und mein Kampf mit ihnen. Fahren Kinder schreiend mit ihrem Bobbycar auf der Straße, knalle ich wütend die Fenster zu, um den Lärm draußen zu halten. Sitze ich auf dem Sofa und schiebt meine Nachbarin über mir den Stuhl zur Seite, werfe ich einen genervten Blick zur Decke.
Kommen mich Freund:innen besuchen und sagen: „Hier ist es ja ruhig“, würde ich am liebsten schreien: „Nicht für mich!“ Ich fühle mich hilflos und ausgeliefert, weil ich Geräuschen nicht entfliehen kann. Laut dem Umweltbundesamt sind tagsüber allein rund 20 Millionen Menschen in Deutschland gesundheitsschädlichem Verkehrslärm von mehr als 55 Dezibel ausgesetzt. Während andere das teils überhören, störe ich mich schon am kleinsten Geräusch. Mehr noch: Geräusche stressen mich. War ich auf einem Konzert oder nur in einem vollen Café, dröhnen mir nicht nur die Ohren. Ich fühle mich so, als hätte ich die Nacht durchgemacht und ein Bier zu viel getrunken.
Das soll so nicht bleiben. Ich will weniger genervt, weniger gestresst, weniger angespannt sein – nur weil es irgendwo lärmt. Also rede ich mit einer Psychologin, mit der Community und mit einem Hörakustiker und lerne, wie ich besser mit Geräuschen lebe. Und erst will ich wissen: Ist meine Geräuschempfindlichkeit noch normal?
Ich frage Anne Möllmann. Sie ist Psychologin und Psychotherapeutin und forscht an der Universität Bielefeld zu Geräuschempfindlichkeit, mit Schwerpunkt auf Misophonie. Eine Form der Geräuschempfindlichkeit, bei der sich Menschen besonders an Atem, Schmatz- und Schluck-Geräuschen stören oder sogar ekeln. Etwa fünf Prozent der Deutschen sind von Misophonie betroffen – ich gehöre nicht dazu. Es sei schwer, eine Geräuschempfindlichkeit als „normal“ oder „nicht normal“ zu bezeichnen, sagt Möllmann. „Von einer Krankheit oder psychischen Störung sprechen wir, wenn die Person sehr leidet und in ihrem Alltag eingeschränkt ist.“ Betroffene reagieren mit starkem Stress, der sich negativ auf das Herz-Kreislauf-System und die Psyche auswirken kann, bis hin zu Bluthochdruck und Depressionen. Viele isolieren sich sozial.
Viele denken, dass sie geräuschempfindlicher geworden sind
Auch bei mir lösen Umgebungsgeräusche puren Stress aus. Mein Nacken wird hart, mein Kiefer verspannt sich, mein Magen verkrampft sich. Bin ich unangenehmen Geräuschen länger ausgesetzt, spüre ich, wie sich hinter einer Schläfe pochend eine Migräne anschleicht oder mir der Appetit vergeht.
Die Krautreporter-Community nennt in einer Umfrage neben Gereiztheit und Wut ebenfalls Stress und Kopfschmerzen, An- und Verspannung als Reaktionen auf unangenehme Geräusche. So schreibt KR-Leserin Sybille: „Ich verkrampfe mich, insbesondere im Bauch-, Brust- und Schulterbereich. Mein Magen zieht sich zusammen, die Atmung fällt schwer, die Schultern scheinen zu versuchen, sich krampfhaft schützend um mich zu legen.“ KR-Leserin Eva sagt: „Von manchen Geräuschen wird mir so schlecht, dass ich glaube, mich übergeben zu müssen.“ Fast 80 Prozent der rund 400 Teilnehmer:innen schätzen ihre Geräuschempfindlichkeit auf einer Skala von 1 bis 10 mit 7 oder höher ein. Knapp die Hälfte glaubt, dass ihre Empfindlichkeit in letzter Zeit zugenommen hat. Am häufigsten fühlt sich die Community von Nachbarn, Baustellen- und Straßenlärm gestört. Diese Daten decken sich mit Umfragen der Deutschen Gesellschaft für Akustik und des Umweltbundesamtes.
Will man begreifen, was hinter Geräuschempfindlichkeit steckt, muss man Lärm verstehen. Das Bundesumweltministerium definiert Lärm als „jedes unerwünschte laute Geräusch.“ Was Lärm konkret ist, entscheidet jede:r für sich selbst. „Ob jemand etwas als angenehm oder störend laut empfindet, ist sehr subjektiv“, sagt Marianne Frick, die bis 2023 Präsidentin der Bundesinnung der Hörakustiker war. Ein Geräusch könne auch als unangenehm wahrgenommen werden, wenn es nicht laut sei. Zum Beispiel quietschende Türen, Sirenen oder Schmatzen. Für das Ohr schädlich sind dauerhafte Geräusche ab 85 Dezibel, das entspricht einem Rasenmäher. Es gibt Menschen, die durchgängige Geräusche wie ein Gebläse oder das Rauschen einer Autobahn als weniger störend empfinden als ein abruptes Geräusch wie ein Hupen. Lärm ist also nicht gleich Geräusch. Aber Geräusche können sich wie Lärm anfühlen.
In den zwölf Jahren, die ich in einer Großstadt lebe, habe ich keine Nacht ohne Ohrstöpsel geschlafen. Wenn ich abends ins Bett gehe, schiebe ich den bunten Schaumstoff tief in mein Ohr. Mich beruhigt dieses wohlig dumpfe Gefühl, das sich einstellt, sobald mir der Schaumstoff die Welt leiser dreht. Ohrstöpsel haben mich überall hinbegleitet: Nach Kanada, wo meine neun Mitbewohner:innen bis nach Mitternacht Bier-Pong spielten. Nach Leipzig, wo unter meinem WG-Zimmer im 10-Minuten-Takt die Straßenbahn lang ratterte. Nach Birmingham, wo ich die Serie „Sons of Anarchy“ meiner Nachbarin mithören konnte. Sitzen Ohrstöpsel gut, können sie Geräusche bis zu 35 Dezibel dämmen.
Lärm sollte man sich nicht komplett entziehen
Tagsüber trage ich so viele Stunden Noise-Cancelling-Kopfhörer, dass mein Freund scherzt, mich ohne diese nicht mehr erkennen zu können. Manchmal habe ich Angst, sie herauszunehmen, aus Sorge, welche Geräusche mich erwarten. Sobald ich die kleinen blauen Stöpsel in mein Ohr setze, beruhigt sich mein Herzschlag. Beim Lesen oder Meditieren höre ich Meeresrauschen, zum Arbeiten White Noise. Möchte ich am Wochenende auf der Couch entspannen, hilft mir Taylor Swift’s „Folklore“. Die Krautreporter-Community wählen ähnliche Tricks: Viele tragen regelmäßig Noise-Cancelling-Kopfhörer oder Ohrstöpsel, hören Musik oder entziehen sich der Situation.
Bei hohem Leidensdruck wäre es wichtig, sich mit diesen Hilfsmitteln abzuschotten, sagt Anne Möllmann. „Es kann aber passieren, dass die Schwelle, Geräusche trotz Ohropax oder Kopfhörer zu hören, sinkt, und die Hilfsmittel ihre Wirkung verlieren.“ Das Gehör werde noch geräuschempfindlicher.
Ich bin in einem 3.000-Seelen-Dorf aufgewachsen, in einem freistehenden Haus mit Garten und eigenem Zimmer. Bin ich bei meinen Eltern, genieße ich es, meine Kopfhörer in ihrem Case zu lassen. Ich höre Vogelgezwitscher, das nicht von Straßenlärm überdeckt wird. Immer öfter überlege ich, ob ich aus der Stadt rausziehen sollte. Scheitert mein Leben in der Stadt an meiner Geräuschempfindlichkeit? Oder kann ich mein Gehör an Lärm gewöhnen? Wenn man Anne Möllmann glaubt, hat Geräuschempfindlichkeit weniger damit zu tun, wo man aufgewachsen ist. „Es kann sein, dass man schneller von Stadtlärm überfordert ist, wenn man aus einer geräuscharmen Umgebung kommt. Es gibt aber Menschen, die sich daran gut anpassen und andere nicht“, sagt die Psychologin. Sie glaubt auch an genetische und angeborene Komponenten, die dazu führen, dass ein Mensch geräuschempfindlich wird. „Bevor Geräusche auf unser Ohr treffen, sind sie für alle gleich. Aber wie sie danach verarbeitet werden, unterscheidet sich.“ So sind Migräne- und ADHS-Patient:innen, schwerhörige oder hypersensible Menschen häufig von Geräuschempfindlichkeit betroffen.
Je mehr ich über Geräuschempfindlichkeit erfahre, desto erleichterter bin ich. Ich fühle mich weniger allein, weniger „unnormal“. Diese Erkenntnis hilft mir, entspannter mit störenden Geräuschen umzugehen. Zumindest etwas.
Jede:r hat eine individuelle Belastungsgrenze
Als mir mein Freund von seinem Arbeitstag erzählt und ich ein Geräusch höre, kann ich ihm kaum mehr folgen. Sofort will ich wissen, wo der Krach herkommt. Es gibt Momente, da bin ich wütend, weil er sagen kann: „Ja, ich höre das, aber mich stört es nicht.“ Ich sehne mich nach dieser Gelassenheit.
Ich suche Rat bei einem Hörakustiker in Bonn. Von ihm will ich erfahren, ob ich normal auf Geräusche reagiere oder eine Hyperakusis habe. Ob mir Lärm also wehtut. Wer eine Hyperakusis hat, empfindet Motorlärm oder klapperndes Geschirr als zu laut bis schmerzhaft. Bei vielen liegt die Belastungsgrenze für Geräusche unter 80 Dezibel. In Deutschland sind mindestens 500.000 Menschen davon betroffen.
Der Hörakustiker setzt mir Kopfhörer auf und gibt mir einen schwarzen Drücker in die Hand. Ich soll den Knopf drücken, sobald ich einen Ton höre. Für diesen Hörtest sitze ich nicht in einem schallisolierten Raum, sondern dem Hörakustiker am Schreibtisch gegenüber. An der Wand hängt ein DIN-A1-Plakat vom Ohr in all seinen Facetten: Innenohr, Hörmuschel, Trommelfell. Im Hintergrund rattert die Straßenbahn vorbei. Das Fiepen auf meinen Ohren höre ich trotzdem, wenn auch leise. Dann folgt der Stresstest: Ich bekomme hohe Töne auf die Ohren, erst rechts, dann links, die immer lauter werden. Sobald es für mich unangenehm ist, soll ich „Stopp“ sagen. Schon bei dem ersten Ton verziehe ich das Gesicht. Rechts halte ich es etwas länger aus. Das Urteil des Hörakustikers: „Ihr Gehör ist in Ordnung.“ Er zeigt mir meine Dezibel-Kurve. Die normale Belastungsgrenze liegt zwischen 80 und 100 Dezibel. Meine ist bei 75 bis 80 Dezibel. “Damit liegen Sie an der Schwelle zur Hyperakusis.” Der Hörakustiker rät mir zu einem individuellen Gehörschutz.
Man kann lernen, Geräusche auszuhalten
Als seine Kollegin Watte in mein Ohr einführt, schmerzt es kurz. Dann greift sie nach einer Silikonpistole mit blauem Silikon. Ein leichter Schauer läuft mir über den Rücken, als sich das kalte Silikon in meine Ohren schiebt. Bald spüre ich, wie sich die Masse zusammenzieht. Nach zwei Minuten sitzt die Hörakustikerin wieder neben mir. Mit einer Pinzette holt sie die Abdrücke aus den Ohren. Sie sehen aus wie ein verformter Ohropax aus Wachs. „Welche Farbe wollen Sie?“, fragt sie. Ich entscheide mich rechts für Grün und links für Blau. Eine Woche später und 125 Euro leichter, habe ich meinen individuell angepassten Gehörschutz. Ich bin hoffnungsvoll.
Doch mein Ohr stößt den Gehörschutz ab, wie der Körper ein Organ nach einer Transplantation. In der ersten Nacht fühlt er sich fremd an, ich schlafe schlechter, bin früher wach. In der nächsten Nacht greife ich zu meinen Ohrstöpseln aus Schaumstoff und tagsüber setze ich meine Kopfhörer auf. Ich bin enttäuscht.
Einen Tipp hatte der Hörakustiker noch: „Es ist wichtig, sich jeden Tag zumindest ein paar Minuten lang Geräuschen bewusst auszusetzen.“ Sonst drohe tatsächlich eine Hyperakusis. Vielleicht muss ich doch lernen, unangenehme Geräusche besser auszuhalten. Nur wie?
Möllmann rät zu Achtsamkeit. Statt auf das Geräusch, soll ich mich etwa auf meinen Atem konzentrieren oder darauf, welchen Zahn die Zahnbürste putzt. Eine Hörtherapie oder ein Hörtraining können ebenfalls helfen: Dabei soll man lernen, unangenehme Geräusche nicht mehr als störend wahrzunehmen. Bevor ich mir so eine Therapie suche, will ich mich erst mehr Geräuschen aussetzen. Mehr zulassen, mehr aushalten, achtsamer hören.
Jeden Tag nehme ich meine Kopfhörer bewusst mehrere Minuten aus den Ohren. Ich höre das Surren der Gastherme, den Knall einer zugeschlagenen Autotür, ein Hämmern. Ich bin stolz. Ich schaffe es, Geräusche auszuhalten und verfalle nicht direkt in einen Panik-Modus. Trotzdem weiß ich: Bestimmte Geräusche werden mich wohl weiter stressen. Und das ist okay. Poltert es mal wieder über mir, atme ich tief ein und aus und sage mir: Dieses Geräusch, was ich gerade höre, das tut mir nichts. Ich höre und atme.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Lea Schönborn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert