Ganz genau weiß man es nicht, aber zwischen fünf und 15 Prozent der Erwachsenen hören im Laufe ihres Lebens Geräusche, die es de facto nicht gibt. Besonders Menschen über 50 Jahre sind betroffen, aber auch jüngere Menschen können plötzlich Pfeifen, Piepen, Brummen, Summen oder Klicken hören – oft, aber nicht immer, nachdem es zu laut war, zum Beispiel nach einem Konzert. Manchmal können Ärzt:innen bei der Untersuchung ihrer Patient:innen diese subjektiv empfundenen Ohrgeräusche mit speziellen Geräten hörbar machen, was ich ziemlich verblüffend finde.
Wovon ich spreche? Genau, von Tinnitus. Und der ist streng genommen gar keine Krankheit, sondern gilt als Symptom. Doch welches Grundproblem er anzeigt, ist nicht immer leicht herauszubekommen. Für manche Menschen scheint es, als ob die Geräusche aus der Umgebung stammen, für andere, als ob sie direkt aus dem Kopf kommen. In 80 bis 90 Prozent der Fälle verschwinden die Ohrgeräusche nach kurzer Zeit wieder. Meistens so schnell, wie sie gekommen sind. Aber bei einem Teil der Betroffenen werden sie chronisch. Das kann zu Dauerstress, Schlafstörungen und Depressionen führen. Manche Menschen sind durch diese Belastungen sogar so sehr beeinträchtigt, dass sie nicht mehr arbeiten können.
Ich hoffe, dass es bei KR-Leser Bernd nicht ständig piept. Er schreibt: Bitte einmal den aktuellen Stand der Forschung und Heilmöglichkeiten zu Tinnitus erklären. Das mache ich natürlich gerne. Ich habe es nämlich auch schon gehört, dieses Pfeifen, das aus heiterem Himmel kommt. Zum Glück nur ein paar Sekunden lang.
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Der Tinnitus ist wie ein Chamäleon
Tinnitus ist nicht gleich Tinnitus. Manche Menschen berichten von einem dauerhaften, relativ gleichbleibenden Ton. Doch die meisten hören unterschiedliche Geräusche zu unterschiedlichen Zeiten, mal lauter, mal leiser, mit längeren oder kürzeren Pausen, im Rhythmus des Herzschlags, in einem Ohr oder in beiden. Manche Menschen haben noch andere Symptome. Das kann ein Druckgefühl im Ohr sein oder ein Trommelfellschaden. Die meisten Betroffenen erleben zusätzlich eine Hörminderung, können das aber nicht immer selbst feststellen. Bei den allermeisten verschwindet der Tinnitus nach kurzer Zeit wieder. Bei vielen schon nach einigen Sekunden. Hält der Tinnitus jedoch länger als drei Monate an, spricht man von einem chronischen Tinnitus.
Wie ein Tinnitus verläuft, lässt sich nicht genau vorhersagen. Sind sie erstmal da, können die Ohrgeräusche die Lebensqualität erheblich einschränken oder den Alltag nur wenig stören – das Spektrum ist groß. Wie störend ein Tinnitus ist, hängt dabei nicht nur von Dauer, Lautstärke und Qualität der Geräusche ab, sondern auch vom subjektiven Empfinden und den Bewältigungsstrategien des Einzelnen.
Einem Tinnitus ist man nicht hilflos ausgeliefert, aber die Behandlung kann sehr schwierig sein. Wie schwierig, hängt von den Ursachen ab beziehungsweise davon, ob man sie identifizieren kann.
Woher kommen die Geräusche?
Die häufigste Ursache für einen Tinnitus sind zu laute Geräusche. Lärm kann die Sinneszellen der Hörschnecke im Innenohr schädigen. Menschen, die häufig Lärm ausgesetzt sind, haben ein höheres Risiko, zum Beispiel Bauarbeiter oder auch Menschen, die oft laute Musik hören. Es kann aber auch nach einem Knalltrauma zum Tinnitus kommen. Das passiert zum Beispiel, wenn man einen Schuss oder eine Explosion aus nächster Nähe mitbekommt.
Andere Ursachen können Erkrankungen sein, wie zum Beispiel eine chronische Mittelohrentzündung, Knochenerkrankungen im Mittel- und Innenohr, Probleme mit den Kiefermuskeln und -gelenken, Bluthochdruck oder die sogenannte Meniére-Krankheit (eine Erkrankung des Innenohrs, die durch Tinnitus, Schwindel und Hörverlust charakterisiert ist). Von manchen Medikamenten weiß man, dass sie das Risiko für Ohrgeräusche erhöhen können, wie zum Beispiel das Schmerzmittel ASS sowie einige Antibiotika, Krebs- und Malariamittel. Stress steht auch im Verdacht, Ohrgeräusche zu begünstigen. Manchmal kann aber auch etwas Harmloses die Ursache sein, wie zum Beispiel die Verstopfung des Gehörgangs mit Ohrenschmalz.
Es ist derzeit noch unklar, warum durch Lärm geschädigte Sinneszellen im Innenohr zu Ohrgeräuschen führen können. Eine gängige Theorie: Da zerstörte oder beschädigte Sinneszellen keine Signale mehr ans Gehirn weiterleiten, ersetzt das Gehirn die „Lücke“. Die Nervenzellen im Hörzentrum werden aktiver und melden Phantomgeräusche. Ähnlich wie Schmerzen, die im fehlenden Arm- oder Beinabschnitt nach einer Amputation auftreten können, können nach einer Hörschädigung Geräusche Im Ohr entstehen.
Wie werden Ohrgeräusche behandelt?
Ist klar, woher der Tinnitus kommt, hängt die Prognose davon ab, wie gut sich diese Ursache behandeln lässt. Die Erfahrung zeigt: Ist eine gezielte Behandlung der Ursache möglich, verschwindet der Tinnitus in der Regel wieder. Bei Muskelverspannungen im Kopf-Schulter-Nackenbereich hilft zum Beispiel eine Analyse von Bewegungsmustern, Schlafhaltung und eine darauf abgestimmte Physiotherapie. Bei Bluthochdruck als Ursache hilft eine Normalisierung des Blutdrucks.
Je unklarer die Ursache ist, desto schwieriger wird es allerdings. Wenn am Ende zum Beispiel nur noch chronischer Stress als mögliche Ursache übrig bleibt, helfen nicht unbedingt die gängigen Entspannungstechniken allein. Trotzdem sind sie für viele Tinnitus-Patient:innen ein wichtiger Baustein im Umgang mit den Ohrgeräuschen. Denn ständiges Piepen, Brummen und Knacken erzeugt auch jede Menge Stress, besonders, wenn es den Schlaf stört.
Nachgewiesen ist die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie bei chronischem Tinnitus. Sie wird von den Krankenkassen erstattet, wenn du stark unter den Ohrgeräuschen leidest oder weitere Erkrankungen hast, wie zum Beispiel eine Depression. Die Ohrgeräusche verschwinden dadurch zwar nicht, aber die Verhaltenstherapie hilft dir, besser mit dem Tinnitus umzugehen. Die Behandlung kann sich auch positiv auf die Folgen auswirken, zum Beispiel auf Schlafstörungen, Stressgefühle oder Depressionen.
Vielen Tinnitus-Patient:innen hilft auch ein Hörgerät. Denn bei den meisten ist die Hörleistung gemindert. Wenn das Hören und Verstehen wieder leichter gelingt, kann sich das positiv auf den Tinnitus auswirken. Zum Beispiel dadurch, dass die Ohrgeräusche durch besseres Hören der Außengeräusche stärker überdeckt werden.
Was tun mit Empfehlungen aus dem Internet?
Für alle anderen Behandlungsempfehlungen, die bei einem chronischen Tinnitus unklarer Ursache kursieren, gilt leider: Die wissenschaftlichen Belege für eine Wirksamkeit fehlen. Seien es Infusionen mit Hydroxyethylstärke (HES), Medikamente wie Kortison, Antidepressiva oder Carbamazepin, Nahrungsergänzungsmittel oder pflanzliche Präparate wie Ginkgo, sei es Akupunktur, Hypnose, elektromagnetische Stimulation oder Sauerstofftherapie: Nichts davon hat einen Wirksamkeitsnachweis. Wenn solche Wirksamkeitsnachweise fehlen, hat das aber oft auch mit der Studienlage zu tun.
Viele Fachleute empfehlen aufgrund ihrer Erfahrungen kleine Geräte, ähnlich wie ein Hörgerät, die ein Rauschen erzeugen. Dabei greifen zwei unterschiedliche Prinzipien: Beim sogenannten Maskieren soll der Tinnitus überdeckt werden, mithilfe des Tinnitus-Noiser soll er in andere Geräusche eingebettet werden. Die Analyse der Studienlage zu einem Maskierungsverfahren ergab jedoch, dass die Daten den versprochenen Effekt nicht bestätigen. Eine allgemeingültige Aussage zum Effekt ist damit nicht möglich. Trotzdem können solche Verfahren von Einzelnen als hilfreich empfunden werden.
Du kennst deinen Tinnitus am besten
Wenn du einen chronischen Tinnitus hast, bist du sozusagen Expert:in für dein Ohrgeräusch. Du hast vielleicht schon herausgefunden, wann es besser und wann schlechter wird, welche Einflüsse das Geräusch verändern und unter welchen Bedingungen es dich weniger stark stört. Das kann sowohl bei der Behandlung als auch beim Umgang mit dem Tinnitus entscheidend sein. Auf dieser Webseite des britischen Nationalen Gesundheitsdienstes (in Englisch) findest du hilfreiche Tipps zum Leben mit Ohrgeräuschen. Und auf dieser Webseite des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) findest du ausführlichere Informationen zu wirksamen und zu nicht belegten Behandlungen.
Wenn du Behandlungen ausprobieren willst, für die Wirksamkeitsnachweise fehlen, kannst du dir mit dieser allgemeinen Entscheidungshilfe darüber klar werden, ob sie zu deinen Bedürfnissen passen. Sie hilft dir auch, die nächsten Schritte zu planen und nicht zuletzt dir über mögliche Nebenwirkungen der Behandlungen Gedanken zu machen und ob du die riskieren willst.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert