Hinweis: Dieser Artikel enthält Schilderungen von Suizid.
Meine Tochter Lea war 13 Jahre alt, als die Corona-Pandemie ausbrach. Ich war nicht auf das gefasst, was folgen sollte. Die ersten Schulschließungen kamen Lea noch gelegen. Sie bekam Abstand zu ihrer Klasse, in der sie sich schon seit Längerem unwohl fühlte. Doch sie tat sich schwer mit dem digitalen Unterricht. Bei Zoom-Calls blendete sie ihr Bild aus und löschte die Whatsapp-Gruppe. Die Klasse und Lea passten einfach nicht zusammen. Doch das Problem lag woanders.
Zu Hause weinte Lea ununterbrochen in ihrem Zimmer, das konnte ich hören. Als der Präsenzunterricht wieder begann, weigerte sie sich immer häufiger, in die Schule zu gehen. Lea zog sich weiter zurück – auch vor mir und meinem Mann. Sie sprach ohnehin nur spärlich mit uns, doch jetzt kam sie kaum noch zum gemeinsamen Mittag- und Abendessen. Außerdem wollte sie nach einiger Zeit nichts mehr mit uns unternehmen.
Bisher ging ich regelmäßig mit ihr einkaufen oder ins Kino und als Familie machten wir Ausflüge ins Museum oder besuchten Verwandte. Das war nun vorbei. Tagelang kam sie nicht aus ihrem Zimmer, außer um auf Toilette zu gehen, und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Schließlich hörte sie beinahe vollständig auf zu essen.
Sie hasst es, angeguckt zu werden
Lea erzählte uns Eltern zunächst nichts davon. Doch dann eines Abends, als ich sie wieder in ihrem Zimmer weinen hörte, klopfte ich an und setzte mich an ihr Bett. Nach ein paar Minuten erzählte sie mir von ihrer Situation:
Lea wollte nicht in die Schule, weil sie befürchtete, ihre Mitschüler:innen könnten sie zu dick oder zu dünn finden oder gar glauben, sie sei hässlich. Deshalb versuchte sie, sich den Blicken der anderen zu entziehen. Sie hasse es, angeguckt zu werden, sagte sie. Sie fürchte nicht nur ihre Mitschüler:innen, auch die Menschen, die ihr im Bus und auf der Straße begegneten. Schließlich war sie mit einem großen Sonnenhut in die Schule gegangen, hinter dem sie sich draußen und im Unterricht „versteckte“. Ich hatte den Hut bemerkt, aber zu dieser Zeit nicht weiter nachgehakt.
Mit einem Seufzer legte ich eine Hand auf ihre Schulter und sagte: „Das klingt heftig, Lea.“ Aber das war noch nicht alles. „Ich habe jeden Tag Panikattacken. In der Schule. Ich gehe dann aufs Klo, damit niemand mich sieht“, sagte sie. Jeden Tag? Ich erschrak, aber ließ es sie nicht spüren. Wie lange sie schon damit kämpfe, fragte ich nach. „Schon länger.“
Ich fragte sie nach dem Ablauf einer Panikattacke. Lea berichtete mir, dass sie dabei hyperventiliere: Sie atme hektisch und flach. Manchmal schluchze sie, doch meistens erstarre sie nach einer Weile. Wie eine Statue aus Stein verharre ihr Körper regungslos.
Mir war klar: So durfte es nicht weitergehen. Nicht für Lea, nicht für mich.
Ich suchte eine Therapeutin für meine Tochter. „Ich denke, du brauchst jemanden zum Reden. Wahrscheinlich ist es besser, wenn diese Person nicht zur Familie gehört“, erklärte ich ihr. Ich sagte, dass wir als Familie – Lea eingeschlossen – jetzt überfordert waren und professionelle Hilfe benötigten.
Lea stimmte zu, eine Therapie zu beginnen. Nach vielen Anrufen und zwei Vorgesprächen bekamen wir Monate später einen Platz bei einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin.
In der Zwischenzeit sprach ich mit Leas Klassenlehrerin. Das Tragen des Hutes, die vielen Fehltage, Leas distanziertes Auftreten und Verschwinden auf der Toilette überforderte sie, erzählte sie mir am Telefon. Sie regte sogar an, Lea solle die Schule wechseln. Ich hatte das Gefühl, dass sie meine Tochter loswerden wollte und war unsicher. „Ich weiß nicht, ob meine Tochter einen Schulwechsel packt“, sagte ich ihr.
Schlussendlich entschied ich mit meinem Mann, täglich mit Lea zu überlegen, ob sie in die Schule gehen könnte oder nicht. Jeden Morgen schaute ich um sieben Uhr in ihr Zimmer und versuchte einzuschätzen, wie es ihr geht. Konnte sie sich aufsetzen? Reagierte sie auf meine Ansprache? Wenn ja, fragte ich sie: „Schaffst du es heute?“, und überließ Lea die Entscheidung. Sie blieb manchmal zwei- oder dreimal in der Woche zu Hause. In den letzten drei Wochen vor den Sommerferien ging sie gar nicht mehr zur Schule.
„Sofort in die Klinik“
In den Sommerferien machten wir mit Lea Urlaub in den Bergen. Ich hatte mich sehr darauf gefreut, endlich mal raus aus unserer Wohnung zu kommen. Lea aber schien es nicht zu helfen. Weil sie in der Ferienwohnung kein eigenes Zimmer hatte, konnten wir beobachten, wie sie täglich bis zu fünf Stunden Sport machte. Sie aß wenig, an manchen Tagen nur eine halbe Reiswaffel und eine Himbeere. „Mach dir keine Sorgen, Mama“, sagte sie. „Ich lebe gesund!“ Als ich sagte, das sei nicht gesund, sondern eine Essstörung, reagierte sie patzig und schrie: „Hör auf zu lügen!“
Ich hatte gehofft, dass die Sommerpause für Lea eine Erholung vom Schulstress wird. Doch nach nur einer Woche im neuen Schuljahr kam sie mit Heulkrämpfen nach Hause und begann zu meinem Entsetzen, sich zu ritzen: Lea fügte sich selbst Schnittwunden auf beiden Armen zu.
Ich versuchte, ruhig zu bleiben, suchte mit ihr das Gespräch und fragte sie, wie es ihrer Meinung nach weitergehen solle. Doch Lea sagte nur: „Wenn ich nicht mehr da bin.“ Als ich nachfragte, ob sie konkrete Pläne habe, nicht mehr da zu sein, sagte sie: „Tabletten“.
Ich rief sofort Leas Therapeutin an. Mir war in diesen Tagen nicht klar, wie ernst Lea ihre Suizidgedanken gemeint hatte und ich wollte abwarten, wie sie die Lage beurteilt. Einige Tage später, nach der nächsten Therapiestunde, rief mich die Therapeutin ins Zimmer und sagte: „Lea muss ins Krankenhaus. Sofort. Es besteht akute Suizidgefahr.“
Dem Psychologen im Krankenhaus sagte Lea, sie sehe keinen anderen Weg mehr, als sich das Leben zu nehmen. Sie blieb freiwillig in der Klinik und schlief in den ersten Tagen in einer Art Sicherheitsraum. Dieser Raum ist leer, bis auf eine Matratze – und die Tür muss permanent geöffnet bleiben.
Mein Mann und ich fuhren nach Hause. Ich selbst hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt innerlich zusammengerissen. Damit war jetzt Schluss. Die angestaute Trauer überkam mich, und ich ließ es zu. Ich weinte eine ganze Woche lang, immer wieder, jeden Tag. Mein Körper war zu nichts anderem imstande.
Ich musste lernen, meine Tochter loszulassen
Wenn dein Kind plant, sich das Leben zu nehmen, musst du etwas tun, das dir zutiefst widerstrebt: Du musst die Verantwortung abgeben, weil du als Elternteil nicht mehr helfen kannst. Wenn du das nicht tust, wirst du dich, falls es schiefgeht, fragen müssen, ob du damit leben kannst.
Ich ging auch zu meinem Hausarzt, der mich sofort vier Wochen krankschrieb. Ich habe einen Job, doch an Arbeiten war nicht zu denken. Dazu verordnete mir mein Arzt Antidepressiva in niedriger Dosis, die mir dabei halfen einzuschlafen.
In der zweiten Woche erkannte ich, wie groß meine Schuldgefühle Lea gegenüber waren. Daran musste ich arbeiten. Aber ich fand so schnell keinen Therapieplatz für mich. Also kaufte ich Bücher über Schuld und Schuldgefühle. Schon nach 30 Seiten warf ich den ersten Ratgeber in die Ecke.
Ich wollte nicht die ganze Zeit darüber nachdenken, sondern raus aus den Schuldgefühlen.
Ich begann, mich mit der ACT-Therapie zu beschäftigen, Bücher darüber zu lesen und Podcasts zu hören. ACT steht für Akzeptanz- und Commitmenttherapie. Das Ziel ist, negative Gefühle wie Wut, Trauer oder Eifersucht zuzulassen. Sie nicht wegzuschieben, sondern radikal anzunehmen. Das bedeutet auch, sich zu fragen, ob bestimmte Gefühle realistisch sind. Ich habe mir oft überlegt, ob meine Angst, als Mutter alleine Schuld an Leas Situation zu sein, der Wahrheit entspricht. Und dabei festgestellt: eher nicht.
Da ich keinen Zugang zu einer Psychotherapie hatte, coachte ich mich selbst. Eine Freundin, die Psychologin ist, sagte mir bei einem Spaziergang: „Wenn du deiner Tochter helfen willst, musst du selbst festen Boden unter den Füßen bekommen. Sonst geht ihr gemeinsam unter.“
Das musste ich hören. Ich entschied mich, aus meinen Mustern auszutreten und niemanden mehr für irgendetwas verantwortlich zu machen. Wenn jemand aus der Verwandtschaft anrief und fragte, ob wir uns treffen sollten, sagte ich: „Das weiß ich noch nicht.“ Normalerweise hätte ich zugesagt, selbst, wenn ich dafür keine Kraft hatte, mich auf dem Hinweg über die Person und hinterher über mich selbst geärgert hätte.
Doch das reichte nicht, ich brauchte ein echtes Gegengift. Zuerst reduzierte ich den Kontakt zu meiner eigenen Mutter auf ein Minimum. Jedes Telefonat mit ihr raubte mir Kraft, die ich jetzt für mich selbst brauchte. Sie gibt mir ständig Ratschläge, wie ich mein Leben zu führen habe.
Dann begann ich, mit einer Yoga-App jeden Morgen Iyengar-Yoga in meinem Schlafzimmer zu machen. Das ist eine athletische Form des Yoga, die mir guttut. Dabei dehne ich mich viel und mache Kraftübungen. Danach ging ich mindestens eine Stunde im Wald spazieren, den ich von unserem Haus in drei Gehminuten erreichte. Manchmal klingelte ich spontan bei einer Freundin, die in unserer Nähe wohnt und fragte sie, ob wir gemeinsam spazieren wollten.
Tagsüber fragte ich mich, worauf ich Lust hätte und was ich in dem jeweiligen Moment brauchen würde. Darauf hatte mich eine andere Freundin gebracht: „Mach doch mal, was DIR guttut! Du hast es verdient, dich zu entspannen und Kraft zu sammeln!“
Es wurde zu meiner Pflicht als Mutter, mich um mich selbst zu kümmern. Bisher hatte ich Lea tagsüber permanent Fragen gestellt: „Soll ich was kochen? Was brauchst du jetzt? Soll ich dich bei einem Tanzkurs anmelden? Oder eine neue Jeans kaufen? Gehts dir gut?“ Damit habe ich aufgehört.
Stattdessen frage ich jetzt: Geht es mir gut? Was brauche ich gerade? Eine Stunde in der Natur oder ein Buch lesen im Café?
Lea spürte sofort, dass ich mich verändert hatte
Lea blieb ungefähr drei Monate in der Psychiatrie, ohne nach Hause zu kommen. Danach verbrachte sie sechs Wochen in einer Tagesklinik: Sie wurde morgens von einem Taxi abgeholt und kam um 16 Uhr zurück. Am Wochenende blieb sie bei uns. Im Anschluss musste sie nochmal zwei Wochen auf der psychiatrischen Station der Klinik bleiben.
Nach sechs Monaten kam Lea endlich nach Hause. Einmal in der Woche geht sie zu einer Verhaltenstherapeutin. Lea hat sich selbst eine neue Schule gesucht und wollte auf ein Gymnasium. Außerdem isst sie zu Hause wieder mit, am liebsten Reis und Gemüse. Hin und wieder kochen wir gemeinsam, Lea am liebsten asiatisch. Letzte Woche schauten wir uns den neuen Ant-Man-Film an.
Lea spürte sofort, dass ich mich verändert hatte. Sie fühlte sich in meiner Nähe jetzt freier, wie sie mir später erzählte. Das kommt sicher auch daher, dass ich mit ihr wie mit einer erwachsenen Person spreche. Ich gebe ihr keine Ratschläge mehr und warte, bis sie auf zu mich zukommt, um zu reden. Wenn Lea sich außer Haus mit einer Freundin trifft, frage ich sie nicht mehr, was sie genau macht, sondern: „Wann kommst du wieder?“
Wenn sie es morgens nicht schafft aufzustehen oder zur Schule zu gehen, sage ich mir: „Okay, heute ist ein Tag, an dem meine Tochter nicht zur Schule geht. Und morgen schauen wir weiter.“ Meine Tochter hat Depressionen und ich kämpfe nicht mehr dagegen an.
Auch meine Bedürfnisse zählen. Das ist mein neues Mantra.
Mutter und Tochter möchten unerkannt bleiben, ihre Namen haben wir deshalb geändert.
Das war Teil 2 unseres Zusammenhangs. Hier findest du den dritten Teil, in dem wir die Perspektive wechseln: Eine 16-Jährige erzählt, wie es ist, suizidal zu sein – und wie ihre Klasse reagiert hat, als sie aus der Klinik zurückkam.
Anlaufstellen für den Notfall:
Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen und Hausärzt:innen. Im Zweifel den Notdienst (in Deutschland die 112) anrufen.
Für Kinder und Jugendliche gibt es die Youth-Life-Line und Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr die Nummer gegen Kummer: 0800 1110333 und die 116111.
Wenn man selbst betroffen ist, kann man die Telefonseelsorge unter den Nummer 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 erreichen. Der Anruf ist kostenlos und erscheint nicht auf der Telefonrechnung.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audiversion: Iris Hochberger