Collage: Gabor Maté vor einer zerbrochenen Scheibe.

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Psyche und Gesundheit

Sind Traumata in der Kindheit der Grund für ADHS?

Das ist nur eine von vielen kontroversen Thesen des Arztes Gabor Maté. Ein Psychologieprofessor hat sie geprüft.

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Unsere Gesundheit rückt zunehmend in den Fokus der Wirtschaft und unserer Aufmerksamkeit, doch paradoxerweise scheint es uns nicht besonders gut zu gehen. Während sich die Pandemie allmählich beruhigt, halten andere Epidemien unerbittlich an – sei es Adipositas, chronische Krankheiten oder psychische Leiden, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig sind unsere Pflegesysteme überlastet, und die Sorgen vieler Menschen nehmen zu, während sie verzweifelt nach Wegen suchen, sich besser zu fühlen. Diese Suche erweist sich jedoch oft als undankbare Aufgabe.

In seinem Buch „Vom Mythos des Normalen“ bietet Gabor Maté eine Diagnose für unsere Gesundheitskrise an. Für ihn besteht das Problem zum einen darin, dass die Menschen unter Traumata leiden, zum anderen in einer toxischen Kultur, die diese erzeugt und verstärkt. Dagegen verschreibt er tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, ganzheitliche Heilpraktiken und spirituelles Wachstum, unterstützt durch Psychedelika.

Diese Diagnose und die daraus resultierenden Therapieansätze sind jedoch ziemlich kontrovers. Skeptiker argumentieren, dass Gesundheitsprobleme auf komplexe Ursachen zurückzuführen sind, die wir nur teilweise verstehen. Matés Erklärungen vereinfachen diese Zusammenhänge zu sehr, meinen sie. Seine Lösungsvorschläge werden als vorauseilend wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber und gelegentlich als in Richtung Quacksalberei tendierend kritisiert.

Maté ist ein kanadischer Arzt, der in Wellness-Kreisen zu einer weltweiten Berühmtheit geworden ist. Vor ein paar Monaten nahm er an einem sehr öffentlichen therapeutischen Dialog mit Prinz Harry teil, bei dem er im Gespräch mit dem Prinzen ADHS „diagnostizierte“.

Maté wurde in Budapest geboren, seine Eltern sind Holocaust-Überlebende. Er hat selbst tiefgreifende persönliche Erfahrungen mit Trauma und Leid gemacht. Als Säugling ließ ihn seine Mutter mehrere Wochen lang in der Obhut von Fremden, um sein Leben zu retten. Er glaubt, dass die Themen Verlassenheit, Verlust und Wut auch in seinem Erwachsenenleben weiterwirkten.

In früheren Büchern hat Maté das Thema Sucht und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erforscht. Beides hat er auch bei sich selbst festgestellt. Außerdem beschäftigt er sich mit dem Wesen und der Ursache chronischer Krankheiten.

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Einige grundlegende Ideen ziehen sich als rote Fäden durch sein Werk: Immer wieder spricht er über die zentrale Bedeutung von Trauma, die intime Verbindung zwischen Geist und Körper und die Schuld des Kapitalismus und der materialistischen und individualistischen Kultur, die dieser hervorbringt.

Matés Diagnose: Trauma und toxische Kultur

In seinem 2018 erschienenen Buch „Im Reich der hungrigen Geister“ vertritt Maté die These, dass Süchte aus dem Schmerz ungelöster Traumata entstehen – nicht etwa aus Erkrankungen des Gehirns oder selbstzerstörerischen Entscheidungen. Maté hat eine mitfühlende Haltung gegenüber Süchtigen und verurteilt sie nicht. Scharf ins Gericht geht er hingegen mit der Gesellschaft, die seiner Ansicht nach Drogenkonsum schürt und kriminalisiert.

In seinem darauffolgenden Werk „Unruhe im Kopf“ wendet er sich gegen die vorherrschende Meinung, dass ADHS eine hochgradig vererbbare Hirnstörung oder eine Form von Neurodivergenz sei. Er glaubt, dass ADHS eine Folge von Kindheitstrauma ist. (Maté hat drei Kinder, bei denen wie bei ihm selbst auch ADHS diagnostiziert wurde. Er führt dies auf „emotionale Belastungen“ in ihrem frühen Umfeld zurück, einschließlich seiner eigenen Erziehung). Diese unorthodoxe Ansicht, die genetische Faktoren bei Krankheiten ausschließt und stattdessen Stress und Angst als Ursachen sieht, stößt auf Kontroversen.

In seinem Buch „Wenn der Körper Nein sagt“ vertritt er die Ansicht, dass Lebensstress bei so verschiedenen Krankheiten wie Krebs, Multipler Sklerose und Diabetes eine Rolle spielt. „Halte deine Kinder fest“ wiederum plädiert für eine aktive Erziehung und „Attuned Parenting“, das ist eine Erziehungsweise, die sehr genau auf die Bedürfnisse, Gefühle und Signale des Kindes eingeht.

„Vom Mythos des Normalen“, erschienen 2023, hat er zusammen mit seinem Sohn Daniel geschrieben. Es ist ein Höhepunkt von Matés früherer Arbeit, deren Fäden er zu einem großen und manchmal verworrenen Ideengeflecht zusammenführt. Es ist ein sehr ambitioniertes Buch.

Krankheit, schreibt er, ist „eine Funktion oder ein Merkmal unserer Lebensweise“ in einer Zeit, in der sich die kollektive Gesundheit verschlechtert. Sie hat ihre Wurzeln in einer Gesellschaft, in der „vieles von dem, was als normal gilt […], weder gesund noch natürlich ist“ und in der Konformität „im Hinblick auf unsere naturgegebenen Bedürfnisse zutiefst abnormal ist.“

Für Maté ist „normal“ ein Mythos, weil unsere Kultur unseren Sinn für das, was akzeptabel ist, verzerrt und uns an schädliche Lebensweisen gewöhnt hat.

Trauma als Auslöser von Krankheiten

Passenderweise eröffnet Maté das Buch mit einer Diskussion über Trauma, seinem zentralen Konzept. Er versteht Trauma als eine Erfahrung emotionaler Verletzungen – nicht als Reaktion auf extreme Ereignisse, wie oft in der Mainstream-Psychiatrie angenommen.

Sein Trauma-Begriff umfasst relativ schwerwiegende „große“ Traumata – Reaktionen auf außergewöhnliche Ereignisse – aber auch „kleine“ Traumata, die alltäglichen Stress, Schwierigkeiten oder das Fehlen positiver Erlebnisse umfassen.

Indem er diese breite, subjektive Sicht auf Trauma fördert, nach der „jemand ohne Trauma-Merkmale in unserer Gesellschaft ein Außenseiter wäre“, greift Maté neuere Strömungen auf, die ein erweitertes Traumaverständnis unterstützen.

Jüngste Studien haben diese Verschiebung beleuchtet. So wird zwar das Bewusstsein dafür geschärft, wie oft Menschen negativen Umständen ausgesetzt sind. Allerdings liegt hier auch ein Risiko, das Konzept von Trauma zu verwässern und die Erfahrungen von Überlebenden „großer“ Traumata zu trivialisieren. Zudem könnte diese Perspektive bei Menschen das schädliche Gefühl fördern, von der Vergangenheit dauerhaft gezeichnet zu sein.

Gabor Maté sieht Trauma als wesentlichen Auslöser für viele Krankheiten und als Grund für Zerrissenheit, Entfremdung, Scham, mangelnde Verhaltensflexibilität und eine Distanz zum Jetzt. Wie wir Trauma bewältigen, prägt unsere Persönlichkeit und macht uns anfällig für zahlreiche Gesundheitsprobleme, beeinflusst durch unser Immunsystem und Entzündungsprozesse.

Natur oder Erziehung? Erziehung!

Er beobachtet, dass krankheitsanfällige Menschen ihre Gefühle oft unterdrücken, zu viel Verantwortung übernehmen und zu übertriebener Gewissenhaftigkeit neigen. Solche Verbindungen zwischen Persönlichkeit und Krankheit stützen sich jedoch häufig auf schwache oder widersprüchliche wissenschaftliche Belege. Groß angelegte Studien haben keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitszügen und Krebsrisiko oder Tod durch Krebserkrankungen gefunden. Sie fanden einen schwachen Zusammenhang zwischen Diabetes und Gewissenschaft – allerdings gab es diesen Zusammenhang nicht bei besonders gewissenhaften Menschen, das Gegenteil war der Fall. Die Forschungsliteratur zu diesem Thema ist voller Theorien, die schon wieder überholt sind. Das gilt etwa für den angeblichen Zusammenhang zwischen Typ-A-Persönlichkeiten und Herzkrankheiten.

Darüber hinaus glaubt Maté daran, dass hinter Autoimmunkrankheiten häufig Trauma- und Missbrauchserfahrungen stehen könnten – zum Beispiel schreibt er Sklerodermie, eine seltene entzündlich-rheumatische Erkrankung, „entzündeten Gefühlen“ zu. Damit hebt er die Einheit von Körper und Geist hervor. Für Maté ist Krankheit eine umfassende Disharmonie, nicht nur ein äußerliches Problem.

Maté führt einen großen Teil der Traumata, die uns plagen, auf unsere Kindheit zurück. Er weist auf zahlreiche Hindernisse hin, die seiner Ansicht nach der gesunden Entwicklung von Kindern im Wege stehen: elterlicher Stress, der sich auf das heranwachsende Kind im Mutterleib auswirkt, medizinisch unterstützte Geburten, geschwächte gemeinschaftliche Bindungen, zu viel Bildschirmzeit und Werbung von Unternehmen, die gezielt an Kinder gerichtet ist.

In einer Stichelei gegen Jordan Peterson, seinen politischen Gegenspieler, kritisiert Maté Erziehungsmethoden, die darauf abzielen, soziales Verhalten zu formen und erwünschtes Verhalten zu prägen. Stattdessen plädiert er dafür, dass Eltern einem tief verwurzelten Erziehungsinstinkt folgen sollten – ein Ansatz, von dem er glaubt, dass besonders amerikanische Ureinwohner ein intuitives Verständnis besitzen.

Maté setzt sich stark für den Erziehungsaspekt der „Natur versus Erziehung“-Debatte ein. Dabei lehnt er den „vorherrschenden Mythos, dass genetische Eigenschaften menschliches Verhalten erklären“ ab. Unklar bleibt, was eine „genetisches Eigenschaft“ im Unterschied zu einer genetisch beeinflussten Eigenschaft sein soll – laut der verhaltensgenetischen Forschung umfasst dies im Grunde alle Eigenschaften.

Für Maté jedoch sind jegliche genetischen Einflüsse durch Umweltbedingungen (Epigenetik) bedingt und werden in der Wissenschaft überbewertet, was er sehr kritisch sieht.

„Jede Sucht ist eine Art Flüchtlingserzählung“

Psychischen Problemen liegen Entwicklungsprozesse zugrunde. Sucht, definiert als jedes Verhalten, das kurzfristig Erleichterung oder Vergnügen verschafft, langfristig jedoch Leid für sich selbst oder andere verursacht und schwer zu beenden ist, wird von Maté auf Trauma zurückgeführt.

Jede Sucht ist eine Art Flüchtlingserzählung: eine Flucht vor unerträglichen Gefühlen, die durch Widrigkeiten entstanden sind und nie verarbeitet wurden, in einen Zustand vorübergehender Freiheit hinein, wie illusorisch dieser auch sein mag.

Sucht, sei es nach Heroin oder Videospielen, stellt einen Versuch dar, mit Schmerz und einem Mangel an Liebe umzugehen, argumentiert Maté. Der Süchtige strebt danach, Gefühle von Geborgenheit nachzuempfinden, die natürlich entstehen sollten – wären sie nicht durch seine Entwicklung gehemmt worden.

Genetische Faktoren spielen laut Maté eine untergeordnete Rolle bei der Sucht. Seine Aussage, „es wurde nie ein Sucht-Gen gefunden – und wird auch nie eines gefunden werden“, ist eine glatte Falschaussage. Es sei denn, man definiert das „Sucht-Gen“ als ein Gen, das alleinig und ausnahmslos Sucht verursacht – eine Anforderung, die auch auf keine Lebenserfahrung, Persönlichkeitseigenschaft, Hirnchemie oder subjektive Empfindung zutrifft.

Maté räumt ein, dass die Gene zu unserer Anfälligkeit für Sucht beitragen können, hält diesen Beitrag aber für kausal irrelevant.

Die gleiche starre und irreführende Ablehnung genetischer Einflüsse findet sich auch in seiner Sicht auf psychische Krankheiten, die er als durch Traumata bedingte seelische Verletzungen sieht.

Obwohl Forscher 64 Genorte identifiziert haben, die mit bipolaren Störungen zusammenhängen, sieht Maté kaum Belege für genetische Ursachen dieser Krankheit. Er kritisiert Zwillingsstudien, wichtige Instrumente der genetischen Forschung in der Psychatrie und darüber hinaus, als gravierend fehlerhaft.

Hier, wie auch anderswo, steckt in Matés extremer Position gegen genetische und hirnorganische Erklärungen ein Hauch von Wahrheit. Es lohnt, biologisch vereinfachende Erklärungen zu hinterfragen, auch wenn diese oft die realen Praktiken vieler Psychiater verzerrt darstellen. Tatsächlich hat die Psychiatrie die Bedeutung von Traumata bei psychischen Krankheiten oft übersehen.

Doch die Bedeutung genetischer Faktoren bei psychischen Krankheiten zu ignorieren, ist genauso einseitig und vereinfachend wie das Übersehen der Rolle von Widrigkeiten. Die Realität ist hier besonders komplex. Langjährige Forschung zeigt, dass viele Lebenserfahrungen und genetische Varianten in komplexer Interaktion einige Menschen anfälliger für Krankheiten machen als andere.

Genetische Einflüsse entfalten sich nur in spezifischen Umweltkontexten, und scheinbar direkte Umwelteinwirkungen, wie Traumata, sind oft selbst genetisch mitgeprägt und nicht einfach isolierte Ursachen. Die Art, wie wir uns an schwierige Kindheitserlebnisse erinnern, wird zudem von unserer Persönlichkeit und unseren aktuellen emotionalen Herausforderungen geformt und gefärbt.

Eine ausgewogene Betrachtung der Forschungsergebnisse würde diese Komplexität anerkennen, anstatt sie wegzuwünschen, um die unbestrittene Bedeutung negativer Lebenserfahrungen noch stärker hervorzuheben.

Eine toxische Kultur

Matés scharfe Analyse deckt auf, wie tiefgreifende gesellschaftliche und kulturelle Probleme für weit verbreitete Traumata verantwortlich sind. In „Vom Mythos des Normalen“ weist er in einer Reihe von Kapiteln auf Missstände in Unternehmenskulturen hin, er kritisiert Armut und Ungleichheit, Rassismus und das Patriarchat.

Er glaubt, dass Frauen ihre Wut unterdrücken und sich selbst verleugnen. Das sowie die Tatsache, dass sie die Hauptlast der Pflegearbeit tragen, sieht er als Ursache dafür, dass Frauen besonders stark unter Angstzuständen, Depressionen und einer Reihe von Autoimmunkrankheiten leiden.

Er nimmt Führungspersönlichkeiten wie Stephen Harper, Justin Trudeau, Donald Trump und Hillary Clinton kritisch unter die Lupe und erstellt knappe, traumaorientierte Psychobiografien. Diese Einblicke sind aufschlussreich, auch wenn sie manchmal fast karikaturhaft wirken.

Maté folgert, dass besonders häufig Menschen an die Macht kommen, die früh lernen, die Realität zu leugnen, Empathie zu ignorieren, Verletzlichkeit zu meiden, ihr eigenes moralisches Urteil zu unterdrücken und sich selbst nicht zu hinterfragen.

Was tun inmitten dieses Durcheinanders? Maté spricht sich für einen umfassenden Heilungsprozess aus, der politische und spirituelle Aspekte ebenso umfasst wie psychologische. Er ruft dazu auf, authentischer zu leben, zielgerichtet zu handeln, gesunde Wut zuzulassen, Akzeptanz zu üben und Mitgefühl zu kultivieren. Es gilt, Grenzen zu setzen, übertriebene Selbstlosigkeit zu hinterfragen, Selbstkritik zu minimieren und sich von selbstbeschränkenden Glaubenssätzen zu befreien.

Über diese eher bekannten Empfehlungen hinaus bietet Maté auch einige revolutionäre Ratschläge. Er spricht sich für den Gebrauch von Psychedelika aus, um tiefer liegende unbewusste Konflikte zu erkunden, und fordert Widerstand gegen das globale kapitalistische System, mit dem Ziel, eine traumasensible Gesellschaft zu formen.

https://www.youtube.com/watch?v=mb5W9cMi6C8

Ganzheitliche Gesundheit

Matés Vision ist mitreißend und geradezu prophetisch und hat ihm viele treue Anhänger gebracht. Sein Werk spricht eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem Zustand der heutigen Gesellschaft, Gesundheit und Politik an und bietet einige Vorschläge für wirkungsvolle Korrekturen.

Es stimmt, dass der Aufstieg der biologischen Psychiatrie dazu geführt hat, dass die Rolle des sozialen Umfelds und widriger Lebensumstände bei psychischen Erkrankungen vernachlässigt wird. Ebenso stimmt, dass stigmatisierende Sichtweisen auf Drogenkonsum und psychische Erkrankungen häufig auf moralisierenden Urteilen basieren, die Menschen schlechte Entscheidungen zuschreiben oder fatalistische Annahmen über Gehirnerkrankungen treffen. Matés Ansatz, der den Fokus auf Trauma legt, stellt sich gegen beide Tendenzen.

Bei vielen Menschen besteht ein großes Bedürfnis nach einer ganzheitlicheren Gesundheitsversorgung, die das emotionale Leiden bei (in erster Linie) körperlichen Krankheiten und die Verkörperung psychischer Krankheiten anerkennt. Viele Menschen sehnen sich nach einem Gesundheits- und Wohlbefindenskonzept, das sie transformiert, statt lediglich Symptome zu behandeln. Sie wünschen sich Hilfe dabei, mit schwierigen Lebenssituationen besser umzugehen.

Rechtzeitiges Korrektiv oder ein Schritt zu weit?

Dennoch hat der Mythos der Normalität seine eigenen Widersprüche. Er schwingt das korrigierende Pendel manchmal bis zum Anschlag.

Es ist ein wenig paradox: Eine Weltsicht, die Individualismus als Ursache menschlichen Leids kritisiert, gleichzeitig jedoch persönliche Authentizität als Heilungsziel hervorhebt, sich auf die “einzigartige und echte Natur” jedes Einzelnen beruft und zum Widerstand gegen die Anpassung an eine erkrankte Gesellschaft aufruft, erscheint als eine verkappte Form des Individualismus innerhalb der Therapiekultur.

Auch Matés Betonung von Trauma als primäre Krankheitsursache erscheint einseitig. Diese Herangehensweise ist ebenso reduktionistisch und simplifizierend wie eine ausschließlich genetische oder neurobiologische Sichtweise und misst mit zweierlei Maß. Wenn biogenetische Faktoren die Ursache einer Krankheit sind, müssen sie allein ausreichen, um die Krankheit zu erklären. Um Trauma als Hauptursache eines Problems zu betrachten, muss es in irgendeiner Weise mit anderen schwierigen Lebensumständen oder negativen Erfahrungen assoziiert sein.

Die Forschung liefert starke Belege dafür, dass eine Verbindung zwischen der Anzahl negativer Kindheitserfahrungen und dem Risiko besteht, später im Leben vielfältige Krankheiten und Probleme zu entwickeln. Das ist eine wichtige Einsicht. Allerdings sind viele dieser Zusammenhänge eher moderat (etwa bei Fettleibigkeit, Diabetes, Krebs, Herzerkrankungen) und selbst die signifikantesten (wie problematischer Drogengebrauch oder Gewalt) sind weit von einer perfekten Vorhersage entfernt. Die meisten Menschen, die größte Widrigkeiten erfahren haben, erkranken nicht oder werden nicht beeinträchtigt. Und einige, die ein sorgenfreies früheres Leben hatten, werden dennoch krank.

Die Einflüsse von Widrigkeiten und Traumata auf psychische Erkrankungen sind zweifellos real und von entscheidender Bedeutung, jedoch sind sie nicht durchweg dominanter als andere Faktoren. Ein umfassendes Verständnis von Krankheit erfordert die Anerkennung dieser vielschichtigen Komplexität, anstatt sie mit übermäßig simplifizierenden Behauptungen zu verkürzen.

In seinen Schriften neigt Maté dazu, bestimmte Zusammenhänge als unumstößliche Gewissheiten darzustellen, indem er behauptet, dass X immer zu Y führt oder dass er in seiner klinischen Praxis noch keine Ausnahme von einem identifizierten Muster gefunden hat. In der nuancierten und von Wahrscheinlichkeiten geprägten Welt der menschlichen Psychologie sind Behauptungen absoluter Gewissheit jedoch schwer zu rechtfertigen und sollten als solche kritisch betrachtet werden.

Trotz fragwürdiger Behauptungen bietet das Buch für viele Leser auch Inspiration. Es steckt viel Hoffnung darein und erzählt bewegende Geschichten von persönlicher Veränderung und Heilungen, viele davon aus Interviews mit prominenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Mehrere Kapitel bieten praktische Ratschläge und Übungen, um Herausforderungen zu bewältigen.

Die Leserin findet hier auch Trost und Ermutigung. Das Buch vermittelt die Botschaft, dass wir mit unserem Leid nicht allein sind und wir keine Schuld dafür tragen. Maté betont, dass unsere Probleme ein Resultat von etwas sind, das uns von anderen zugefügt wurde. Er glaubt, dass sie eng mit unserem altruistischen und rücksichtsvollen Wesen verknüpft sind. In Matés Weltanschauung ist individuelles Leiden Teil einer größeren Erzählung über soziale Gerechtigkeit und kollektive Verantwortung.

Auch skeptischere Leser, denen Matés Konzept des guten Individuums, das von der schlechten Gesellschaft beeinflusst wird, zu extrem erscheint, können von der Lektüre von „Vom Mythos des Normalen“ profitieren. Seine Stimme ist ein wichtiges Beispiel dafür, wie progressive Politik und der Diskurs über psychische Gesundheit sich immer stärker miteinander verweben. Seine Popularität ist ein Grund mehr, ihn ernst zu nehmen.


Nick Haslam ist Professor an der Melbourne Universität. Er ist Sozialpsychologe und forscht zu Dehumanisierung, Vorurteilen und Stigma, psychiatrischer Klassifizierung und mentaler Gesundheit. Er hat elf Bücher geschrieben und schreibt regelmäßig für verschiedene Medien.

Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch bei The Conversation erschienen. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen.

Übersetzung und Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

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Sind Traumata in der Kindheit der Grund für ADHS?

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