Eine brennende Pusteblume vor unscharfem Hintergund.

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Psyche und Gesundheit

Seit ich die Liebe meide, bin ich nicht mehr depressiv

Ich bin Romantiker und Verlieben war für mich das schönste Gefühl. Doch vor zwei Jahren traf ich eine harte Entscheidung.

Profilbild von Martin Gommel
Reporter für psychische Gesundheit

Ich genieße es, Single zu sein. Ich muss mich nicht über Ausflugsziele am Wochenende streiten, kann Death Metal in voller Lautstärke hören und jeden Abend drei Stunden Call of Duty zocken. Und das seit über zwei Jahren.

Andere Typen würden sich jetzt Tinder installieren und mal wieder den Fuß ins Wasser halten. Was soll schon schiefgehen? Nun, einiges.

Vor zwei Jahren bemerkte ich etwas: Meine letzten sechs Beziehungen gingen alle innerhalb von drei Monaten in die Brüche. Und nach jeder zweiten landete ich in der Psychiatrie. Mein Therapeut sagte mir: „Martin, ich mache mir keine Sorgen, wenn du eine Beziehung beendest. Ich mache mir Sorgen, wenn du dich neu verliebst.“ Ich schrieb damals, hier bei Krautreporter, über meine Entscheidung, Single zu bleiben:

„Es ist ein Versuch. Vielleicht schaffe ich auch die nächsten Jahre. Vielleicht bleibe ich sogar für immer allein. Denn eines ist sicher: Ich war noch nie in der Psychiatrie und gleichzeitig Single. Noch nie suizidal und gleichzeitig Single. Noch nie Single und depressiv.“

Die Frage, die sich mir vor zwei Jahren stellte, war: Werden meine Depressionen ausbleiben, wenn ich ein Leben ohne Liebesbeziehung führe? Heute kenne ich die Antwort. Und weiß auch, wie schwer es ist, meine Entscheidung durchzuziehen.

Verlieben ist für mich potentiell lebensgefährlich

Zuerst ein kurzer Auffrischer für alle, die sich, oh Wunder, nicht mehr an jedes Detail meines zwei Jahre alten Artikels erinnern können: Meine Kindheit in den 1980ern und 90ern war der Horror, ich wurde von einer Erwachsenen täglich misshandelt, in der Schule gemobbt und stand im Alter von zwölf Jahren kurz davor, mir das Leben zu nehmen.

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Mein Therapeut und ich kamen zu dem Ergebnis: Meine Erfahrungen zerschossen erst mein Kinderherz und als Erwachsener mein Erleben emotionaler Nähe in Partnerschaften. Verlieben intensiviert meine Gefühle rasch ins Unermessliche, verursacht scharfe Eifersucht und Kränkbarkeit – und endet nach drei Monaten oft mit einer Krankenhauseinweisung. Tatü tata, die Liebe ist da.

Lange Zeit glaubte ich, nur die Eine finden zu müssen, mit der mir das nicht passiert. Vor zwei Jahren stellte ich fest, dass es diese Frau nicht gibt. Das liegt nicht an den Frauen, sondern an meiner ramponierten Psyche.

Seit meiner Entscheidung blieben die Depressionen aus

Mein Versuch hat funktioniert, eigentlich. Das Single-Leben hat dafür gesorgt, dass ich mich kein einziges Mal einweisen musste. Mal war ich traurig, klar, wütend auch. Depressiv? Never.

An dieser Stelle möchte ich festhalten, was für ein RIESENGEWINN das für mich ist. Depressionen haben mir mehr als einmal den Garaus gemacht. In besonders heftigen Momenten stand ich kurz davor, nicht nur der Liebe, sondern dem schmerzenden Leben adieu zu sagen. Fünfmal musste ich mehrere Wochen in die Psychiatrie.

Nicht mehr depressiv zu sein, ist wie Aufatmen für meine Seele. Wenn du es gewohnt bist, in regelmäßigen Abständen wochenlang Schläge in die Tiefen deines Fühlens und Denkens zu bekommen und diese ausbleiben, ist das, ich weiß, es klingt kitschig, wie ein Wunder.

Auch nicht schlecht: Ich spare die Kosten für die Psychotherapie. Mein Therapeut praktiziert in Wien, und die Krankenkasse kommt dafür nicht auf. Verliebe ich mich, rufe ich ihn bis zu dreimal pro Woche an. Wir diskutieren dann, wie ich meine Depressionssymptome bewältige. Außerhalb einer Beziehung? Sprechen wir monatelang kaum miteinander. Läuft bei mir. Aber was, wenn ich mich trotzdem verliebe?

Das Single-Leben hat Vorzüge, doch manchmal überkommt mich die Einsamkeit

Leider bleibt bei aller neu gewonnenen Zufriedenheit ein zuweilen nagendes Gefühl der Einsamkeit. Wochenlang lässt es mich in Ruhe, um mich dann an Tagen wie heute beim Arbeiten zu überfallen. Was meine ich damit?

Die Sehnsucht, mal wieder in den Arm genommen zu werden. Meine Schultern wollen Wärme, meine Arme kuscheln, meine Hände streicheln und sich streicheln lassen. An manchen Tagen fehlt mir Sex, und damit meine ich nicht nur das Körperliche, das Ficken, sondern sich in die Augen sehend, alles riechend, einander spürend nahekommen. Ineinander verglühen, sich im anderen vergessen, sich morgens mit „Hey, na“ wecken.

Meine Güte, wie ich das vermisse!

Diese Einsamkeit wird mich wohl niemals loslassen. Ich kann noch so viel Zocken, Metal hören und ins Kino gehen, das ersetzt nicht die nährende Sicherheit und Wohlfühlatmosphäre einer Liebesbeziehung. Ich bin wie ein Gärtner, der seine heißgeliebten Lilien nicht pflanzt, weil er den Augenblick des Verwelkens nicht erträgt. Er kann noch so viele Dahlien und Vergissmeinnicht pflanzen, er wird stets daran erinnert, was fehlt.

Pokerface kann ich

Vor ein paar Monaten lernte ich eine Frau kennen und verliebte mich prompt. Wobei verliebt zu groß klingt. Zuerst wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Das war nicht geplant! 18 Monate lang hatte ich mich darauf verlassen, nichts anbrennen zu lassen, keinen Flirt zu erwidern, den ganzen Romantikkatalog zu ignorieren wie ein Rettungswagen rote Ampeln.

Und dann musste ich eine Vollbremsung hinlegen. Wir verstanden uns leider fantastisch. Sie stellte unfassbar kluge, tiefgründige Fragen, wodurch unsere Gespräche im Nu vergingen. Ihr Kleidungsstil ähnelte meinem, und ihre Art, mich anzusehen, fühlte sich an wie ein heißer Wasserfall nach einer durchfrorenen Nacht. Aber auch wie das Sich-Ertappt-Fühlen mit 15, als ich drei Schachteln Marlboro im Schlecker mitgehen ließ und mich der Ladendetektiv bemerkte. Verdammt, was mache ich hier?

Sollte ich eine Ausnahme machen? War sie vielleicht die, mit der es doch klappen würde – oder die Garantie für meine nächste Einweisung? Ich hatte Schiss. „Johannes, ich muss dringend mit dir sprechen“, tippte ich bei Whatsapp.

24 Stunden später beschrieb ich meinem Therapeuten am Telefon ungebremst von meiner Bredouille. Johannes ließ sich von meiner Aufregung nicht beeindrucken. „Nur weil du Angst hast, musst du einem Date nicht ausweichen“, meinte er. Ich könne mich ruhig mit ihr treffen. „Wenn ihr wirklich zusammenkommt und du merkst, dass dir das nicht guttut, kannst du immer noch aussteigen“, sagte er. Also ließ ich es darauf ankommen.

Inkognitoverliebt traf ich mich mit ihr, denn sie wusste nichts von meinem Begehren. Ich bin gut darin, mir nichts anmerken zu lassen. Wir tratschten und kicherten, nippten an der Zitronenlimo in der Mittagssonne. Wie bei einer Fotografie hätte ich an dieser Stelle gerne den Auslöser gedrückt, um diese viel zu schnell dahinrauschenden Sekunden mit ihr einzufangen, egal, wie dieser Tag enden würde.

Dann sah sie auf die Uhr. Einmal. Zweimal.

Sie würde bald mit ihrem Freund zusammenziehen, sagte sie. Ein kleiner Stich, zwei Finger breit unter meiner Brust, riss mich aus meiner Träumerei. Dieses Gefühl hatte ich fast vergessen. Ich nickte. „Ach! Niiiiice. Wohin denn?“ Pokerface. Kann ich. Wir tratschten weiter, kicherten wie immer, doch die Limo schmeckte nicht mehr ganz so süß, die Mittagssonne verschwand hinter den Dächern. Mir wurde etwas kalt und ich zog, aufmerksam kommentierend, „Schön, schön!“, meine Jacke zu.

Kaum hatten wir uns herzlich, aber nüchtern voneinander verabschiedet, atmete ich die Erleichterung des vermiedenen Dramas. War ich traurig? Nein. Stattdessen war ich ihr dankbar, denn sie selbst hatte mir – mit einem unwissenden, aber zuckerschönen Lächeln – den ganzen Psychorotz erspart, möglicherweise sogar die Klinik.

Meine vermutete Belastungsstörung ist nicht mehr relevant

Als ich vor zwei Jahren mit meinem Therapeuten darüber nachdachte, warum mich Verlieben so abfuckt, meinte er: „Es kann sein, dass du zusätzlich zu deiner veranlagten Neigung zur Depression eine Posttraumatische Belastungsstörung hast. […] Deine Symptome und deine Geschichte deuten darauf hin, dass du als Kind von einer wichtigen Person so fertig gemacht wurdest, dass Liebesbeziehungen genau dieses Trauma triggern.“

Eigentlich hatte ich vor, in der Zwischenzeit einen Termin bei einem Diagnostiker zu machen. Festzustellen, woher dieses emotionale Sodbrennen kommt und womöglich einen medizinischen Namen dafür zu finden.

Aber. Ich bin zufriedener Single und habe ehrlich gesagt keine Lust, mir noch eine Diagnose bescheinigen zu lassen. Was soll denn danach kommen? Eine intensivere Therapie-Fortsetzung meiner elendig langen Psychiatriegeschichte? Ich verzichte.

Momentan freunde ich mich mit dem Gedanken an, Single zu bleiben. Für immer. Ob ich das durchhalte? Weiß ich nicht. Langsam stellt sich ein Gewöhnungseffekt ein, mein Sololeben wird der neue Standard. Ein bisschen farblos, wenn man mich fragt, dafür nicht ganz so blau wie die Innenwände der Nervenklinik.

Meine Sehnsucht nach buntem Sozialleben kann ich zu einem Teil kompensieren. Regelmäßig treffe ich Freund:innen auf einen platonischen Kaffee. Telefoniere stundenlang mit Daniel, wir machten vor 20 Jahren gemeinsam die Erzieherausbildung, vergangene Woche war ich sein Trauzeuge. Flaniere zum Arbeiten in die Krautreporter-Redaktion. Genieße das Plaudern zwischendurch. Natürlich ersetzt das keine Liebesbeziehung. Aber warum eigentlich nicht?

Meine Kollegin Esther Göbel schrieb mal: „Die Freundschaft als gemeinschaftliche Lebensform, sie wird unterschätzt. Dabei liegt in ihr so viel Potential. Ist diese Form der zwischenmenschlichen Beziehung doch die großzügigere und genügsamere Variante von Liebe. […] Eine über Jahre gewachsene Freundschaft ist im Zweifel beständiger als jede Beziehung.“

Selflove, Selfcare, Selfnerv

Wenn ich abends müde vom Arbeitstag durch Instagram klicke, nerven mich neunmalkluge Life-Coaches, die in mit explodierender Hans-Zimmer-Filmmusik überladenen Videos den „smarten“ Lifehack präsentieren, man könne nur dann eine gute Beziehung führen, wenn man (tatsächlich!) mit sich selbst eine hervorragende Beziehung führe. „Du kannst nur andere lieben, wenn du dich selbst liebst“, sagen sie, als sei das der Weisheit letzter Schluss.

Was! Für! Ein! Nonsens! Diese Ratschläge mögen für jene gelten, die auf Wolke sieben aufwuchsen. Denen Mutti morgens zum Pausenbrot ein „Hab dich ganz doll lieb, Hasimausi!“ hinterherrief, sie Punkt 13 Uhr nach dem Gong mit Mercedes, Sonnenbrille im Haar und einem breiten „Hiiiiiiii!“ von der Schule abholte, um sie nach dem Mittagessen der Musikschule („Er spielt schon Bach!“) zu servieren. Aber für Leute wie mich, die von Grundschule bis Führerschein ausgelacht, verdroschen und beschämt das Leben nur von unten gesehen haben? Schön wärs.

Ich will mich nicht zurechtlieben, damit es mit den Frauen klappt. Denn selbst wenn es mir gelänge, morgens, abends und zwischendurch den Spiegel mit „I love you“ anzuhauchen und ein Herz zu malen, wäre das nicht authentisch. Es wäre dem Zweck versprochen, mich wieder beziehungsfähig zu machen. Es ist mir lieber, das Unakzeptable zu akzeptieren, als über den Umweg eines Ideals zu versuchen, das Unmögliche möglich zu biegen.

Ich mache mit der Liebe Schluss

Eigentlich glaube ich, dass es so etwas wie die eine Liebe des Lebens gibt. Eigentlich bin ich Romantiker, der die Verbindung zweier Seelen herbeisehnt. Und eigentlich ist Verlieben das Schönste, was es in meinem Leben gibt.

Aber eigentlich kann das alles weg. Für mich ist es besser so. Ich kann ein zufriedenes Leben führen ohne Beziehung.

In den vergangenen zwei Jahren ist in mir etwas gestorben: die Idealisierung der Liebe. In derselben Zeit entstand die Hoffnung in mir, nie wieder depressiv zu werden. Und diese Hoffnung? Lebt.


Redaktion: Judka Strittmatter und Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Seit ich die Liebe meide, bin ich nicht mehr depressiv

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