Illustration: Ein Mensch kauert in einer orangefarbenen Pillendose, sein Gesicht liegt im Schatten.

©Benedikt Beck

Psyche und Gesundheit

Antidepressiva helfen weniger, als du denkst

Trotzdem nehmen sie so viele Menschen wie nie zuvor – auch ich. Es ist Zeit, umzudenken.

Profilbild von Martin Gommel
Reporter für psychische Gesundheit

Es war eine Nacht vor elf Jahren, ich lag in einem Krankenhausbett, die Decke über den Kopf gezogen, und konnte nicht einschlafen. In meinen Waden spürte ich ein pulsierendes Kribbeln. Am liebsten wäre ich sofort joggen gegangen, dabei war ich abends sterbensmüde ins Bett gefallen. Auf der psychiatrischen Station des Städtischen Klinikums Karlsruhe hatten mir die Ärzt:innen gerade ein neues Medikament gegen Depressionen verschrieben: Cipralex. Das Kribbeln, auch als Restless-Legs-Syndrom bekannt, war eine Nebenwirkung des Antidepressivums.

Heute, drei depressive Episoden später, schlafe ich meistens durch, nehme aber immer noch Antidepressiva. Über die Jahre habe ich, wegen starker Nebenwirkungen, den Wirkstoff mehrfach gewechselt. Heute bin ich bei einer Mischung aus drei Medikamenten angekommen, die bei mir keine spürbaren Nebenwirkungen haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass mir die Pillen helfen, meine Krankheit zu überstehen. Was ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ist, wie sie eigentlich wirken.

Damit bin ich nicht alleine. Zur Wirksamkeit von Antidepressiva wurden schon unzählige Studien gemacht. Das Ergebnis ist allerdings nicht eindeutig. Verschrieben werden die Pillen und Tropfen trotzdem wie wild. Noch nie wurden in Deutschland so viele Antidepressiva verschrieben wie heute.

Ich weiß, dass Antidepressiva beeinflussen, was ich fühle und wie ich die Welt wahrnehme. Aber warum das so ist, was genau in meinem Gehirn geschieht und wie viel Wirkung ich mir vielleicht sogar selbst einrede, weiß ich nicht. Wenn man über Jahre hinweg treu morgens und abends Medikamente einwirft, will man aber irgendwann wissen, was die mit einem machen. Deshalb habe ich angefangen zu recherchieren: Warum nehmen immer mehr Menschen Medikamente, von denen weder Expert:innen noch Patient:innen wissen, wie sie eigentlich wirken?

In 30 Jahren ist die Verordnung von Antidepressiva um 750 Prozent gestiegen

Schauen wir uns die Zahlen erst mal genauer an. Laut dem aktuellen Arzneimittelverordnungsreport wurden 2020 in Deutschland so viele Antidepressiva verschrieben, wie nie zuvor. Insgesamt wurden rund 1,7 Milliarden Tagesdosen verordnet. Im Jahr 1990 lag dieser Wert noch unter 200 Millionen. In den 2000er Jahren sind die Verordnungen explodiert. 2010 lag er bereits über einer Milliarde, heute sind wir den zwei Milliarden nahe. In den letzten 30 Jahren hat sich die Zahl der Verordnungen also um rund 750 Prozent gesteigert. Von allen verschriebenen Psychopharmaka sind Antidepressiva laut Report „mit Abstand“ das führende Arzneimittel. Tendenz steigend.

1,7 Milliarden Dosen pro Jahr also. Pro Tag sind das rund 4,7 Millionen Dosen.

Hinzu kommt: In den Arzneimittelverordnungsreports werden nur gesetzlich Versicherte gezählt, Privatrezepte für Privatversicherte sind also nicht dabei – und die Tagesdosen, die in Krankenhäusern verabreicht werden, ebenso nicht.

Zu Beginn meiner Recherche habe ich eine Umfrage gestartet, die ich auf meinen Social-Media-Kanälen verteilte. Ich wollte verstehen, welche Erfahrungen ihr mit Antidepressiva gesammelt habt. Insgesamt haben über 2300 Menschen an meiner Umfrage teilgenommen.

Ein Säulendiagramm mit dem Umfrageergebnis. 75% der Befragten sagen, Antidepressiva hätten ihnen geholfen. 15% sagen Nein und 10% wissen es nicht.

Rund drei Viertel der Befragten dieser nicht-repräsentativen Umfrage haben angegeben: Ihnen hilft das Antidepressivum. An dieser Stelle könnte ich aufhören zu recherchieren. Wenn es hilft, ist es dann nicht egal, wie es hilft? Ich denke: Nein. Denn viele sind trotzdem hin- und hergerissen, wenn es um ihre Medikamente geht. KR-Leser:in Winny schreibt:

„Antidepressiva gaben mir meinen Lebenswillen zurück. Alles um mich herum wurde freundlicher. Die graue Umgebung bekam Farbe, das Grün der Bäume leuchtete und im Allgemeinen wurde alles wärmer und freundlicher. Ich bekam wieder Motivation aufzustehen und hatte Spaß an Unternehmungen.“

Winnie berichtet aber auch, beim ersten Einnehmen starken Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit erlebt zu haben. Auch das Absetzen verlief nicht ohne Folgen. Wieder erlebte Winnie Schwindel und Kopfschmerzen und fühlte sich eine Weile später antriebs- und motivationslos. Was für ein Auf und Ab!

Wie wirken Antidepressiva?

Antidepressiva werden von Ärzt:innen und Psychiater:innen eingesetzt, um Depressionssymptome zu verringern, so weit, so gut. Die Studienlage zu Antidepressiva aber ist kompliziert. In meiner Recherche habe ich Studien für beinahe jede These gefunden: Von „Antidepressiva helfen bei Depressionen“, über „Antidepressiva sind überhaupt nicht effektiv“, bis hin zu „Antidepressiva verringern Suizidalität“ und „Bei Patienten, die SSRI erhielten, wurde ein signifikanter Anstieg der Wahrscheinlichkeit von Suizidversuchen im Vergleich zu Placebo beobachtet.“ Das würde heißen: Mehr Menschen nehmen sich das Leben, weil sie Antidepressiva nehmen. Ein ziemlich zerstörerisches Ergebnis.

Wir sehen Tom Bschor, ein Mann mit Brille und kurzem Haar, der vor einer Hauswand in die Kamera lächelt.

Tom Bschor hat das Buch„Antidepressiva: Wie man sie richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte“ geschrieben. © privat

Studiendesign, Messinstrumente und die Richtigkeit der Schlüsse zu beurteilen, die Wissenschaftler:innen ziehen, ist für einen Nicht-Wissenschafter wie mich kaum möglich. Ich rufe also bei Tom Bschor an. Er ist Facharzt für Psychiatrie, Autor des Buches „Antidepressiva“ und beteiligt an der aktuellen Nationalen Versorgungs-Leitlinie Unipolare Depression. Darin wird Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen nach aktuellem wissenschaftlichen Stand empfohlen, wie sie ihre Patient:innen diagnostizieren und sowohl psychotherapeutisch als auch medikamentös behandeln sollen.

Wie genau Antidepressiva wirken, ist unklar, das bestätigt auch Bschor: „Aus Tierversuchen wissen wir, dass Antidepressiva in diesem winzigen Spalt zwischen zwei Nervenzellen die Konzentration von Botenstoffen beeinflussen.“ Ob das etwas mit der Depressionsbesserung zu tun habe, sei bis heute aber unklar. In Deutschland gibt es rund 30 verschiedene Antidepressiva, die auf unterschiedliche Weise den synaptischen Spalt beeinflussen. Sie werden von Wissenschaftler:innen in Klassen eingeteilt, um die Übersicht zu erleichtern. Ich stelle dir die wichtigsten drei mal vor.

  1. SSRIs (Selective Seretonin Reuptake Inhibitor), auf Deutsch: selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Serotonin ist ein wichtiger Botenstoff im Körper und im Gehirn, der an Stimmung, Schlaf, Appetit und Schmerzempfinden beteiligt ist. Das Medikament verlangsamt, dass Serotonin von Nervenzellen erneut aufgenommen wird. Das führt dazu, dass er länger im Gehirn verbleibt.
  2. SNRIs, bei denen nicht nur die Wiederaufnahme von Serotonin, sondern auch von Noradrenalin verzögert wird, einem weiteren Botenstoff.
  3. Trizyklische Antidepressiva, die älteste Klasse, die ähnlich wie SNRIs wirken, jedoch stärkere Nebenwirkungen haben. Etwa Mundtrockenheit, Übelkeit oder Kopfschmerzen.

Kaum effektiver als ein Placebo

Wenn wir schon nicht wissen, wie genau Antidepressiva wirken, dann wäre es ja wenigstens schön, wenn wir wüssten, wie gut sie wirken. Aber auch das ist schwer zu sagen. Selbst mein Therapeut gibt in einem Telefonat zu: „Martin, ich blicke da nicht durch.“ Schauen wir doch nochmal in meine Umfrage. Wie wirken die Antidepressiva bei euch?

Ich hatte eine schwere Depression, einige Wochen nach Einnahme der eingesetzten Dosis sind die Symptome zurückgegangen und übrig blieb eine leichte Depression. – Lorena

Antidepressiva haben meine Emotionen stabilisiert, so dass ich mich wieder konzentrieren und produktiv sein konnte. – Anonym

Ich fühlte mich endlich wieder mehr wie ich selbst. Durch die Medikamente konnte die Gesprächstherapie richtig in die Tiefe gehen, da nicht mehr ständig akute Krisen zu lösen waren. – Kiki

In meiner Umfrage habe ich festgestellt: Viele von euch erleben durch die Antidepressiva eine Erleichterung. Studien sprechen aber eigentlich eher dagegen, dass Antidepressiva so wirksam sind, wie wir sie empfinden.

Einen guten Überblick findet man auf der Seite Gesundheitsinformation.de, die Nutzen und Schaden von Arzneimitteln untersucht und darauf spezialisiert ist, die Studienlage verständlich aufzuarbeiten. Dahinter steckt ein unabhängiges Institut, dass dem Bundesgesundheitsministerium untersteht. Dort hat man herausgefunden: Innerhalb von sechs bis acht Wochen bessern sich die Beschwerden einer Depression bei rund 40 bis 60 von 100 Menschen, die ein Antidepressivum einnehmen. In derselben Zeit besserten sich die Beschwerden aber auch bei etwa 20 bis 40 von 100 Menschen, die nur Placebos einnahmen.

Eine Einschränkung ist dabei zu beachten: Die Wirksamkeit von Antidepressiva hängt von der Schwere der Erkrankung ab. Bei mittelschweren, schweren und chronischen Depressionen helfen Antidepressiva, „bei leichten nicht“. Punkt. Psychiater Bschor ergänzt: „Bei leichten Depressionen ist der Effekt von Antidepressiva nahezu identisch mit einem verabreichten Placebo.“

Man solle sich vom Namen also nicht täuschen lassen, sagt Tom Bschor. Antidepressivum, das klingt wie „Antibiotikum“, was innerhalb weniger Tage die Bakterien abtötet oder wie die „Antibabypille“, mit einer Wirksamkeit von 99,9 Prozent. Diese Wirksamkeit gegen Depressionen gibt es bei Antidepressiva nicht. Zudem dauert es bis zu vier Wochen, bis ein Medikament anschlägt.

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Warum nehmen wir sie dann, Herr Bschor?

„Eine mögliche Erklärung für den ständigen Anstieg der Verordnungen ist, dass jedes Jahr neue Menschen dazukommen, die Antidepressiva nehmen, aber nur wenige in der Lage sind, diese abzusetzen.“ Dazu kommt, dass Antidepressiva nicht nur gegen Depressionen, sondern auch gegen Angst-, Zwangs-, Ess- und Schlafstörungen verschrieben werden – und auch dann, wenn keine psychische Erkrankung vorliegt, aber die Person gerade eine persönliche Krise durchlebt.

Tom Bschor kritisiert die steigenden Verordnungszahlen öffentlich. Seinem Eindruck nach werden Antidepressiva viel zu häufig verschrieben, auch wenn sie Patient:innen gar nicht helfen.

Meine Vermutung ist, dass Ärzt:innen Antidepressiva auch deshalb verschreiben, weil es ihr Leben, nicht nur das der Patient:innen erleichtert. Sie haben eine schnelle Lösung parat, die Zeit spart, weil sie sich so nicht mit den tatsächlichen Problemen auseinandersetzen müssen. Nächster, bitte. Und Patient:innen freuen sich, wenn sie etwas „in der Hand haben“, um ihrem Problem zu begegnen. In Krisensituationen brauchen sie Hoffnung, und die Pillen geben ihnen genau das. Auch wenn es nur ein Placebo-Effekt ist.

Allerdings gibt es einen weiteren Grund für die hohe Verordnungzahl: Antidepressiva werden von prominenten Psychiater:innen beworben.

„Natürlich wird man von der Pharmaindustrie beeinflusst“

Als ich nach Experten für meine Recherche über Antidepressiva suchte, stieß ich schnell auf Ulrich Hegerl, mehrfach ausgezeichneter Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Depressionshilfe. Er ist ein enthusiastischer Befürworter und präsentiert Antidepressiva gerne als Lösung für Depressionen, die er als Hirnerkrankung versteht.

Wir sehen Ulrich Hegerl, einen älteren Mann, der in die Kamera schaut.

Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Depressionshilfe und setzt sich für Antidepressiva ein. © Screenshot, ARD-Sendung

Doch dann schaute ich diesen ARD-Beitrag, der zeigt, dass Hegerl in der Vergangenheit Geld von mehreren Pharmaunternehmen angenommen hat. Darunter auch Unternehmen, die Antidepressiva herstellen.

Auch der Schweizer Klinikdirektor und Psychiater Erich Seifritz, den ich eigentlich gerne für diesen Text interviewt hätte, soll laut Recherchen mehrerer Schweizer Medien über 200.000 Euro von Pharmaunternehmen bekommen haben, zum Teil für Beratungen und Vorträge.

Auch Tom Bschor nahm jahrelang für Vorträge von der Pharmaindustrie Geld, distanzierte sich jedoch vor über zehn Jahren davon. „Ich habe lange geglaubt, davon unabhängig zu sein. Das glauben übrigens alle. Natürlich wird man davon beeinflusst.“

Es bleibt ein ungutes Gefühl. Wir Menschen mit Depressionen sind auf die Meinung von Expert:innen angewiesen, da es unmöglich ist, sich in dem Dschungel von Studien, Meinungen und dem Einfluss der Pharmaindustrie zurechtzufinden. Mithilfe von Tom Bschor habe ich deshalb versucht, euch einen Leitfaden zusammenzustellen, an dem ihr euch orientieren könnt.

So entscheidest du dich für oder gegen ein Antidepressivum

Wer bis hierhin gelesen hat, weiß: Es ist unklar, wie Antidepressiva wirken und tatsächlich wirken sie bei leichten Depressionen nicht besser als ein Placebo. Wem es wirklich schlecht geht, der braucht aber Hilfe. Und Antidepressiva versprechen Erleichterung. Diese Schritte können dir bei der Entscheidung helfen:

  1. Mache einen Selbsttest. Hierfür eignet sich der sogenannte PHQ-9-Fragebogen. Dieser kann einen groben Anhaltspunkt geben, ob bei dir eine Depression vorliegen könnte. Wichtig: Dieser Test ersetzt keine ärztliche Diagnosestellung!
  2. Spreche mit eine:r Psychiater:in. Hausärzt:innen sind mit der Entscheidung, ob Antidepressiva für dich das Richtige sind, oft überfordert. Lass dir lieber eine Überweisung zu eine:r Psychiater:in ausstellen. Lege deinen PHQ-Test vor und erzähle von deinen Beschwerden und deiner Überlegung, Antidepressiva zu nehmen.

Solltest du dich dafür entscheiden:

  1. Erwäge gemeinsam mit deinem Arzt, welches Antidepressivum infrage kommt. Solltest du zuvor gute Erfahrungen mit einem Medikament gemacht haben, kannst du vielleicht darauf zurückgreifen.
  2. Bedenke vorherige Erkrankungen. Wenn dein Arzt deine Krankengeschichte kennt, können Unverträglichkeiten und Kontraindikationen ausgeschlossen werden. Eine Möglichkeit (von vielen) beschreibt Psychiater Bschor in seinem Buch: „Menschen, die schon einmal einen epileptischen Anfall hatten, sollten nicht das Antidepressivum Bupropion nehmen.“ Daher: Aufpassen!
  3. Berücksichtige Wirkung und Nebenwirkung. Jedes Antidepressivum hat Vor- und Nachteile, die du mit deinem Arzt besprechen solltest (dazu gleich mehr). Eine gute Übersicht findest du auf Apotheken.de.
  4. Ziehe eine Psychotherapie in Erwägung: Solltest du Depressionen haben, ist möglicherweise eine Psychotherapie ratsam. Wie du einen festen Theapieplatz findest, kannst du hier nachlesen.

Ab dem Tag der Einnahme:

  1. Antidepressiva wirken nicht sofort. Bis eine Wirkung eintritt, können drei bis vier, bei älteren Menschen bis zu sechs Wochen vergehen.
  2. Entscheide mit deinem Arzt, ob du bei diesem Medikament bleibst. Das ist abhängig von der Intensität der Nebenwirkungen und der Frage, ob der Wirkstoff bei dir anschlägt. Letzteres kann in vielen Fällen schwer zu beantworten sein, beispielsweise wenn im Zeitraum um die Ersteinnahme lebensverändernde Phasen begonnen haben, wie ein Klinikaufenthalt, der Start einer Psychotherapie oder eine Trennung von deine:r Lebenspartner:in.
  3. Nicht direkt nach dem Abklingen der Depression absetzen. Ein Rückfall kann bis zu 70 Prozent vermieden werden, wenn du dein Medikament weiter nimmst. Bei einer alleinigen Antidepressiva-Therapie empfiehlt die Nationale Versorgungsleitline einen Zeitraum von vier bis neun Monaten.

Antidepressiva können müde machen und dein Gewicht beinflussen

Wenn es darum geht, das richtige Medikament zu wählen, kann das mögliche Spektrum der Nebenwirkungen für Betroffene entscheidend sein. Diese fallen von Person zu Person unterschiedlich aus. Die bekanntesten Nebenwirkungen sind Schlafstörungen, Gewichtsveränderungen und sexuelle Störungen. Manche Antidepressiva machen müde. Diese Nebenwirkung kann man aber auch gezielt einsetzen: Wer neben der Depressionen mit einer Schlafstörung kämpft, profitiert möglicherweise davon.

Christian, der an meiner Umfrage teilnahm, erlebte es so: „Die Depression ist verschwunden und ich konnte wieder schlafen. Ich bin nicht sicher, was zuerst da war – die Schlaflosigkeit oder die Depression, aber dank der Medikamente habe ich ins Leben zurückgefunden.“

Allerdings hatte die Einnahme unangenehme Konsequenzen für Christians Sexualleben: „Meine Libido ist quasi verschwunden. Zuvor war ich ein sexuell sehr aktiver Mensch, jetzt interessiert mich das Thema kaum mehr.“ Sexuelle Funktionsstörungen, verzögerte Orgasmen, Libidoreduktion, all das sind bekannte Nebenwirkungen, die auch die Beziehungen von Betroffenen belasten können.

Eine weitere Folgeerscheinung, die auch mich selbst betrifft, habe ich erst im Gespräch mit Psychiater Bschor festgestellt. Vor zehn Jahren bekam ich Quetiapin, um meiner nächtlichen Unruhe entgegenzuwirken. Es half beim Einschlafen, aber ich wachte mitten in der Nacht wieder auf. Also verschrieben mir Ärzt:innen zusätzlich ein retardiertes Quetiapin, das seine Wirkung langsam, also die ganze Nacht über abgibt. Es half. Aber ich nahm zu. Bis heute kämpfe ich mit Übergewicht.

Auf Twitter lese ich, wenn es um Antidepressiva geht, auch oft diesen Spruch: „Die machen doch bloß süchtig!“ Richtig ist das allerdings nicht. Im Gegensatz zu vielen Schlaf- oder Beruhigungsmitteln machen Antidepressiva nicht körperlich abhängig. Es besteht also etwa kein Druck, die Substanz dringend einzunehmen, und man braucht auch nicht immer mehr davon. Beim Absetzen können allerdings Entzugserscheinungen auftreten.

Ich werde bald absetzen

Für mich steht die überproportionale Wachstumsrate der Antidepressiva-Verordnungen in keinem Verhältnis zur nachgewiesenen Wirkung der Pillen und den Nebenwirkungen. Und der Einfluss der Pharmaindustrie auf Ärzt:innen und Wissenschaft macht mich nachdenklich. Depressionen sind aber eine ernstzunehmende Erkrankung, und wer gerade in einer Episode gefangen ist, braucht vor allem einfach Hilfe.

Denn eines ist klar: Antidepressiva sind nicht perfekt – aber es gibt bisher keine bessere Alternative. Und vielleicht ist genau das der Grund, weshalb so viele Menschen die Pillen schlucken.

Mir ging es bisher genauso und ich bin dankbar für die Zeit, in der mir die Medikamente durch meine depressiven Episoden geholfen haben. Doch ich bin seit zwei Jahren nicht nur frei von Depressionen, sondern auch psychisch stabil und sehr zufrieden mit meinem Leben. Deshalb, und weil ich jetzt weiß, dass die Medikamente möglicherweise mein Übergewicht mitverursachen, werde ich sie absetzen. Mit ärztlicher Begleitung und der Unterstützung meines Psychotherapeuten. Wie es mir damit geht, kannst du in meinem nächsten Text lesen. Wenn du den nicht verpassen willst, kannst du hier kostenlos meinen Newsletter abonnieren.


Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Antidepressiva helfen weniger, als du denkst

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