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Das Mädchen war zwei Jahre älter als James Fiore. Sie hatte eine eigene Wohnung, und er mochte sie. Gemeinsam saßen sie in ihrem Zimmer. Der 17-Jährige schüttete ein bisschen Heroin aus einer kleinen Plastiktüte und formte mit seiner Kreditkarte eine Linie, so dass sie das Pulver durch die Nase sniefen konnten.
„Du weißt, dass du es so verschwendest?“, fragte ihn das Mädchen. „Du musst dir nur die Hälfte davon spritzen und wirst davon dreimal so high.“
Ein paar Jahre zuvor hätte James Fiore, ein katholisch erzogener Junge, der Football mit seinen Freunden spielte und mit dem Gedanken liebäugelte, Polizist zu werden, bei Heroin an Junkies in dunklen Hinterhöfen gedacht. Niemand in seiner Gegend hätte Heroin angerührt. Jetzt nahm das Mädchen eine Kanüle, fand eine Vene an seinem Arm und setzte ihm einen Schuss. Fiore musste sich übergeben, aber er fühlte sich so gut wie nie zuvor.
James Fiores Weg in eine Heroin-Abhängigkeit liest sich wie eine Parabel für die Heroin-Epidemie, die in den Vororten der USA ausgebrochen ist. Hinter der Krise steht ein Geflecht aus Interessengruppen. Vor allem zwei einflussreiche Zweige der Pharmaindustrie profitieren von der Epidemie: zum einen die Produzenten von Schmerzmitteln, die zur Entstehung der Krise beigetragen haben. Und zum anderen die Hersteller von Medikamenten, mit denen Abhängige behandelt werden.
Fiore wurde 1992 in einer Arbeitergegend am East River in Brooklyn geboren. Während seiner Kindheit konnte er auf der anderen Seite des Flusses Staten Island sehen; diese eigenartige Insel im Süden von Manhattan, die offiziell als Teil der Stadt New York gilt, aber so aussieht und sich anfühlt wie eine suburbane Enklave im amerikanischen Nirgendwo.
Um die Entstehung der Opioid-Epidemie in den USA zu verstehen, muss man verstehen, wie drei Geschichten zusammenhängen: Die Geschichte des Schmerzmittels Oxycontin, die Geschichte der Heroin-Ersatzdroge Suboxone, und die Geschichte von James Fiore aus Staten Island.
Oxycontin und Suboxone sind beides Handelsnamen. In Deutschland unterliegen sie dem Betäubungsmittelgesetz.
Fiores Eltern arbeiteten, angestellt bei der Stadt New York, in gutbezahlten Handwerks-Berufen. Als er elf und seine kleine Schwester sieben Jahre alt waren, hatte die Familie genug angespart. Sie zogen über den Fluss nach Staten Island in eine Gegend, wo Mittelklasse-Wagen vor ansehnlichen Einfamilienhäusern mit amerikanischer Flagge parkten. „Ein guter Ort, um eine Familie aufzuziehen“, dachten sie – bis die Opioide in ihr Haus kamen.
Die Blockbuster unter den Medikamenten
Unter Opioiden versteht man natürliche und synthetisch hergestellte Arzneimittel, die Schmerzen lindern, indem sie bestimmte Gehirnregionen beeinflussen. Ihr Einsatz als Schmerzmittel ist in den USA in den vergangenen 25 Jahren explodiert.
Jahrzehntelang wurden die Medikamente nur zur Behandlung von starken Schmerzen nach einer OP oder für Krebspatienten eingesetzt. In den 1990er Jahren begannen Ärzte jedoch damit, Opioide auch gegen chronische Schmerzen zu verschreiben. Diese Entwicklung war das Ergebnis einer gigantischen Lobby-Kampagne. Über Jahre hinweg zahlten Pharma-Hersteller Millionen Dollar, um den Einsatz ihrer Schmerzmittel in die Höhe zu treiben.
Gut dokumentiert ist das beispielsweise in diesem Papier des Internisten Art Van Zee aus dem Jahr 2009.
Die wohl prominenteste Rolle spielte das Medikament Oxycontin, das der US-Pharmakonzern Purdue Pharma 1995 auf den Markt brachte.
„Purdue Pharma wollte einen Blockbuster“, sagt Andrew Kolodny, Leiter der Organisation Physicians for Responsible Opioid Prescribing. Als Blockbuster gelten in der Pharmaindustrie Medikamente, die einen jährlichen Umsatz von über einer Milliarde US-Dollar machen. „Damit ein Medikament zu einem Blockbuster wird, muss es bei häufig vorkommenden, chronischen Krankheiten verschrieben werden. Diese Patienten nehmen Medikamente lange und kommen gegebenenfalls nie wieder davon los.“
Berichten der US-Regierung zufolge startete der US-Pharmakonzern Purdue Pharma 1995, nachdem er Oxycontin eingeführt hatte, eine lang angelegte Image-Kampagne und unterstützte einflussreiche Organisationen wie die Amerikanische Schmerz-Gesellschaft. „To start with and stay with“, war der Slogan – Oxycontin wurde vermarktet als Mittel, mit dem Schmerzpatienten von Anfang an langfristig behandelt werden sollten.
Ich beziehe mich vor allem auf diesen Congressional Report (PDF) von 2003.
Die Selling Points für Oxycontin listet auch dieses Papier auf (Budget Plan 2000), PDF, Seite 42-44.
In den fünf Jahren nach Markteinführung lud Purdue Pharma mehr als 5.000 Ärzte, Apotheker und Krankenschwestern zu Konferenzen an sonnigen Veranstaltungsorten ein und übernahm die Kosten für Reise, Unterkunft und Essen. Der Konzern sponserte Fortbildungen, vergrößerte sein Team aus Außendienstmitarbeitern und verteilte Filme mit Titeln wie „Ich bekam mein Leben zurück: Schmerzpatienten erzählen ihre Geschichte.“
Ärzten sollte das Gefühl vermittelt werden, sie müssten sich keine Sorgen machen, dass ihre Patienten körperlich abhängig würden.
Meistverkauftes Marken-Opioid in den USA
Während dieser fünf Jahre stieg der Umsatz von Oxycontin von mindestens rund 45 Millionen US-Dollar im Jahr 1996 auf knapp eine Milliarde US-Dollar im Jahr 2000. 2001 war das Schmerzmittel das meistverkaufte Marken-Opioid in den USA.
Die Umsatzzahlen sind dem Congressional Report vom Dezember 2003, S. 31 entnommen.
Politiker wussten von den Gefahren des Medikaments. Im Februar 2002 rief US-Senator John Warner eine Anhörung vor dem US-Kongress an, um über Vorteile, Risiken und den illegalen Missbrauch von Oxycontin zu diskutieren.
Alle Informationen bezüglich dieser Anhörung, die folgen, stammen aus diesem offiziellen Report.
Vor dem Kongress wiederholte der Konzern, was er seit Einführung des Schmerzmittels gesagt hatte: „Chronische Schmerzen waren lange Zeit unterbehandelt “, sagte Paul Goldenheim, zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Forschungsleiter bei Purdue. „Erst im vergangenen Jahrzehnt hat ein entscheidendes Umdenken in der öffentlichen Diskussion und in Medizinerkreisen stattgefunden. Grundlage dafür war, dass die Wirksamkeit individueller Therapien bei der Behandlung von Schmerzen, die auch die Verwendung von Opioiden einschließt, nachgewiesen wurde. Diese Medikamente verbessern die Lebensqualität der Patienten verblüffend.“
„Medikamenten-Missbrauchs-Epidemie“
Gegen Ende der Anhörung trat Art Van Zee, ein Internist aus einer winzigen Bergbau-Stadt in den Appalachen, vor den Kongress. „In den 25 Jahren, in denen ich als Arzt tätig war“, sagte er laut Aufzeichnungen von 2002, „habe ich nie etwas erlebt, was man mit der Medikamenten-Missbrauchs-Epidemie vergleichen könnte, die wir in den letzten drei Jahren mit Oxycontin erlebt haben. Man kann beobachten, wie vor allem junge Menschen, denen Oxycontin als Schmerzmittel verschrieben wird, sehr schnell abhängig werden. Viele dieser Jugendlichen sind ‚good kids’, aus guten Familien mit vielversprechender Zukunft. Diese Zukunft wird nun zerstört durch ihre Opioid-Abhängigkeit.“
2015 liest sich die Aussage des Internisten Art Van Zee wie eine Prophezeiung für die Epidemie, die sich in den Jahren danach in den USA ausbreiten würde.
„Um ganz ehrlich zu sein, am Anfang war auch ich naiv und habe geglaubt, was uns Purdue Pharma gesagt hat“, erinnert sich Van Zee 13 Jahre nach seiner Aussage, kontaktiert über eine brüchige Telefonverbindung in die Appalachen. Van Zee – mittlerweile 67 Jahre alt – arbeitet immer noch als Arzt. „Erst, als es zu einem furchtbaren Problem wurde, habe ich mir die wissenschaftlichen Behauptungen einmal genauer angeschaut. Und mir wurde schnell klar, dass das Marketing irreführend gewesen war. Purdue Pharma hatte Vorteile aufgebauscht und Risiken heruntergespielt.“
Dr. Van Zee klang überrascht, als ihn 13 Jahre nach seiner Aussage ein Reporter aus New York auf seiner Privatnummer anrief. „Gerade heute habe ich mit meiner Frau über all das gesprochen“, sagte er. Was wäre gewesen, wenn die Politiker damals auf ihn gehört hätten, frage ich ihn. Er glaube nicht, dass das die Opioid-Epidemie in den USA verhindert hätte, sagt er nach einigem Zögern. Aber er ist sich sicher, dass sich die Opioide nicht so schnell und exponentiell hätten verbreiten können.
Seine Bedenken blieben weitgehend unerhört. „Die Pharmaindustrie hat großen Einfluss in diesem Land, großen Einfluss auf die öffentliche Diskussion“, sagt er.
Laut der Organisation OpenSecrets gab Purdue Pharma im Jahr 2003 insgesamt 1,1 Millionen US-Dollar für seine politische Lobby-Arbeit aus; die höchste Summe in den vergangenen 15 Jahren.
Alles begann mit einem Migräne-Anfall
Im Jahr 2007 verletzten sich James Fiores Mutter und Vater während der Arbeit. Beide wurden erwerbsunfähig; beiden wurden Opioid-Schmerzmittel verschrieben.
Die Medikamente sollen Schmerzen lindern. Sie können jedoch, ähnlich wie illegale Drogen, auch euphorische Rauschzustände auslösen.