Collage: Ein Mann vor einem Himmel. In seinem Kopf brennt es.

Mohammad Alizade, Maxim Tajer, Jeremie Aubut/Unsplash

Psyche und Gesundheit

Vielleicht bist du gar nicht traumatisiert

Wenn wir alles Negative Trauma nennen, erkennen wir echtes Trauma nicht mehr. Wirklich Betroffenen hilft etwas anderes.

Profilbild von Martin Gommel
Reporter für psychische Gesundheit

Ich stolpere. Jeden Tag. Nicht auf dem Gehweg, sondern im Internet. Genauer gesagt auf Social-Media-Plattformen wie X oder Instagram. Dabei verheddere ich mich an einem emotional aufgeladenen Wort, das seit zwei Jahren überall aufploppt: Trauma.

Unter #traumatok sprechen Tausende über unschöne, verstörende und dramatische Erlebnisse. Schon 2022 hatte der Hashtag laut dem Vice-Magazin 9,2 Milliarden Views. Auf Instagram gibt es 5,5 Millionen Beiträge mit dem #trauma-Hashtag.

Auf X wirft jemand Karl Lauterbach vor, Maskentragen in der Pandemie habe bei Kindern Traumata hervorgerufen. Das Model Ashley Graham, so berichtet die Bunte, sei durch das Schönheitsideal von Barbiepuppen in ihrer Kindheit traumatisiert worden. Und dann war da noch der Vater, der eine Milliarde australische Dollar forderte, weil die Geburt seines Kindes ihn in eine psychische Krise stürzte. Zudem sei seine Ehe „aufgrund seiner Traumatisierung gescheitert“, schreibt Focus.

Da das Wort für alle möglichen schwierigen Erfahrungen benutzt wird, bleibe ich immer wieder an diesem Wort hängen. Ich frage mich: Was ist ein Trauma? Und was nicht?

Woher der Begriff kommt

„Trauma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet Wunde. Eigentlich beschreibt es eine physische Verletzung. Deshalb nutzte man den Begriff zunächst nur in der Medizin. In der Psychologie gewann „Trauma“ insbesondere in den 1970er-Jahren an Bedeutung.

Dies war größtenteils auf die Erfahrungen des Vietnamkrieges zurückzuführen, von dem viele US-Veteranen mit schweren psychischen Problemen zurückkehrten. Die Soldaten waren extremen Belastungen ausgesetzt, darunter Guerillakämpfen in Sumpfgebieten, der ständigen Bedrohung durch Minen und Sprengfallen und Folter in vietnamesischen Gefangenenlagern. Einige Veteranen griffen nach ihrer Rückkehr auf Drogen oder Alkohol zurück, um mit den Schrecken des Krieges klarzukommen.

Diese Zeit markierte einen Wendepunkt in der Anerkennung und im Verständnis der langfristigen psychischen Folgen schwerwiegender Erlebnisse. Doch wie wird Trauma heute in der psychotherapeutischen Praxis definiert?

Um das zu verstehen, rufe ich den Psychologen Anatol Bräunig an. Auf Instagram klärt er über Konzepte und Begriffe aus der psychotherapeutischen Praxis auf. „Ein Trauma ist in erster Linie eine Erfahrung von besonders schwerem Ausmaß, das von Betroffenen als schlimm wahrgenommen wird.“ Diese könne lebensbedrohlich gewesen sein, müsse aber nicht.

Auf dem Bild ist Anatol Bräunig, ein Psychologe, zu sehen. Er ist ein Mann mit kurzem dunkelblondem Haar und einem Vollbart. Er trägt eine runde Brille mit dünnem Metallrahmen und ein weißes Hemd. Der Hintergrund ist einfarbig und bietet einen kontrastarmen, neutralen Rahmen für das Porträt.

Psychotherapeut Anatol Bräunig Foto: Sven Serkis

Traumata können – grob gesagt – zwei Ursachen haben.

  1. Sie entstehen durch außergewöhnliche Umstände wie:
  • Unfälle
  • Kriege
  • oder Naturkatastrophen.
  1. Oder durch zwischenmenschliche Beziehungen wie:
  • Gewalt
  • Missbrauch
  • oder Mobbing.

Wer so etwas erlebt, reagiert darauf mit unterschiedlichen Bewältigungsmechanismen. Sie alle werden im ICD-10, eine Art Lexikon für Erkrankungen, aufgelistet. „Dazu gehören Flashbacks, Veränderungen im Verhalten oder Intrusionen. Das ist das Wiedererleben von schwierigen Gefühlen, die Betroffene in der traumatischen Situation spürten“, sagt Bräunig.

Wo verläuft die Grenze?

In meinem Kopf macht es „Klick“. In sechs Buchstaben wird ein grausamer, brutaler Moment mit all seinen Nachwirkungen ausgedrückt. Aber was ist kein Trauma?

„Die Übergänge sind fließend – und das erschwert Gespräche auf Social Media“, so Bräunig. Das Ziel ist in solchen Momenten nie, einer Person eine bestimmte Erfahrung abzusprechen, und man begibt sich auf zwischenmenschliches Glatteis, wenn man versucht, die Verwendung des Wortes zu kritisieren. Eine harte Grenze gibt es nach Bräunig also nicht.

Anders sieht es Andreas Maerker. Er ist Professor für Psychologie und forscht zu Traumafolgestörungen. 2017 schreibt er in seinem Buch: „Die beiden Erlebnis- oder Erfahrungsarten, die man als Trauma definiert, sind einerseits individuelle Todesbedrohungen (direkte Konfrontationen mit dem Tod) und andererseits die Verletzungen der körperlich-sexuellen Integrität eines Menschen (sexuelle Gewalterfahrungen).“

Demnach können Erfahrungen, auf die diese Beschreibungen nicht zutreffen, kein Trauma auslösen. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte. Fest steht jedoch: Ein Foto, ein Film, ein Albtraum, Barbiepuppen, Atemschutzmasken, all das kann – im klinischen Sinne – nicht traumatisieren.

„Es ist valide, nachzufragen, wie es jemand gemeint hat“, sagt Bräunig. In der Psychotherapie lässt er die Verwendung des Wortes erst einmal stehen, wenn ein:e Patient:in von einem Trauma spricht. Im zweiten Schritt versucht er zu klären, ob es sich im diagnostischen Sinne tatsächlich um ein Trauma handelt. “Allerdings habe ich den Eindruck, dass im Netz viele leichtfertig von Trauma sprechen, um alltägliche Erfahrungen zu beschreiben“, sagt er.

Das passiert, wenn alles Trauma ist

Ich weiß, wie schwer es sein kann, sich mit den schmerzhaften Details auseinandersetzen müssen, die das kurze Wort Trauma verschluckt. Meine Kindheit war die Hölle. Ich wurde täglich misshandelt und jahrelang in der Schule geschlagen, bespuckt und beleidigt. Ich bin so kaputt, dass ich heute keine Liebesbeziehungen führen kann.

Mein Therapeut meinte vor drei Jahren: „Martin, vielleicht hast du eine Traumafolgestörung entwickelt, weil du in deiner Kindheit so fertig gemacht wurdest.“ Und die wird ausgelöst, wenn ich mich verliebe. Ich lebe also mit den Konsequenzen meines Traumas.

Wenn dann Leute schreiben, ein Actionfilm habe sie traumatisiert, werde ich wütend. Nicht auf die Person, keineswegs. Ich glaube Leuten, dass ein Film schrecklich sein kann. Meine Güte, wer einmal den Horrorfilm „ES“ gesehen hat, wird sich ein Leben lang daran erinnern.

Aber darum geht es nicht. Ich werde wütend, weil das Wort einen Dreck wert ist. Wenn wir heute beginnen, jedes Obst, egal ob Banane, Litschi oder Kirsche, nur noch PFIRSICH zu nennen, dann sehen wir bald keine Pfirsiche mehr.

Deshalb benutzen Menschen das Wort so häufig

Die Popularität des Begriffes Trauma könnte auch damit zusammenhängen, dass es relativ einfach ist, sich dadurch Gehör zu verschaffen. Auf: „Das war heftig“, reagieren Menschen anders als auf: „Das hat mich schwer traumatisiert“. Dem Wort haftet eine gewisse Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit an.

Bestimmt ist ein weiterer Grund für die häufige Verwendung, dass wir heute offener und freier über psychische Gesundheit und Erkrankungen sprechen, als noch vor 30 Jahren. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir uns einem psychologischen Vokabulars bedienen.

Ein Beispiel: Um zu sagen, dass du heute nicht aufstehen kannst und das mit deiner Erkrankung zu tun hat, musst du die korrekte, klinische Diagnose aussprechen, in diesem Fall, dass du eine depressive Episode erlebst. So werden Worte zugänglich, die bisher nur Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen zugänglich waren. Eines dieser Worte ist Trauma.

„Das Wort schafft außerdem klare Verhältnisse“, sagt Anatol Bräunig. „Es gibt ein Opfer und einen Täter“. Das Opfer ist immer die Person, die das Wort gerade benutzt hat. Und damit eignet man sich die Deutungshoheit über einen Konflikt oder ein schlimmes Erlebnis an: Ich entscheide, wer schuld ist und wer nicht. Dass das problematisch sein kann, liegt auf der Hand.

Das Wort kann auch als Druckmittel benutzt werden. Wenn jemand Karl Lauterbach vorwirft, Maskentragen habe Kinder in Deutschland traumatisiert, dann sagt die Person nicht nur: Das war schlimm für die Kinder. Sondern auch: SIE, Herr Lauterbach, haben es verschuldet.

Ich verbringe jeden Tag mehrere Stunden auf X und beobachte, wie und wann das Wort verwendet wird. Dabei scheint es so, als würden Menschen, bei denen es im diagnostischen Sinne zutreffend wäre, von Trauma zu sprechen, dieses Wort sehr zurückhaltend verwenden. Warum? Bräunig sagt: „Viele Menschen, die tatsächlich ein Trauma im Zwischenmenschlichen erlebt haben, überlegen oft, ob sie selbst eine Mitschuld tragen. Und deshalb schämen sie sich.“ Und Menschen, die sich schämen, sprechen seltener über ihre Erfahrung.

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Wem der Hype schadet

Indem wir heute offener über psychische Probleme sprechen, wird Mental Health sichtbar. #traumatok ist der beste Beweis dafür, dass Betroffene ihre Erfahrungen teilen können. Psychisch Kranke lernen, dass sie sich nicht für ihre Depression schämen müssen. Doch wenn JEDER traumatisiert ist, weil er oder sie etwas Unangenehmes erlebt hat, verschwimmen solche Begriffe. Das bedeutet: Nachdem wir gelernt haben, über psychische Probleme zu reden, müssen wir das Wie verhandeln.

Problematisch am inflationären Gebrauch des Begriffes ist: Das Leid der Menschen, die tatsächlich ein Trauma erlebt haben, wird relativiert. „Das rückt die wirklich schlimmen Erlebnisse in die Nähe dieser Banalitäten“, sagt Bräunig. Wenn eine Person, die sich von einem verkohlten Toastbrot traumatisiert fühlt, davon einer Überlebenden erzählt, die durch einen Autounfall beinahe ums Leben kam, wird letztere mit Sicherheit irritiert sein.

Diese Alternativen gibt es

Trauma ist zwar ein starkes Wort, mit dem wir schnell Aufmerksamkeit bekommen, aber es ist auch ein grobes, unpräzises und lautes Wort. Das Gute ist: Es gibt bessere Formulierungen, wenn wir sagen wollen, dass wir etwas Heftiges erlebt haben.

Ein paar Beispiele:

  • Das hat mich fassungslos zurückgelassen.
  • Ich habe mich ohnmächtig gefühlt.
  • So traurig und wütend war ich schon lange nicht mehr.

So beginnen wir, genau zu beschreiben, wie wir uns gefühlt haben. Manchmal steckt hinter dem Begriff auch ein Bedürfnis, das wir so ausdrücken können:

  • Ich möchte getröstet werden.
  • Magst du mir zuhören? Ich habe etwas Schlimmes erlebt.
  • Ich brauche eine Schulter zum Anlehnen.

Zum Menschsein gehört Leid dazu. Wir waren alle schon mal verletzt, körperlich oder psychisch. Wenn wir es schaffen, offen darüber zu sprechen, machen wir uns vor anderen verletzbar. Wir bauen Brücken zueinander, weil wir nahbar werden.

Das ist eine Stärke. Lasst uns bedachter psychologische Fachbegriffe nutzen, die für bestimmte Ereignisse stehen. Denn die Worte, die wir dafür verwenden, sind wichtiger, als wir glauben.


Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Vielleicht bist du gar nicht traumatisiert

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