Hinweis: Dieser Artikel enthält Schilderungen von Suizid.
Bevor ich in die Klinik ging, machte ich eine Rundfahrt, um mich von meinen Verwandten zu verabschieden. Bei meiner Großmutter verbrachte ich ein ganzes Wochenende. Sie nahm mich zur Seite und fragte: „Möchtest du wirklich in die Klinik?“ Sie wollte wissen, ob mir das nicht peinlich sei. Und ob ich mir wirklich sicher sei, depressiv zu sein.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Also sagte ich nichts. Ich musste nur irgendwie das Wochenende überstehen. Meine Oma wusste nicht, wie ernst die Lage wirklich war. Wie lange ich schon mit mir kämpfe.
Als ich 13 war, hat meine Mutter beschlossen, sich von meinem Vater zu trennen. Sie erzählte mir davon, aber ich durfte meinem Vater nichts sagen. Sie wollte erst eine Wohnung oder ein Haus finden, in das sie ziehen konnte. Zwei oder drei Monate ging das so. Ich musste meinen Vater zwar nicht anlügen, aber ich musste ihm etwas verheimlichen. Das waren furchtbare Monate.
Ich wusste nicht, mit wem ich darüber reden sollte. Ich hatte Angst, dass meine Freunde das ausplaudern würden, wenn sie meinen Vater sehen. Und meine Mutter war ja selbst belastet genug. Also sprach ich mit niemandem. Ich glaube heute, damit fing alles an: meine Angst, meine Sozialphobie, meine Depression.
Im Supermarkt bekam ich plötzlich eine Panikattacke
Ich habe versucht, mir nicht die Schuld an der Trennung meiner Eltern zu geben. Ich kenne genug Leute, deren Eltern sich getrennt haben. Das ist heute nichts Besonderes mehr. Eigentlich. Trotzdem habe ich mich dafür geschämt, und damit war ich allein. Irgendwann wurde aus der Scham Angst: Ich traute mich kaum noch rauszugehen. Im Unterricht habe ich mich immer weniger gemeldet. In der Schule bin ich regelrecht in mich zusammengesackt, damit ich nicht auffalle.
Als ich 14 war, bekam ich einmal im Supermarkt richtig Herzrasen. Ich war wie in einem Tunnel und es fiel mir immer schwerer zu atmen. Ich sollte eigentlich nur Kaffee für meine Mutter kaufen, von dieser bestimmten Sorte, die sie so gerne trinkt. Aber ich fand ihn nicht. Einen Mitarbeiter um Hilfe zu bitten, kam mir plötzlich wie eine Aufgabe vor, die ich niemals bestehen würde. Heute weiß ich: Das war eine Panikattacke. Mein Therapeut sagt, ich hätte eine Sozialphobie entwickelt.
An dem Abend schrieb ich auf, was im Supermarkt passiert ist, wie verängstigt ich war. Und ich zeigte den Text meiner Mutter. Sie war verständnisvoll. Sie sagte, ich könne zu einer Life-Coachin gehen. Das war eine junge Frau, die meine Mutter selbst bezahlte. So konnte sie verhindern, dass mein Vater über die Krankenkassenabrechnung etwas mitbekommt. Ich hatte Angst, mit ihm darüber zu reden. Ich habe nicht daran geglaubt, dass er mich verstehen würde. Wenn ich mit Problemen zu ihm kam, hatte er immer gesagt, ich würde überreagieren oder das sei normal für Mädchen in meinem Alter.
Beim Coaching habe ich mehrere Monate lang an meinem Selbstbewusstsein gearbeitet. Einmal bin ich mit der Coachin zusammen in die Innenstadt gegangen. Sie stellte mir eine Aufgabe: Wir mussten immer abwechselnd das Wort „Zug“ sagen, aber immer lauter als die andere. Am Ende stand ich in der Stadt und habe richtig gebrüllt. Das war zwar unangenehm, aber ich war wirklich stolz auf mich.
Nach einem Tiktok-Video habe ich gegoogelt, ob ich Depressionen habe
Weil ich immer mehr Angst hatte, unter Menschen zu gehen, habe ich mich auch immer mehr isoliert; das hat auch das Coaching nicht verhindert. Als es zum ersten Lockdown kam, hatte ich deshalb so gut wie niemanden. Ich hatte zwar Kontakt mit den Leuten aus meiner Klasse, aber immer nur digital. Ich fühlte mich aber nicht nur allein. Ich war auch traurig, immer. Ich habe mich ständig mit mir selbst beschäftigt und angefangen, Fehler zu sehen, die ich vorher nicht gesehen habe.
Ich verglich mich mit Freundinnen, die von Natur aus total schlank waren und fühlte mich zu dick. Manchmal bin ich in Gedankenspiralen abgerutscht und habe mich wertlos gefühlt. Mein Vater kam nicht gut damit klar, dass ich mit Mama über ihrer beider Beziehung gesprochen hatte. Vielleicht dachte er, ich sei auf ihrer Seite. Die Wut, die ich auf meine Eltern und Freundinnen hatte, habe ich komplett auf mich selbst gerichtet. Ich sah nicht ein, dass meine Eltern mich falsch behandelt hatten oder dass meine Freundin zu sehr an sich gedacht hatte – ich dachte, ich sei das Problem.
Bei Tiktok wurden mir Videos vorgeschlagen, wo ein Typ über typische Symptome von Depressionen aufklärt. Als ich das gesehen habe, dachte ich: Da sind erstaunlich viele Sachen dabei, die ich kenne. Ich habe dann gegoogelt: „Habe ich Depressionen?“ Und bin auf die Seite eines Onlinetests gekommen. Das war mitten in der Nacht, ich lag bei meinem Vater zu Hause und klickte mich durch die Fragen. Das Ergebnis war positiv. Dort stand, ich sollte mir Hilfe holen. Ich schickte meiner Mutter einen Screenshot des Ergebnisses. Sie antwortete am nächsten Tag, dass wir mal reden sollten.
Eigentlich habe ich spätestens seit der Trennung meiner Eltern immer alles mit mir selbst ausgemacht. Ich hatte dieses typische, falsche Lächeln für andere aufgesetzt. In der Schule war ich ein High Performer. Trotz meiner Müdigkeit und Erschöpfung habe ich Leistungen hingelegt, für die ich wirklich über meine Grenzen gegangen bin. Meine Noten waren richtig gut. Sport habe ich auch gemacht. Ich bin zum Reiten gegangen und habe zuhause Workouts gemacht. Von außen hätte wahrscheinlich niemand gedacht, wie schlecht es mir ging.
Ich habe erst angefangen zu reden, wenn ich wusste: Es geht eigentlich nicht mehr. Als ich nach dem Onlinetest zum ersten Mal bei meiner Mutter war, sprudelte es aus mir raus. Ich erzählte ihr, wie traurig ich bin, und zwar immer. Und wir beschlossen, einen richtigen Therapeuten zu suchen. Meine Mutter wollte, dass ich meinem Vater davon erzähle. Aber ich habe mich gewehrt. Das mache ich nicht, habe ich gesagt. Also hat sie das übernommen.
Ich glaube heute, das war falsch. Mein Vater wurde von ihr verlassen. Er war ihr gegenüber deshalb sehr ablehnend. Vielleicht war er deshalb der Meinung, ich bräuchte keine Therapie und meine Mutter würde mir das nur einreden. Ich begann die Therapie trotzdem.
Als ich mein Lieblingsbuch gelesen habe, wurde ich besessen von der Idee, zu sterben
Meine Mutter schenkte mir dann ein Buch. Es heißt: „I’ve never been (un)happier“. Die Autorin war depressiv, seit sie 13 Jahre alt war. Ich habe das Buch nicht nur einmal gelesen, sondern immer wieder. Ich fühle mich davon verstanden, habe vieles wiedererkannt, was dort stand. Das tat mir gut. Aber es hatte auch negative Folgen. In dem Buch erzählt die Autorin von ihrem Suizidversuch. Als ich das zum ersten Mal gelesen habe, wurde ich selbst ein bisschen besessen von der Idee zu sterben.
Ich fantasierte, wie meine Beerdigung aussehen würde. Und die Gedanken wurden immer brutaler. Ich wollte nicht mehr nur sterben, ich wollte brutal sterben. Ich dachte, ich hätte das verdient. Geredet habe ich darüber nicht. Ich brachte es meiner Mutter gegenüber nicht über die Lippen. Ich wollte ihr nicht wehtun.
An einem Tag im März 2021, ich war schon 15 Jahre alt, kam ich nach der Schule nach Hause, meine Mutter war noch arbeiten und ich hatte schon alles geplant. Ich hatte vorher eine Packung mit 600er-Tabletten Ibuprofen gefunden. Im Internet hatte ich gelesen, dass die Tabletten schneller wirken, wenn man dabei Alkohol trinkt. Also habe ich eine Flasche Brandy von meiner Mutter geholt. Der war widerlich. Ich habe dann fast die ganze Packung geschluckt. Mir wurde schwindelig und mein Kopf hat gedrückt. Dann wurde mir übel. Ich wollte ins Badezimmer gehen, bin aber zusammengesackt. Den Rest des Weges musste ich kriechen. Ich habe mich ziemlich lange übergeben.
Als meine Mutter abends nach Hause kam, fand sie mich im Badezimmer. Ich hatte keine Kraft mehr und hing noch über der Kloschüssel. Sie packte mich sofort ein und fuhr mit mir ins Krankenhaus.
Das Personal im Krankenhaus in Hamburg sagte, ich sei nicht mehr in Gefahr, weil ich alles ausgekotzt hätte. Sie haben nur meinen Puls gemessen, dann haben sie uns weggeschickt. Außerdem seien wir im falschen Krankenhaus. Für uns sei ein anderes zuständig, weil wir in Schleswig-Holstein wohnen. Meine Mutter fragte mich, ob ich in die andere Klinik fahren wollte oder ob es mir besser gehe. Ich log sie an und wir fuhren nach Hause. Insgeheim war ich enttäuscht, dass mein Plan nicht aufgegangen war. Aber ich war auch erleichtert, dass alles gut gegangen ist.
In der Klinik fühlte ich mich irgendwann richtig wohl
Nach meinem Suizidversuch bestand mein Therapeut darauf, dass ich in eine Psychiatrie gehe. Es dauerte drei Monate, bis ein Platz frei wurde. Bei einem Gespräch mit der Klinikleitung erzählte ich alles. Von meinen Ängsten, von meiner Depression und wie und warum ich die Tabletten genommen hatte.
Die ersten Wochen in der Klinik waren furchtbar. Ich war die Neue. Ich traute mich kaum aus meinem Zimmer. Wir haben in der Klinik Betreuer, die uns wecken und an Termine erinnern. Ich zog mich so sehr zurück, dass mein Betreuer darauf bestand, dass ich mindestens eine halbe Stunde im Gruppenraum bleibe, bevor ich wieder auf mein Zimmer gehe. Schon bald aber kamen neue Patientinnen und ich fühlte mich nicht mehr so fehl am Platz. Ich wechselte mit niemandem ein Wort.
Ich wohnte im offenen Teil der Klinik. Anfangs hatte ich ein Einzelzimmer. Später teilte ich mir ein Zimmer mit einer Mitpatientin. Dreimal zogen neue Mädchen ein. Eine von ihnen hatte eine Essstörung und stand morgens um fünf Uhr auf, um Sport zu machen. Irgendwann machte ich mir Vorwürfe, dass ich das nicht schaffe – und schloss mich ihr an. Ich war erleichtert, als sie wieder auszog.
Der Tagesablauf in der Klinik war immer ähnlich. Um sieben Uhr gab es Frühstück. Dann hatte ich zwei, drei Stunden Unterricht in einer Schule auf dem Klinikgelände. Nach dem Mittagessen hatte ich Einzeltherapie und später auch verschiedene Arten der Gruppentherapie. In der Kunsttherapie malte ich Figuren, die eher wie Monster aussahen. Sie standen für meine Probleme. In der Sporttherapie boxte ich und in der Ruhetherapie lagen wir auf Kissen und Matten, hörten beruhigende Musik und die Therapeutin las uns oft etwas vor.
Ich begann, mich dort richtig wohl zu fühlen und fand sogar eine Freundin. Als ich nach drei Monaten entlassen wurde, war ich fast ein bisschen traurig.
Vor dem ersten Schultag hatte ich Angst
Als ich entlassen wurde, hatte ich Glück: Es waren Ferien. Das heißt, ich musste nicht sofort zurück in die Schule. Trotzdem ist meine Stimmung schon nach drei, vier Tagen wieder abgesackt. Das hat mich schockiert.
Immerhin wusste ich jetzt, wie ich damit umgehen kann. In der Klinik wurden mir für diese Rückfälle Methoden beigebracht, etwa die ABC-Methode. Dafür denkt man sich ein Thema aus, etwa „Bücher“, und muss dann für jeden Buchstaben des Alphabets ein Buch finden. Wie bei Stadt, Land, Fluss. Das habe ich oft mit meiner Mutter zusammen gemacht. Ich habe ihr dann gesagt, dass ich Beschäftigung brauche, weil ich im falschen Film unterwegs bin.
Wenn ich Suizidgedanken hatte, habe ich Kühlpacks auf meine Pulsadern gelegt. Am meisten habe ich stimulierende Ringe benutzt, die eng um die Finger liegen. Die kann man dann dort entlangrollen, das soll Stress abbauen. Diese Ringe habe ich in den ersten Monaten nach der Klinik eigentlich immer getragen.
Vor meinem ersten Schultag hatte ich trotzdem Angst. Ich wohne direkt gegenüber der Schule und habe mich kaum getraut, rüberzugehen, weil ich nicht wusste, wie meine Mitschüler:innen reagieren würden. Nur eine Freundin hatte gewusst, wo ich war. Zwei Jungs aus meiner Klasse hatten mir zwar während meiner Zeit in der Klinik geschrieben, ich habe ihnen aber nicht geantwortet.
Als ich ins Klassenzimmer gegangen bin, habe ich mich einfach auf meinen Platz gesetzt. Zum Glück hat mich erstmal niemand angesprochen. In der Pause kamen zwei Klassenkameraden auf mich zu und haben mich gefragt, wo ich die letzten Monate gewesen sei. Ich hatte mir vorher vorgenommen, ehrlich zu sein. Ich wollte mich nicht verstecken, wollte die Scham gar nicht erst zulassen. Also habe ich ihnen erzählt, dass ich wegen Depressionen in der Klinik war.
Sie haben kurz überlegt, meinten dann „Achso, okay!“, haben mit den Schultern gezuckt und weiter ihr Ding gemacht. Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Zwei Klassenkamerad:innen, die ich ein bisschen besser kannte, haben noch gefragt, ob es mir jetzt besser gehe. Aber böse Kommentare oder Unverständnis – all das gab es gar nicht.
Mittlerweile bin ich in der elften Klasse und in meiner neuen Klasse wird sogar noch offener mit mentalen Problemen umgegangen. Wenn ich heute gefragt werde, ob alles okay sei, kann ich auch ehrlich antworten, wenn es mir nicht gut geht. Ich habe auch gemerkt: Ich bin damit nicht allein. In meiner Klasse sind noch drei weitere Personen, die selbst in psychotherapeutischer Behandlung sind. Mit denen tausche ich mich immer mal wieder aus. Ich glaube, meine Generation ist da viel offener als die meiner Eltern.
Heute rede ich mehr mit meinem Vater
Heute gibt es Phasen, in denen es mir ziemlich gut geht und in denen ich sehr stabil bin. Dann denke ich: Okay, jetzt habe ich den Durchbruch geschafft. Und dann gibt es aber doch immer wieder Punkte, an denen es kippt. Das ist schmerzhaft. Je besser es mir geht, desto enttäuschter bin ich, wenn es mir mal nicht so gut geht.
In diesen Phasen rede ich sogar mit meinem Vater. Erst vor Kurzem habe ich ihn gefragt, wann er verstanden hat, wie schlecht es mir wirklich ging. Das Gespräch in der Klinik, in dem ich von meinem Suizidversuch erzählt hatte, habe ihm die Augen geöffnet, sagte er. Vorher hatte er mich nicht ernst genommen, selbst als meine Mutter ihn an dem Abend meines Suizidversuchs angerufen hatte. Heute ist mein Vater deutlich offener, wenn ich traurig oder weinend zu ihm komme. Er ist in solchen Momenten viel rationaler als meine Mutter. Manchmal hilft das auch.
Neulich habe ich meinem Vater ein Foto von einem Model gezeigt, das ich auf Instagram gefunden habe. Ich fand sie wunderschön und mich im Vergleich dazu überhaupt nicht. Eine Viertelstunde später setzte sich mein Vater zu mir und zeigte mir ein Bild von dem gleichen Model. Die Frau sah plötzlich ganz anders aus. Der Unterschied war: Das Bild war nicht bearbeitet. Mein Vater hat sogar das Bild, das ich ihm gezeigt hatte, so zurückbearbeitet, dass es wieder realistisch aussah. Ich war erst skeptisch, aber dann hat er mich überzeugt.
Das war der dritte Teil unserer Serie „Was du tun kannst, wenn dein Kind psychisch krank wird“. Hier findest du den vierten Teil, in dem ein digitaler Streetworker erzählt, wie er Jugendliche im Internet anspricht.
Anlaufstellen für den Notfall:
Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen und Hausärzt:innen. Im Zweifel den Notdienst (in Deutschland die 112) anrufen.
Für Kinder und Jugendliche gibt es die Youth-Life-Line und Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr die Nummer gegen Kummer: 0800 1110333 und die 116111.
Wenn man selbst betroffen ist, kann man die Telefonseelsorge unter den Nummer 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 erreichen. Der Anruf ist kostenlos und erscheint nicht auf der Telefonrechnung.
Redaktion: Lisa McMinn, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger