Das erste Mal habe ich abgesetzt, als ich frisch verliebt war. Es war Januar 2017, ich war mega glücklich und mein letzter Klinikaufenthalt lag drei Monate zurück. Von heute auf morgen rührte ich meine Antidepressiva nicht mehr an.
Zwei Wochen später saß ich in der psychiatrischen Institutsambulanz der Berliner Charité einer Psychiaterin gegenüber und bat sie verzweifelt, mir zu helfen, meine Medikamente wieder anzusetzen. Tagelang hatte mich eine überwältigende Trauer und Verzweiflung geplagt. Ich spürte, dass ich kurz davor war, wieder in die Depression zu rutschen. Ich schämte mich für mein impulsives Handeln. Ich hatte in einem Moment der Euphorie eine Kurzschlussentscheidung getroffen und damit meiner psychischen Gesundheit geschadet.
In diesen zwei Wochen habe ich aber auch etwas Wertvolles gelernt. In Momenten der inneren Leichtigkeit, wenn ich über einen Scherz lachte, erlebte ich die empfundene Freude intensiver als zuvor. In den ersten Tagen bescherte mir das ein enormes Hoch. Doch als meine neue Freundin mir am Telefon sagte, dass wir uns eine Woche lang nicht sehen könnten, war ich nicht nur ein bisschen traurig. Ich fing noch am Telefon an zu weinen.
Die Pillen hatten mir einen Teil wichtiger Gefühle geklaut. Allerdings hatten sie mich in schlechten Zeiten auch stabilisiert. Wer schon einmal psychisch krank war, weiß, dass das kein schlechter Deal ist. Noch in der Notaufnahme schwor ich mir, nie wieder alleine abzusetzen.
Aber die Zweifel, ob mir die Pillen wirklich gut tun, kamen zurück.
November 2022: Die Blutprobe
Fünf Jahre später stehe ich am Tresen meiner Hausärztin und hole Rezepte für meine Antidepressiva ab.
„Herr Gommel, haben sie schon mal ihr Blut untersuchen lassen?“, fragt mich die Sprechstundenhilfe.
Etwas verdutzt verneine ich. Sie schaut genauso verdutzt zurück.
„Sie nehmen seit Jahren Psychopharmaka!“
Eine halbe Stunde später nimmt mir meine Hausärztin Blut ab. Sie heißt Heike, wir duzen uns. Wir vereinbaren, dass sie sich melden würde, sollten Auffälligkeiten im Ergebnis vorliegen.
Meine erste Tablette Antidepressivum habe ich zwölf Jahre zuvor geschluckt, im Herbst 2010. Nach einem Nervenzusammenbruch hatte ich tagelang regungslos im Bett gelegen, apathisch an die Decke gestarrt und kein Wort mehr gesprochen.
Ich konnte nicht mal mehr meine Finger bewegen. Depressiven Stupor nennt man das. Meine damalige Frau hatte mich in die Klinik gebracht. Dort verschrieb man mir zum ersten Mal Citalopram, ein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Serotonin ist ein Botenstoff, der unter anderem unseren Appetit, Schlaf und unsere Stimmung beeinflusst. Citalopram hemmt im Gehirn dessen Aufnahme in den Nervenzellen.
Ich erlebte in den folgenden Jahren noch vier weitere depressive Episoden. Jedes Mal musste ich in die Klinik. Mehrmals verschrieb man mir neue Antidepressiva. Manchmal fühlte ich mich wie ein krankes Versuchskaninchen, dem ständig neue Karotten vorgehalten werden. Denn, so ehrlich waren die Ärzt:innen, niemand wusste, ob, wann und wie ein Wirkstoff bei mir anschlagen würde.
Letztlich blieb ich bei Bupropion, einem selektiven Wiederaufnahmehemmer von Noradrenalin und Dopamin. Dopamin ist ein Botenstoff und als Glückshormon bekannt, während das Hormon Noradrenalin freigesetzt wird, wenn wir unter Stress geraten. Es löst eine erhöhte Adrenalin-Ausschüttung aus. Wenn du wissen willst, was das bedeutet, lies gerne meinen Text über die Wirksamkeit von Antidepressiva. Recht früh kam das Neuroleptikum Quetiapin dazu, ein Mittel, das auch gegen Psychosen eingesetzt wird. Ich hatte zwar keine Psychose entwickelt, aber das Bupropion sorgte für nächtliche Unruhe: Meine Beine kribbelten wie verrückt.
Quetiapin sollte mir helfen, indem es mich müde machte. Die Ärzte verschrieben es mir in doppelter Ausführung, um sicherzustellen, dass ich nicht aufwachte: Eines, das sofort wirkt, und ein anderes, das den Wirkstoff verzögert über die ganze Nacht freisetzt. Heute nehme ich:
300 mg Bupropion – morgens
100 mg Quetiapin – abends
300 mg Quetiapin retard – abends
Dezember 2022: Die Hausärztin
Meine Hausärztin hat mich nicht angerufen. Mein Blutbild ist okay. Doch nach dem letzten Besuch hatte ich in mein Tagebuch geschrieben: „Ich frage mich, ob es eine gute Idee ist, dass ich seit zwölf Jahren Antidepressiva nehme.“ Nun sitze ich wieder in ihrem Wartezimmer und denke über die Nebenwirkungen nach, die mir die Tabletten beschert haben.
Als ich meine ersten Antidepressiva verschrieben bekam, sagten mir die Ärzt:innen: „Herr Gommel, es kann sein, dass sie bei diesem Medikament verzögerte Orgasmen erleben werden.“ Was die Ärzt:innen nicht wussten:
Aus verzögerten Orgasmen wurden gar keine mehr. Ich gehe an dieser Stelle nicht ins Detail, aber ich kann dir sagen: Das ist eine Qual.
Zur gleichen Zeit fing ich an, rasant Gewicht zuzunehmen, eine typische Nebenwirkung von Quetiapin. Über 30 Kilogramm habe ich seither zugelegt. Lieben werde ich diesen dicken Körper nie. Und jedes Mal, wenn ich an das Folgende denke, zucke ich zusammen: Auch Suizidgedanken gehören zu den häufigen Nebenwirkungen von Quetiapin. Vielleicht hat dieses Medikament also meine suizidalen Krisen zusätzlich verstärkt.
Was ich lange Zeit nicht wusste: Jede:r hundertste bis zehnte Patient:in, der:die Quetiapin nimmt, hat Albträume – und das trifft auch auf mich zu. Ich wache mindestens jede zweite Nacht zwischen ein und sechs Uhr einmal auf. Mit Albträumen.
Auch Bupropion, mein Antidepressivum, glänzt mit unangenehmen Nebenwirkungen. Etwa Tinnitus. Seit meiner Kindheit habe ich einen permanenten Tinnitus in beiden Ohren. Es könnte also sein, dass das Antidepressivum den Tinnitus erhalten oder verstärkt hat. Obendrauf kann das Mittel Suizidgedanken hervorrufen, wenn die Dosis erhöht oder verringert wird.
„Martin, bitte!?“
Ich habe Herzklopfen.
Ich lasse mich in den Sessel des Behandlungszimmers fallen. „Ich will die Scheißdinger loswerden“, sage ich. „Mir geht es seit zwei Jahren super und ich denke, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sie abzusetzen.“ Heike nickt verständnisvoll, liest sich kugelschreiberklickend meine Anamnese am Bildschirm durch, stellt mir gezielte Fragen:
Wie lange nimmst du Antidepressiva?
Warum willst du absetzen?
Wie lange dauerte deine letzte depressive Episode?
Wurdest du vor den Nebenwirkungen von Quetiapin gewarnt?
Heike ist psychiatrieerfahren und hat mit vielen Patient:innen Medikamente abgesetzt. Der Frühling eigne sich besser zum Absetzen, sagt sie, da dieser auch auf die Psyche wirke. Und es sei wichtig, engen Kontakt zum Psychotherapeuten zu halten. Schließlich stimmt sie zu. Ich solle nur nicht sofort beginnen, sagt sie, sondern bis zum Frühjahr warten.
Auf dem Nachhauseweg spüre ich, wie sich Vorfreude in mir regt. Es kitzelt in meinem Bauch. „Fuuuuuuck, yeah!“ Es macht etwas mit mir, dass ich Heike von meiner Idee erzählt habe. In so einem Moment wird ein Gedanke plötzlich Realität. Im Frühling werde ich wieder alles fühlen. Doch entschieden habe ich mich noch nicht. Ich will noch ein paar Nächte darüber schlafen. Vielleicht auch ein paar Wochen.
6. Januar 2023: Der Therapeut
Ich liege im Bett, schaue Netflix und tippe eine Nachricht an Johannes, meinem Psychotherapeuten.
Hi Johannes, wann hast du Zeit für ein Telefonat?
Seit Jahren ziehe ich Johannes bei lebensentscheidenden Fragen hinzu. Wechsele ich meinen Job? Wie löse ich einen jahrelangen Konflikt mit einer WG-Mitbewohnerin? Ziehe ich um? Heute: Setze ich ab?
Dienstag 14:00?
Ich räume gerade die Spülmaschine ein, als mein Telefon klingelt. Es ist Johannes. Ich verziehe mich auf mein Zimmer, erzähle ihm von meinen Plänen. Er will von mir wissen, wie es mir im Winter geht.
„Nicht anders, als sonst“, sage ich.
„Dann musst du nicht bis März warten.“
„Und ich bin nach wie vor Single“, sage ich stolz.
„Sehr gut.“
Wir wissen beide, warum das wichtig ist: Verlieben ist für mich wahnsinnig anstrengend, triggert viele Depressionssymptome, und kann sogar lebensgefährlich werden. Am Ende sagt Johannes: „Ich bin mir sicher, dass das eine gute Entscheidung ist, Martin.“ Wir verbleiben so, dass ich mich melde, wenn ich mit dem Absetzen beginne. Dann legen wir auf.
Ich atme durch. Dass mein Psychotherapeut, der mich seit sechs Jahren betreut, es für eine gute Idee hält, abzusetzen, ist für mich keine kleine Nummer.
In dieser Woche beginne ich, früher ins Bett zu gehen und früher aufzustehen, denn ich habe Lust auf ausreichend Schlaf – und zwar so richtig. Um 21 Uhr mache ich abends das Licht aus und stehe morgens um sieben auf. Auch am Wochenende. Schon nach einer Woche merke ich, wie gut mir die Umstellung tut. Ich fühle mich tagsüber wacher, klarer im Kopf und ausgeruht.
7. Januar 2023: Die Risiken
Am nächsten Tag rufe ich Tom Bschor an. Er war viele Jahre Chefarzt der psychiatrischen Abteilung der Schlosspark-Klinik in Berlin und forscht seit Jahren zu Antidepressiva. Was rät er mir?
„Nehmen sie sich Zeit, sie haben ja keinen Druck“, sagt Bschor.
Er rät mir, zuerst das Quetiapin zu reduzieren, also meine Nachtmedikation, da dies nicht das Antidepressivum sei. Zu Beginn könne ich größere Reduktionsschritte gehen, gegen Ende hin kleinere.
Außerdem soll ich Absetzsymptome einkalkulieren. Die treten in der Regel in den ersten Tagen auf, verschwinden meist aber innerhalb von 14 Tagen. In meinem Fall könnten das Schlafprobleme sein und, wie beim ersten Mal, intensivierte Gefühle der Trauer. Wer Antidepressiva absetzt, kann auch Schwindel, Sehstörungen und Müdigkeit erleben, aber auch innere Anspannung und eine wechselhafte Stimmung gehören dazu.
Und: Rebound-Depressionen, also Rückfälle, die eine direkte Folge des Absetzens sind. Tom Bschor sagt: „Das größte Risiko, dass Sie eine Rebound-Depression erleben, haben Sie nicht zu Beginn, sondern am Ende. Dann, wenn der Wirkstoff nicht mehr im Blut ist.“ Eine Rebound-Depression ist besonders schlecht zu behandeln. Betroffene nehmen oft sofort wieder das alte Medikament, was nicht zwingend eine Besserung garantiert.
Wichtig sei, dass ich mich selbst beobachte und prüfe, ob meine spezifischen Depressionsymptome wiederkehren. Diese sind in meinem Fall:
- Ununterbrochenes Grübeln
- Stundenlanges Weinen
- Gar-Nichts-Fühlen, innere Leere
- Tägliche Nervenzusammenbrüche
- Depressiver Stupor: die Unfähigkeit, mich zu bewegen
- Suizidalität
15. Januar: Die Entscheidung
Ich bin nicht depressiv, erlebe keine der oben genannten Symptome und weiß mit Sicherheit, dass ich deshalb keine Antidepressiva brauche. Die Tabletten haben zudem keine depressiven Episoden verhindert, sondern möglicherweise nur abgemildert: Ich wurde krank, obwohl ich die Medikamente nahm.
Seit Wochen recherchiere ich zur Wirksamkeit von Antidepressiva. Heute habe ich etwas Wichtiges verstanden: Wirklich wirksam sind Antidepressiva nur bei schweren und chronischen Depressionen. Ich sollte sie nehmen, wenn ich depressiv bin. Sonst nicht.
Antidepressiva sind keine Bonbons, die man nach Lust und Laune lutscht. Sie sind ernst zu nehmende Medikamente, die Betroffene nur so lange nehmen sollten, wie es nötig ist. Die Nationale Versorgungsleitlinie Depression empfiehlt, dass Antidepressiva-Therapien vier bis neun Monate fortgesetzt werden sollten, um ein Rückfallrisiko zu vermeiden. Das letzte Mal depressiv war ich vor exakt zwei Jahren. Ich bin ein ganzes Jahr darüber.
17. Januar: Die Zweifel
Zwei Tage später chatte ich mit einem Verwandten, ich nenne ihn mal Peter, und erzähle ihm von meinen Plänen. Zurück kommt eine Nachricht, mit der ich nicht gerechnet habe: „Ich weiß nicht, ob das so gut ist, Martin. Viele meiner Freunde haben schon mal versucht, abzusetzen, und das hat nie funktioniert. Ich mache mir Sorgen.“
Manchmal habe ich wirklich Angst davor, dass ich durch das Absetzen instabil werde und in eine neue Depression schlittere. Angst, es zu bereuen. Dass Peter recht hat. Peters Sprachnachricht hat meine Ängste getriggert. Aber für mich ist das etwas Gutes. Obwohl Ängste unangenehm sind, kann ich jetzt mit ihnen arbeiten. Sie sind jetzt wahrnehmbar.
In den letzten Jahren habe ich mir angewöhnt, schwierige Gefühle und Gedanken nicht zu verdrängen, sondern sie radikal anzunehmen. Wenn ich an einer Sache zweifle, dann denke ich sie einmal durch, vielleicht auch ein zweites Mal. Doch jedes weitere Mal ist Zeit- und Kraftverschwendung.
Ich schließe die Augen, lasse die Zweifel ein letztes Mal zu – und sage innerlich: „Okay.“ Ich nenne das eine „Mini-Meditation“. Mit jeder Mini-Meditation werden schwierige Gefühle ein bisschen kleiner.
Zwei Tage später nehme ich eine Sprachnachricht für Peter auf: „Ich kann deine Bedenken verstehen“, sage ich. „Aber ich kann mich gerade nicht um deine Sorgen kümmern, weil ich jetzt alle Kraft für mich brauche.“ Dieser Satz ist wichtig, um mich abzugrenzen. Ich habe mich entschieden: Ich setze ab.
20. Januar 2023: Ein Anruf, der mir Kraft gibt
Daniel und ich kennen uns seit mehr als 20 Jahren, haben gemeinsam die Ausbildung zum Erzieher absolviert und telefonieren regelmäßig. Daniel hat mich durch Trennungen, Krisen und Klinikaufenthalte begleitet. Er ist mein bester Freund.
Ich erzähle ihm alles, was bis heute passiert ist. Am Ende des Telefonats sagt Daniel entschlossen: „Martin, du hast die BESTEN Voraussetzungen dafür, dass es klappt. Du hast wochenlang recherchiert, schreibst einen Text darüber, hast mit Expert:innen gesprochen, mit deiner Hausärztin auch, dir geht es gerade super, du bist seit zwei Jahren megastabil und du brichst das Ding nicht übers Knie.“
Bämm.
„Oh Mann, danke“, sage ich. Das sind exakt die Worte, die mir jetzt gut tun. Natürlich sollte man selbst wissen, warum man absetzt, aber vom besten Freund den Rücken gestärkt bekommen? Unbezahlbar.
26. Januar: Heute wird abgesetzt
Ich sitze im Burgerladen, über dem ich wohne, und bestelle bei Tolga ein Menü mit geringelten Pommes und einer Brause. Nach meinem Arzttermin bei Heike habe ich Heißhunger bekommen. Heike ist einverstanden, dass ich nicht bis März warte. Wir haben das Absetzen vorgezogen – auf heute.
Zuerst setze ich das Quetiapin ab, das Nachtmedikament. Heute reduziere ich es auf die Hälfte: 50 Milligramm statt 100. Heike pocht darauf, dass ich rechtzeitig ins Bett gehe. Wie gut, dass ich seit Wochen genau das tue. Ab heute geht es los. Ich habe feuchte Hände. Mein Herz klopft. Das wird gut.
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Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger