Wenn Lisas Handywecker morgens klingelt, kann sie ihre Augen kaum aufhalten. Würde sie ohne jede Hilfe versuchen aufzustehen – sie würde scheitern. Deshalb nimmt sie ihr Handy zur Hand und beginnt zu scrollen. „Sonst schlafe ich einfach wieder ein“, sagt die 25-Jährige. Also sichtet sie die neuesten Bilder und Videos. Christian Lindner bei einer Rede im Bundestag. Weiter. Ein junger Mann, der über ein Seil stolpert. Lustig, weiter. Oh, Jenny ist schon wieder im Urlaub. Weiter.
Lisas Tage enden, wie sie starten. Um sich einen Wecker zu stellen, schnappt sie sich meistens kurz vorm Einschlafen ihr Handy. Anstatt es auszumachen, öffnet sie aber doch nochmal Instagram. Eigentlich kann Lisa die App nach 23 Uhr nicht mehr öffnen, das hat sie auf ihrem Handy so eingestellt. Wäre da nicht die Möglichkeit, das Zeitlimit für den restlichen Tag mit nur einem Klick zu umgehen.
Alle zwölf Minuten schauen Erwachsene durchschnittlich aufs Handy, das ergab eine Studie der Universität Bonn. Jedes zweite Mal wird dabei nicht nur der Sperrbildschirm gecheckt, sondern auch das Handy entsperrt und verwendet. So kommen Erwachsene durchschnittlich auf eine tägliche Nutzungsdauer von über 160 Minuten, das sind mehr als zweieinhalb Stunden.
„In letzter Zeit erwische ich mich immer häufiger, wie ich gedankenverloren zu meinem Handy greife und wie ferngesteuert Instagram öffne“, sagt Lisa. Erst nach drei, vier Posts realisiere die Lehramtsstudentin, was sie gerade macht. Und wenn sie erstmal in den endlosen Pool aus Fotos und Videos eingetaucht ist? Findet sie den Ausgang nicht. „Noch drei“, sagt sie sich. Aus drei werden zu viele und schon ist eine Stunde um. „Dieser Kontrollverlust macht mir Angst“, sagt Lisa.
Warum fällt es uns so schwer, von Instagram und Co. loszukommen? Und wie kann Lisa es endlich schaffen, weniger und bewusster ihr Handy zu nutzen? Das habe ich unter anderem einen Suchttherapeuten und die KR-Community gefragt. Ein Tipp: eine plüschige Handyhülle mit einem Schneemann darauf.
Offiziell gibt es die Smartphone-Sucht gar nicht
Smartphone- oder Internetsucht tauchen in den international gültigen Diagnosekriterien wie dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) nicht auf. Als ich Lisa frage, ob sie süchtig ist, muss sie aber nicht lange überlegen: Kontrollverlust, der Drang, wieder am Handy zu sein, wenn sie es wenige Stunden nicht konnte und eine tägliche Bildschirmzeit von über drei Stunden – für Lisa fühlt sich das wie eine Sucht an.
Christian Montag, Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm, erklärt: „An der reinen Nutzungsdauer lässt sich eine Abhängigkeit nicht festmachen.“ Viel eher gehe es darum, wie das Smartphone genutzt wird.
Beispielsweise kann eine exzessive Handynutzung vorliegen, wenn die eigenen Gedanken ständig darum kreisen, was gerade auf den sozialen Netzwerken passiert, auch wenn man gar nicht online ist. Auch, wer merkt, dass die Bildschirmzeit kontinuierlich zunimmt und die eigene Produktivität darunter leidet, sollte sich in einer Suchtberatung Hilfe holen.
Wie viele Erwachsene davon betroffen sind, wird bislang nicht statistisch-repräsentativ erfasst. In der KR-Community jedenfalls geht es nicht nur Lisa so. Auch Sandra schreibt: „Wenn es schlecht läuft, scrolle ich über mehrere Stunden durch die Social-Media-Apps. Ich bin dann geistig woanders und an mein Handy gefesselt, mein Blick auf den Bildschirm ist wie festgeklebt.“ Aber wie ziehen uns die sozialen Medien überhaupt in ihren Bann?
Das sagt der Hirnforscher
Die Methoden der Tech-Konzerne sind ausgefuchst, erklärt mir der Psychologe Montag. „Sie haben nicht nur Produkte auf den Markt gebracht, die unsere Bedürfnisse nach sozialem Kontakt und Unterhaltung befriedigen.“ Weil Unternehmen wie Meta (steckt hinter Facebook) mit Nutzer:innendaten über personalisierte Werbung Geld verdienen, haben sie ihre Apps so designt, dass wir möglichst oft und lange auf ihnen verweilen.
„Die Tech-Konzerne greifen dafür auf psychologische Mechanismen zurück. Dazu gehört es, mit Push-Nachrichten die Angst auszulösen, etwas zu verpassen oder aber auch durch Likes das Belohnungssystem im Gehirn zu aktivieren“, erklärt Montag. Vereinfacht gesagt funktioniert das so: Alles, was uns schon einmal ein gutes Gefühl bereitet hat, wollen wir wiederholen. Wenn wir auf Instagram ein süßes Katzenvideo sehen, schüttet das Gehirn Botenstoffe aus – für einen kurzen Moment fühlen wir uns gut. „Dann wollen wir mehr davon, scrollen weiter auf der Suche nach der nächsten Belohnung“, sagt Montag.
Das nächste Glücksgefühl wartet beim nächsten witzigen Post, einer überraschenden Direkt-Nachricht oder neuen Likes. Damit aber nicht genug: Auf diesen Apps kann man endlos nach unten scrollen, gleichzeitig warten oben neue Bilder oder Videos. Die Suche nach der nächsten Dopamin-Ausschüttung ist endlos. Bei Lisa dauert sie manchmal stundenlang.
Das sagt der Suchttherapeut
„Bei Kindern ist mittlerweile erforscht, dass ihr Dopamin schon in die Höhe schießt, sobald sie ihr Handy nur sehen“, erklärt der Suchttherapeut Niels Pruin. Bei Erwachsenen, die viel Zeit an ihren Smartphones verbringen, erwartet er ähnliche Effekte. Das Handy dann nicht zu nehmen, zu entsperren und sich nicht in den endlosen Pool aus Posts zu schmeißen, ist nicht leicht.
Was hilft dabei? Ein ganz einfaches Mittel kann eine peinliche Handyhülle sein: „Wenn ich mir überlege, an der Supermarktkasse mein Handy mit einer plüschigen Hülle von Olaf, dem Schneemann aus dem Film ‚Frozen‘, zücken zu müssen, lasse ich das vielleicht eher bleiben“, sagt Pruin. Und auch, wenn man ein skurriles oder hässliches Hintergrundbild einstellt, stolpere man in seinen eingeübten Verhaltensmustern darüber. „Dadurch bekommt das Gehirn die Chance, die Routine zu hinterfragen und sich bewusst dagegen zu entscheiden“, sagt der Suchttherapeut.
Lisa muss sich morgens und abends im Bett aber vor niemandem für eine plüschige Hülle schämen. Was kann ihr also helfen? Pruin ist überzeugt: „Wer weniger an seinem Handy hängen möchte, muss die Automatismen durchbrechen.“ Ziel aller Tricks sei es, die folgende Frage zu einer bewussten Entscheidung zu machen: „Gehe ich jetzt ans Handy oder brauche ich es eigentlich gar nicht?“ „Das gelingt etwa, indem man sich einen langen Code überlegt, mit dem das Handy entsperrt werden muss. Den immer wieder einzugeben, erfordert Konzentration und ist nervig.“ Die Folge: Man überlegt sich dreimal, ob man wirklich ans Handy muss.
Dabei zähle jede Zehntel-Sekunde. Deswegen helfe es auch, das Handy nicht immer in derselben Tasche oder auf dem Nachttisch zu haben, sondern zum Beispiel auch mal im Rucksack ganz unten zu verstauen oder auf den Schreibtisch zu legen. Und wenn das Smartphone unbedingt in der Nähe oder sogar auf laut gestellt sein muss? „Dann ist es eine gute Übung, nicht direkt auf das Display zu schauen, wenn man eine Nachricht bekommen hat – und damit dem Impuls nach mehr Dopamin zu widerstehen.“
Das sagt der Computerwissenschaftler
Der amerikanische Autor und Computerwissenschaftler Cal Newport hat einen radikaleren Vorschlag: digitalen Minimalismus. Wer beim Wort „Minimalismus“ an karge Zimmer denkt, liegt gar nicht so falsch. Denn das Prinzip ist gleich: Was ich nicht unbedingt brauche, kommt weg und verschwindet, im wahrsten Sinne des Wortes, von der Bildschirmfläche. Nach Newport sollen wir dafür die digitalen Tools und unsere Verhaltensweisen einer neuen Kosten-Nutzen-Rechnung unterziehen.
Die Frage lautet: Ist der Gewinn der Technologien im Verhältnis zur investierten Lebenszeit hoch genug?
Um das mit klarem Verstand abwägen zu können, muss man sich aber erstmal von der ominösen FOMO befreien, der Angst, etwas zu verpassen (Fear Of Missing Out). Newport verordnet einen kalten Entzug: 30 Tage Pause von allen „optionalen Technologien“, also allen Tools, auf die man einen Monat verzichten kann, ohne im Job gekündigt zu werden oder sich andere Probleme einzuheimsen.
Und dann wird entrümpelt. Jede Technologie, die man in seinem Leben behalten will, muss drei Kriterien erfüllen, sonst fliegt sie vom Handy. Das Tool muss:
- einem Zweck dienen, der dir im Alltag wirklich einen Mehrwert schenkt: etwa schnell und unkompliziert in einer App nachgucken, wann die nächste Bahn kommt, wenn du viel unterwegs bist.
- die effizienteste Methode sein, die diesen Zweck erfüllt: Wenn du zum Beispiel gerne Backvideos für neue Rezepte schaust, ist es wahrscheinlich sinnvoller, sich ein Backbuch zu kaufen, statt zwei Stunden am Tag Tiktok-Videos zu schauen.
- in der Nutzung von dir begrenzt werden können: Du musst festlegen, wann und wie du es nutzt. Wenn du zum Beispiel die Videos eines bestimmten Youtube-Kanals gerne guckst, kannst du ein Lesezeichen in deinem Browser setzen. So kommst du direkt auf den Kanal und vermeidest, dass du dich in dem Feed mit den für dich vorgeschlagenen Videos verirrst.
Meine Kollegin Theresa Bäuerlein hat in diesem Artikel ausführlich über die Idee des digitalen Minimalismus berichtet.
Das sagt die KR-Community
Ganz so radikal wie Newport greift KR-Mitglied Robert nicht durch. Ihm hilft es schon, gar nicht erst viele Push-Nachrichten auf seinen Sperrbildschirm zu bekommen. Für die meisten Apps hat er sie deaktiviert und wenn er sich konzentrieren muss, nutzt er die Funktion „Fokus“ auf dem I-Phone, die vorübergehend alle Benachrichtigungen und sogar einzelne Apps ausblendet.
Auch Frederik setzt auf technische Hilfsmittel: „Öffne ich Instagram, öffnet sich automatisch die App ‚OneSec‘ und fragt mich, ob ich wirklich Instagram öffnen möchte.“ Wenn Frederik diese Frage bejaht, muss er zwei Atemzüge lang warten. Wer möchte, kann auch einstellen, dass die Frontkamera währenddessen angeht oder man das Handy dreimal rotieren muss. „Das ist bei mir sehr effektiv, weil es so affig aussieht“, schreibt KR-Mitglied Dominik.
Ganz weg vom Smartphone, das ist, was der 17-jährigen Alia am meisten hilft. Was sie seit fünf Jahren versucht, gelingt ihr nun endlich: ein bewusster Umgang mit Instagram. Denn mittlerweile besitzt Alia gar kein internetfähiges Handy mehr. Instagram öffnet sie nur noch über ihren Computer, auf dem sie sich extra einloggen muss. „Dieser Mehraufwand hält mich tatsächlich davon ab, vermehrt Instagram zu nutzen und daran zu denken“, sagt Alia. Und sie hat sich zwei weitere Regeln gesetzt: Die 17-Jährige folgt nur noch Accounts von Leuten, die sie persönlich kennt und bleibt nur noch auf der Startseite, um sich nicht im endlosen Pool aus Videos zu verheddern.
Daniel musste feststellen, dass er es nicht schafft, Apps wie Instagram nur für eine halbe Stunde zu nutzen – immer wurden es zwei bis drei Stunden. Kurzerhand löschte er alle sozialen Medien. Und er schreibt: „Ein Leben ohne diese Apps ist möglich und es ist ein gutes.“
Du hast das Gefühl, zu viel am Handy zu hängen und trotz der Tipps und Tricks nicht davon wegzukommen? Dann kannst du dir in einer Suchtberatungsstelle Hilfe holen. Hier sind die Anlaufstellen aufgelistet.
Wenn du dir nicht sicher bist, ob dein Nutzungsverhalten am Handy noch im grünen Bereich ist, kannst du es mit dieser App testen, die Niels Pruin und Christian Montag entwickelt haben.
Danke an die KR-Leser:innen Lisa, Frederik, Alia, Robert, Dominik, Sandra, Simon, Daniel, Christina und Miriam für eure Tipps.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger