Anders als Brillen sind Hörgeräte vielen Menschen peinlich. Warum eigentlich? Hörgeräte könnten schicke Accessoires sein – finden zumindest die Hersteller und bieten sie in vielen knalligen Farben an. Beides, Brillen und Hörgeräte, sind Hilfsmittel, die wichtige Sinne unterstützen. Ordentlich Sehen und Hören zu können, kann Leben retten, zum Beispiel im Straßenverkehr. Aber Schwerhörigkeit ist vielen peinlich, erst recht jüngeren Menschen.
Dabei sind das gar nicht wenige. Es ist sogar ziemlich normal schlecht zu hören, und längst nicht nur für ältere Menschen. Zwar gibt es keine verlässlichen Statistiken darüber, wie viele Menschen in Deutschland und der Welt Hörprobleme haben. Aber klar ist, dass es viel mehr, und vor allem viel mehr jüngere sind, als man meint. Fachleute vermuten, dass in Deutschland 16 bis 25 von 100 Erwachsenen Probleme mit dem Hören haben. Bei Älteren ist der Anteil höher. Und das Problem wird zunehmen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass bis zum Jahr 2050 ein Viertel der Menschen schwerhörig sein wird. Die Hälfte der jungen Menschen zwischen 12 und 35 Jahren in den Industrienationen riskieren demnach gerade eine Hörminderung – durch zu laut eingestellte Smartphones.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) gibt an, dass sechs Prozent der Frauen und sieben Prozent der Männern zwischen 18 und 29 Jahren Hörschwierigkeiten haben. Bei den über 65-Jährigen steigt dieser Anteil stark: auf 29 Prozent (bei Frauen) und 34 Prozent (bei Männern). Starke Schwerhörigkeit ist bei Leuten unter 44 Jahren selten, (weniger als ein Prozent) und steigt nach dem 65. Geburtstag auf sechs Prozent an.
Die WHO schätzte im Jahr 2021, dass in ganz Europa knapp 200 Millionen Menschen schwerhörig waren.
All das zeigt: Schwerhörigkeit ist so verbreitet, dass Hörgeräte eigentlich so normal sein könnten wie eine Brille. Dass sie es nicht sind, hat viel damit zu tun, dass die Behinderung unsichtbar ist und man sie relativ gut verheimlichen kann – zumindest eine Weile und so lange die Einschränkungen vergleichsweise mild sind. Dabei dürfte jedem klar sein: Gesund ist das nicht.
Gerade jüngere Menschen mit Hörproblemen finden es schwer, offen damit umzugehen. So wie KR-Leser Sebastian. Er ist 41 Jahre alt und hat mich gefragt: Wie überwinde ich die Scham, mir ein Hörgerät zu holen? Dass er schwerhörig ist, leitet Sebastian aus Situationen ab, in denen ihm das Hören schwerfällt. Vor allem, wenn es viele Hintergrundgeräusche gibt, wie zum Beispiel in Kneipen, kann er Gesprächen nicht mehr gut folgen. Ein Hörtest, der schon einige Jahre zurückliegt, zeigte einen „Knick in der Hörkurve“, so Sebastian. Aber eine echte Diagnose hat er noch nicht.
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Sebastian ist mit seiner Scham nicht allein. Auch dazu gibt es Zahlen. Man schätzt, dass nur circa ein Drittel der Schwerhörigen in Deutschland Hörhilfen benutzt (der Bundesverband der Hörhilfen-Industrie geht von 40 Prozent aus). Weltweit seien es nur 17 Prozent der Betroffenen, vermutet die WHO.
Obwohl es technische Lösungen für Hörprobleme gibt, nutzen viele Menschen sie also nicht. Das hat wohl mit dem Bild zu tun, das sich die meisten Menschen von Schwerhörigen machen: alt, anstrengend und nicht ganz ernstzunehmen. Erinnert sich noch jemand an die Sissi-Filme? Eine beliebte Figur darin ist der Vater von Sissis Bräutigam, Erzherzog Franz Karl. Der Erzherzog gibt vor, schwerhörig zu sein. Für Lacher sorgt, dass er aber zufällig trotzdem immer genau das hört, was er hören will. Tatsächlich Schwerhörigen tat dieser Witz keinen Gefallen, im Gegenteil: Er machte die Behinderung lächerlich, als ob Schwerhörige ihre Schwäche nach Belieben ein- und ausschalten könnten.
Wie Hören funktioniert – und was dabei schiefgehen kann
Bevor ich zu den pikanten Fragen rund ums Hören – und Nichthören – komme, zuerst ein kleiner Ausflug ins Innere des Kopfes – dort wo das Wunder passiert. Denn wie der Körper Schallwellen aufnimmt und sie in elektrische Impulse umwandelt, die das Gehirn dann deutet, ist nichts anderes als das: ein wahres Wunder. Am besten schaust du dir dazu erst einmal diese Grafik an. Sie zeigt, welchen Weg Schallwellen im Innenohr nehmen und welche Organe daran arbeiten, dass das Gehirn sie in bedeutungsvolle Informationen umwandeln kann. Die Hauptrolle spielt in diesem Zusammenspiel die Hörschnecke. Ihre Innenhaut ist mit unzähligen Haarzellen ausgestattet, deren Bewegungen den Hörnerv stimulieren.
Wenn wir von Schwerhörigkeit reden, ist meistens gemeint, dass an irgendeiner Stelle im Ohr die Schallweiterleitung nicht richtig funktioniert. Wir kennen alle den Effekt, den ein Schnupfen haben kann, wenn dadurch die Belüftung des Ohrs über die Ohrtrompete nicht richtig funktioniert: Als ob man Watte im Ohr hätte. Doch Schwerhörigkeit ist mehr als eine gestörte Weiterleitung der Schallwellen. Denn wenn die elektrischen Impulse über den Hörnerv die Verarbeitungszentren im Gehirn erreichen, geht es ums Verstehen: Ist mir dieser Ton bekannt? Was bedeutet er? In welchen Sinnzusammenhang gehört er? Hat da jemand Haus gesagt oder Maus? Sand oder Hand? Und welche Reaktion ist jetzt angemessen?
An dieser Stelle spüren die Betroffenen erst richtig, dass sie nicht gut hören können. Sie hören zu wenig, um es richtig einordnen zu können – oder sie verhören sich. Zum Beispiel, weil sie Laute mit ähnlich klingenden oder stimmlosen Lauten verwechseln oder weil sie sie gar nicht wahrnehmen.
Wer sich verhört, reagiert auf das, was er verstanden hat und merkt vielleicht erst an der Reaktion des Gegenübers, dass etwas falsch war. Oder es fällt ihm selbst auf: Sobald das Gehirnareal, das für die Verarbeitung der akustischen Reize zuständig ist, meldet, dass ein Wort nicht in den Sinnzusammenhang passt. Dafür muss etwas, was sonst blitzschnell und automatisch abläuft, ins Bewusstsein: Ergibt das Gehörte einen Sinn? Passt es zu meinen Erfahrungen? Hat mein Gegenüber wirklich einen Kopf voller Suppe gemeint, so wie ich es verstanden habe? Oder hat er Topf gesagt? Dieser Abgleich dauert eine Weile – oft zu lang für den schnellen Austausch mit anderen. Und er erfordert viel Konzentration.
Warum schämen sich Menschen, die schlecht hören?
Solche Erlebnisse sind vielen Betroffenen peinlich. Sie zeigen in diesem Moment etwas von sich, das sie noch nicht mal gerne über sich selbst wissen wollen, weil es nicht ihrem Selbstbild entspricht. Dieser quälende Konflikt zwischen Selbstbild und Rückmeldung von anderen ist charakteristisch für ein mächtiges Gefühl: Scham.
Wer etwas nicht versteht, kriegt schnell den Stempel: schwer von Begriff. Viele Schwerhörige haben Angst, für dumm gehalten zu werden. Und diese Angst erzeugt Stress. Viele Menschen, die körperliche oder psychische Probleme haben, kennen diesen Stress, weil sie stigmatisiert werden. Menschen mit Behinderungen oder ganz generell Menschen, die sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, erleben vielfältige Diskriminierungen. Und das macht es ihnen schwer, am Alltag teilzunehmen, wie sie es wollen. Vielleicht ist das ein Grund, warum gebildete junge Menschen weniger häufig Hörprobleme angeben als Menschen mit niedrigem Bildungsniveau (Quelle: RKI).
Es kann also lange dauern, bis Betroffene akzeptieren, dass sie Hörprobleme haben. Manchmal schaffen sie es nie, etwa weil die Betroffenen immer schlechter hören und sich damit auf immer neue Einschränkungen einstellen müssen. Oder weil sie sich nicht von ihrem Umfeld unterstützt fühlen.
Oft folgt der Prozess den bekannten Trauerphasen, die die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross beschrieb: Leugnung, Ärger, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Es gibt eine Handreichung für Audiolog:innen (Fachleute fürs Hören), der Universität von Iowa (USA), die Menschen in diesem Akzeptanzprozess helfen soll. Häufig auftretende Abwehrrekationen bei Hörverlust sind darin den fünf Trauerphasen zugeordnet. So gehört zum Beispiel die Scham zur ersten Phase in der Liste, also zur Leugnung.
Menschen, die plötzlich mit Hörproblemen konfrontiert sind, versuchen oft, Situationen zu vermeiden, in denen sie darauf angewiesen sind, Sprache zu verstehen. So wie Sebastian Kneipenbesuche meidet, gehen andere vielleicht nicht mehr zum Sport im Verein oder sagen Einladungen zu Feiern ab.
Es ist sehr wichtig, zu akzeptieren und zu verstehen, was Hörprobleme sind und was wir dagegen tun können. Das zeigt auch diese Forschungsarbeit aus dem Jahr 2013. Darin stellen die Forscher:innen fest, dass es im Durchschnitt mehrere Jahre dauert, oft bis zu zehn, bis sich Schwerhörige um Unterstützung bemühen. Eine Zeitspanne, die Schaden anrichtet – und sogar das Risiko für Demenz erhöhen kann.
Hören ist Futter fürs Gehirn
Wer schlechter hört, kann plötzlich vieles nicht mehr erleben, das vorher normal war. Das ist für das Hörzentrum im Gehirn wie ein leerer Kühlschrank. Es wird nicht mehr wie gewohnt gefüttert und das hat Folgen. Oft kommt es zu einer Kettenreaktion. Zuerst fehlt das Futter fürs Hörzentrum, dann lässt die Kraft nach, sich stressigen Situationen auszusetzen, man wird unsicher und zieht sich zurück, wird anfälliger für Antriebslosigkeit und Stimmungstiefs. All das erhöht – in einem entsprechenden Alter – das Risiko für Demenz.
Auch deshalb ist es so wichtig, einen Ausgleich für das schlechtere Hören zu schaffen. Je früher, desto besser. Je schneller und besser man verhindert, dass eine Person Erfahrungen meidet und dem Gehirn Hörerfahrungen fehlen, desto weniger verkümmert das Sprachverständnis. Je besser es gelingt, die Fähigkeit zu erhalten, Sprache zu verstehen, desto länger können Schwerhörige aktiv am Alltag teilnehmen.
Oft tun sich Menschen, deren Schwerhörigkeit fortschreitet, übrigens ähnlich schwer damit, ihre Hörhilfen an ihr aktuelles Hörvermögen anpassen zu lassen, wie Menschen, die gerade erst frisch mit einer Schwerhörigkeit konfrontiert werden. Es kann nämlich eine ganze Weile dauern, bis das passende Gerät und die richtige Einstellung gefunden ist. Auch das ist also ein Prozess, für den es Geduld braucht. Und der stressig sein kann.
Hörgeräte sind übrigens nicht die einzige Möglichkeit, sich zu helfen, wenn das Sprachverständnis abnimmt. Audio-Anlagen mit tragbaren Mikrofonen können eine gute Ergänzung sein. Das Mikrofon kann man sich anstecken, auf den Tisch legen und in Richtung des gerade Sprechenden ausrichten, oder auch mit dem Fernseher verbinden. Es überträgt die Töne dann auf einen Kopfhörer oder auf das Hörgerät. Solche Anlagen erleichtern das Hören bei Hintergrundgeräuschen. Sie werden allerdings oft nicht von der Krankenkasse bezahlt. Für Hörgeräte gibt es immerhin einen Zuschuss. Wer an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit leidet, kann eine Hörprothese (Cochlea Implantate) bekommen.
Cocktailpartys sind für Schwerhörige die Hölle
Sebastian steht offenbar noch am Anfang des Akzeptanzprozesses. Er merkt, dass Gespräche in der Kneipe nicht mehr gut funktionieren. Wenn viele Menschen durcheinander reden und vielleicht noch Musik spielt, kann sein Gehör nicht mehr auswählen, auf welche Geräusche er sich konzentrieren soll. Alles wird zu einem schwer unterscheidbaren Geräuschebrei, es gelingt ihm nicht mehr, den Sinn des Gehörten zu erfassen. Doch dieses Problem allein ist noch kein sicheres Zeichen dafür, dass Sebastian wirklich weniger gut hört. Auch ein herkömmlicher Hörtest allein ist es nicht. Zu einer sicheren Diagnose gehören unterschiedliche Tests und körperliche Untersuchungen.
Was Sebastian beschreibt, passt zu einem Phänomen, das man Cocktailparty-Effekt nennt: Dabei ist das Vermögen, selektiv zu hören, reduziert. Das ist kein Problem des Hörvermögens, sondern ein Zeichen, dass das Gehirn nicht mehr so leicht zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen filtern kann. Genau diese Filter-Fähigkeit lässt im Laufe des Lebens nach und kann zum Beispiel auch bei Stress schlechter werden
Wenn Sebastian hofft, dass ihm ein Hörgerät in der Kneipe helfen kann, wird er also vielleicht enttäuscht sein. Denn Situationen, in denen viele Menschen durcheinander reden, sind für Hörgeräte-Träger:innen weiterhin besonders anstrengend. Zwar können die neuesten Modelle schon automatisch verschiedene Hörumgebungen unterscheiden (Straße, Café, zu Hause) und verstärken nicht mehr einfach jedes Geräusch gleich viel, wie es noch die älteren Geräte taten. Aber selektives Hören, das sich anfühlt, als ob man keine Hörprobleme hätte, schaffen die Geräte bisher nicht.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger.