Noch schnell zum Supermarkt, dabei warten zuhause schon die Kinder oder noch ein Berg an Arbeitsmails, den es abzuarbeiten gilt, und der Haushalt macht sich auch nicht von allein: Viele Menschen fühlen sich zutiefst erschöpft – laut des STADA Health Reports aus dem vergangenen Sommer leidet jede zweite Person in Deutschland unter Burnout-Sorgen. Fast jede:r Dritte der Befragten sagte in der Online-Umfrage aus, seine oder ihre mentale Gesundheit habe sich seit der Corona-Pandemie verschlechtert. Bei jungen Frauen unter 35 Jahren ist es besonders schlimm.
Und doch: Die meisten machen weiter. Weil es so schwer ist, den Absprung zu schaffen. Der Politikerin Antje Kapek, Mutter von zwei Kindern und bis 2022 ein Jahrzehnt lang Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgordnetenhaus, gelang genau das. Sie gab ihr Amt freiwillig auf, weil sie nicht mehr konnte. In diesem Interview hat sie mir erzählt, was sie dabei über Selbstfürsorge gelernt hat, wie schwer es war, mit den Erwartungen von außen zu brechen. Und wie dieser Schritt sie gerettet hat.
Frau Kapek, stressiger Tag heute?
Es geht. Ich habe um acht Uhr angefangen, mit dem Lesen der Nachrichten. Um neun Uhr hatte ich meine erste Videokonferenz, bis jetzt gab es zwei weitere Termine. Sie sind der vierte, es ist jetzt 12.30 Uhr. Das wars dann auch für heute. Nach unserem Interview habe ich Familientermine, etwa den beim Kieferorthopäden meiner Tochter. Am Abend feiere ich mit meiner Büroleiterin noch deren Abschied, sie geht in Mutterschutz.
Dass Sie Ihre Tochter heute nachmittag zum Kieferorthopäden bringen können, wäre das früher auch möglich gewesen, vor dem Rücktritt?
Ich hätte es irgendwie zeitlich hingekriegt, aber mit viel mehr Stress verbunden.
Im Februar 2022 sind Sie zurückgetreten als Co-Fraktionschefin der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie haben damit das geschafft, was Ihrer Kollegin und Parteifreundin Anne Spiegel im vergangenen Jahr nicht glückte: Sie sind rechtzeitig gegangen. Warum?
Anne Spiegel wollte ja nicht zurücktreten, sondern ist in eine Situation geraten, in der dies irgendwann unumgänglich war. Ich habe mich freiwillig für einen Rücktritt entschieden, bin selbstbestimmt gegangen. Weil ich genug hatte. Ich war einfach wahnsinnig erschöpft, körperlich und mental. Aber das ist etwas anderes als ein Burnout. Das geht in der öffentlichen Debatte oft durcheinander. Ich kam an einen Punkt, an dem ich für mich festgestellt hatte: Ich bin nicht mehr bereit, mich auf diese Weise selbst auszubeuten. Mit dem Rücktritt habe ich verhindert, durch meine Arbeit dauerhaften Schaden zu nehmen.
Was war schief gelaufen in den Monaten zuvor?
In den vielen Jahren als Spitzenpolitikerin hatte ich mir eine Art des Arbeitens und der Verantwortungsübernahme antrainiert, die sich so tief in mein System eingebrannt hatte, dass ich gar nicht mehr in der Lage war, einen gesunden Umgang mit mir zu pflegen. In mir war eine große Anspannung, permanent funktionieren zu müssen.
In einem Interview nach Ihrem Rücktritt sagten Sie, dieser sei eine Kurzschlussreaktion gewesen. Klingt nach einer impulsiven Entscheidung. Würden Sie heute immer noch sagen, das war richtig so?
Es war impulsiv, ja. Und der Rücktritt hat mir politisch das Herz gebrochen. Aber für mich als Mensch war es absolut die richtige Entscheidung.
Keine Reue?
Nein. Im Nachhinein denke ich vielleicht: Das Ob war total in Ordnung – das Wie hätte ich womöglich etwas weniger drastisch gestalten können. Also weniger kurzfristig zurücktreten. Aber vielleicht ging es nur so.
Tut es noch weh?
Nein, im Gegenteil. Ich muss jetzt zum Beispiel nicht mehr bis morgens um drei Uhr Haushaltsverhandlungen führen. Wenn ich heute von Kolleg:innen so eine Nachricht lese, morgens um sieben Uhr, wenn ich aufstehe, denke ich: „Joa, und ich bin gestern um 21 Uhr ins Bett gegangen. Mir geht es richtig gut.“
Wie schwer war es, die Macht loszulassen, die mit Ihrem politischen Amt verbunden war?
Macht definiert sich nicht automatisch über Funktion, sondern über den Einfluss, den man erreichen kann. Und wenn man das Stadium erreicht, das ich erreicht habe, behält man auch ohne all die formalen Funktionen Einfluss. Wenn man das weiß, kann man entspannter Politik machen. Macht sollte ja auch nicht dem eigenen Ego dienen oder ein Selbstzweck sein, sondern helfen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
In einer idealen Welt wäre das so – in einer realen Welt spielt Ego aber natürlich eine Rolle. Niemand, der Macht hat, hat sie allein für die anderen. Und niemand kann sich ganz vom eigenen Ego befreien.
Da haben Sie recht.
So ganz ist es Ihnen ja auch nicht gelungen, die gestalterische Macht aufzugeben: Seit Oktober 2022 haben Sie wieder ein politisches Amt inne, sind verkehrspolitische Sprecherin der Berliner Grünen. Deswegen lassen Sie mich noch einmal nachhaken: Wie schwer war es auf einer persönlichen Ebene, das Amt der Fraktionsvorsitzenden loszulassen?
Natürlich war das ganz am Anfang sehr schwer. Vor allem, weil ich es gewohnt war, jeden Tag gefühlt eine Million Entscheidungen zu treffen. Aber es gibt jetzt eine große Erleichterung in mir, darüber, dass der belastende Teil der Macht nach meinem Rücktritt weggefallen ist. Nicht nur der Druck, auch unfassbar viele Termine. Ich bin froh darüber, dass ich bestimmte Dinge nicht mehr tun muss.
Welche?
„Ich glaube, der Zustand, in dem ich mich befunden habe, ist kein Einzelphänomen. Sondern einer, in dem sich sehr, sehr viele Menschen befinden. Nur konnte ich es mir leisten, Stopp zu sagen.“
Anjte Kapek
Die vielen Managementaufgaben zum Beispiel. Ich muss nicht mehr von morgens bis abends in einer Sitzung nach der anderen sitzen. Ich muss nicht mehr die ganze Zeit andere dazu bewegen, Dinge zu tun. Ich habe das lange gemacht und viel daraus gezogen. Aber irgendwann konnte ich keine Lernkurve mehr für mich erkennen. Es war dann vollkommen okay, zu sagen: „Diese Lebenserfahrung geht für mich jetzt zu Ende.“ Die Dinge, die mir wichtig sind, wie etwa das Gestalten, sind deswegen aber nicht weg. Genug Bühnen, in denen ich die Rampensau in mir und mein Ego bedienen kann, gibt es auch noch.
Können Sie sich erinnern, wie Sie sich gefühlt haben, direkt nach der Pressekonferenz zu Ihrem Rücktritt?
Ehrlich gesagt nicht. Ich weiß nur noch, wie der ganze Tag sich angefühlt hat: Ich war zutiefst traurig. Und vielleicht auch ein bisschen verzweifelt. Obwohl, nee, das nicht. Aber es ist mir extrem schwer gefallen, diesen Schritt zu gehen.
Warum ist der Rücktritt Ihnen so schwer gefallen?
Ich war sehr traurig, weil ich etwas, das ich eigentlich sehr geliebt habe und immer noch liebe, nämlich die Politik, zurücklassen musste. So wie wenn man in einer Beziehung weiß, es geht nicht mehr, obwohl man die andere Person noch liebt. Ich wollte nie etwas anderes machen als Politik, will ich auch immer noch nicht. Aber es ging eben nicht mehr.
Wie war die erste Woche nach dem Rücktritt? Was haben Sie da gemacht?
Ich erinnere mich an drei Dinge: Ich habe geschlafen, richtig viel. Ich habe mit Freunden telefoniert, was total toll war. Und ich habe eine große Stille wahrgenommen.
Wie schwer war es, diese Stille auszuhalten? Ich stelle es mir nicht einfach vor.
Es war tatsächlich sehr schwer.
Wie haben Sie es ausgehalten?
Ich weiß es nicht mehr. Ich hatte keine gute Strategie. Es hat etwas gedauert, bis ich damit umgehen konnte. Und dann habe ich angefangen, lauter idiotische Sachen zu machen: Zum Beispiel meine Abend- und Ballkleider zu bügeln und in Vakuumbeutel zu verschweißen oder Möbel zu restaurieren und zu lackieren. Parallel habe ich angefangen, Hörbücher und Podcasts zu allen möglichen politischen oder gesellschaftlichen Themen zu hören.
Zu welchen?
Worum ging es eigentlich bei Cum-Ex? Was ist der neueste Stand bei der Feminismus-Debatte? Für solche Fragen hatte ich jahrelang keine Zeit, aber heute finde ich es sehr bereichernd, diese Wissenslücken schließen zu können.
Wie sehr hat der Job als Fraktionsvorsitzende bis zu diesem Punkt Ihre Identität bestimmt, sagen wir auf einer Skala von 1 bis 10?
Das ist eine wirklich schwere Frage. Ich kann meine Person nicht strikt in die Politikerin Antje Kapek einerseits und den Privatmenschen Antje Kapek andererseits trennen. Vor dem Rücktritt gab es kein Gleichgewicht zwischen beiden Anteilen; auf einer Skala von 1 bis 10 war ich bei 8,5 die Rampensau, Politikerin und Managerin. Heute bin ich mit diesem Anteil meiner Person etwa bei einer 6, es gibt eine größere Balance. Ich bin keine andere Person als vor einem Jahr. Aber ich fühle mich deutlich entspannter. Fröhlicher auch, befreiter.
Welche Veränderungen hat der Rücktritt noch losgetreten?
Meine größte Erkenntnis war die zu verstehen, wie wichtig meine Freunde für mich sind. Und wie unglaublich glücklich und reich ich bin, dass es Menschen gibt, die mir trotz der vielen Jahre der Vernachlässigung privat treu geblieben sind. Was ich auch erst nach dem Rücktritt verstanden habe: Es gibt wirklich keinen Zwang, immer automatisch den nächsten Karriereschritt machen zu wollen. Warum auch? Heute weiß ich: Es ist völlig okay, auch mal einen Schritt zurückzugehen.
Dieses Gefühl, immer weitermachen und auch funktionieren zu müssen, wie sehr hatte das mit Ihrem eigenen Anspruch zu tun?
Weniger mit dem eigenen Anspruch als vielmehr mit meiner Persönlichkeitsstruktur.
Und die ist wie?
Ich bin eine Person, die sich schnell verantwortlich fühlt. Und die gern die Kontrolle hat. Wobei ich kein Kontrollfreak bin. Aber ich möchte gerne, dass die Dinge unter Kontrolle sind. Das heißt, wenn man in der Politik von einer weltpolitischen Krise in die nächste stolpert, hat man wenig Regenerationsphasen. Vielleicht schafft man es sogar, sich diese körperlich noch zu organisieren, zum Beispiel, wenn man ein Wochenende nach Brandenburg fährt oder doch mal alle sechs Wochen ein Wochenende frei hat. Aber mental ist man nie off, da gibt es keine Regeneration.
Gilt das speziell für den politischen Betrieb?
Ich glaube, dass dieser Zustand, in dem ich mich befunden habe, kein Einzelphänomen ist. Sondern ein Zustand, in dem sich sehr, sehr viele Menschen befinden, auch außerhalb der Politik. Vor allem gilt das für Frauen, die neben einer großen Verantwortlichkeit im Job auch noch Mutter sind. Wir haben es hier mit einem gesellschaftlichen Phänomen zu tun, bei dem ich lediglich den Luxus hatte, irgendwann sagen zu können: Stopp! Ich konnte mir das leisten, auch finanziell. Die meisten Menschen können das nicht.
Ich würde trotzdem gern noch einen Moment beim politischen Betrieb bleiben. Wie sehr haben dessen Strukturen zu Ihrem Zustand beigetragen? Sie haben in einem Interview mit dem Tagesspiegel mal gesagt, die Anforderungen dieses Betriebs seien eigentlich unmenschlich und nicht erfüllbar.
Genau. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als Abgeordnete habe ich noch nicht mal den Anspruch auf Elternzeit. Ich habe einen Anspruch auf Mutterschutz, aber die wenigsten Frauen, die in der Politik sind und Kinder kriegen, nehmen den Mutterschutz vollständig wahr. Sie arbeiten bis kurz vor der Geburt und steigen vor Ablauf der eigentlichen Frist nach der Geburt wieder ein.
Bei Ihnen war das auch so?
„Zwanzig Minuten bevor ich in den Kreißsaal geschoben wurde, habe ich mein letztes Radiointerview gegeben. Einen Tag, nachdem mein Kind auf die Welt gekommen ist, habe ich wieder gearbeitet.“
Antje Kapek
Bei meinem ersten Kind habe ich meine kommunalpolitischen Aufgaben bis zwei Wochen vor der Geburt ausgeführt und vier Wochen nach der Geburt wieder aufgenommen. Beim zweiten Kind war ich schon Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus; ich erinnere mich noch, dass ich eine Woche vor der Geburt zehn Stunden vorm Brandenburger Tor stand, bei 38 Grad, weil Barack Obama in Berlin zu Gast war. Zwanzig Minuten bevor ich in den Kreißsaal geschoben wurde, habe ich mein letztes Radiointerview gegeben. Einen Tag, nachdem mein Kind auf die Welt gekommen ist, habe ich wieder gearbeitet. Die Geburt selbst und die Zeit danach waren extrem anstrengend, sowohl körperlich als auch mental. Diese Anstrengung ist über Jahre geblieben. Ich habe diese Zeit erst jetzt wieder aufgeholt, Jahre danach. Dabei wäre es wahrscheinlich schlauer gewesen, viel früher mal eine Auszeit zu nehmen. Aber das ging nicht.
Wieso ging das nicht?
Ich wurde Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus kurz nach und zum Teil wegen einer schweren Krise, durch die meine Fraktion nach der Wahl 2011 gegangen war. Damit verbunden enstand eine große Verantwortung. Irgendwann gab es dann die Erwartungshaltung vieler Parteifreund:innen, aber auch von der Öffentlichkeit, Spitzenkandidatin zu werden. Eine Auszeit war unter diesen Bedingungen nicht drin.
Ich glaube, dass es vielen Menschen so geht: Man schafft es nicht, Nein zu sagen zu den Erwartungen anderer. Aber vielleicht auch zu den eigenen. Weil man den eigenen Anspruch nicht infrage stellt oder ihn eben nicht loslassen kann.
Es war in meinem Fall ja nicht nur der Anspruch, sondern auch eine riesengroße Chance, die mich angetrieben und motiviert hat, immer weiterzumachen. Als Teil der Regierung mit am Berliner Senatstisch zu sitzen und mitgestalten zu können, hatte mir auf einmal Einflussmöglichkeiten gegeben, von denen andere nur träumen können. Und davon wurden es mit zunehmender Zeit immer mehr. Lange ging die Rechnung für mich deswegen gut auf: Die Härte der Arbeit wurde durch politische Erfolgserlebnisse gerechtfertigt. Das hat die Anstrengung wett- und gutgemacht für mich.
Trotz des Erfolgs: Lässt der politische Betrieb als System überhaupt eine gute Selbstfürsorge zu?
Das kommt auf die Position an. Als Ministerin zum Beispiel geben Sie jegliche Selbstbestimmung ab, da sind Sie absolut fremdbestimmt.
Welche Rolle spielt die Öffentlichkeit?
Die öffentliche Wahrnehmung ist gnadenlos gegenüber Menschen in der Politik.
Spielen Sie mit dieser Aussage auf Ihre Grünen-Kollegin Anne Spiegel an? Also auf deren Rücktritt im April 2022?
Sie ist ein sehr prominentes Beispiel dafür. Aber generell gilt: Politiker:innen wird es nicht zugestanden, mal krank zu sein oder ein Wochenende frei zu haben oder überhaupt irgendeine Art von menschlichen Bedürfnissen. Jede Äußerung von Menschlichkeit wird öffentlich zerrissen. Die Wahrheit aber ist: Mein Handy war in all den Jahren immer an. An allen Wochenenden. Meine Arbeitstage gingen in der Regel von 6.30 Uhr bis 21 Uhr, vor allem in der Pandemie. Lückenlos. Manchmal hatte ich im ersten Lockdown zwei Konferenzen an zwei Rechnern parallel laufen. Keine Bewegung, kein Szenenwechsel, keine Selbstfürsorge. Diese Zeit war der Bruch für mich.
Wie läuft es heute mit der Selbstfürsorge? Wenn Sie sich selbst eine Note geben müssten?
Das ist ja eine gemeine Frage! Wie läuft es denn bei Ihnen?
Kann ich Ihnen sagen: Ich war immer sehr schlecht in Selbstfürsorge, bin Jahre lang hochtourig unterwegs gewesen, ohne große Pausen. Irgendwann ging das nicht mehr so gut, also habe ich ein paar Sachen umgestellt. Ich musste erst lernen, gut für mich zu sorgen. Aber zurück zu Ihnen: Auf einer Schulnoten–Skala von 1 bis 6, wie würden Sie Ihre Selbstfürsorge bewerten?
Eine 3-, würde ich sagen.
Von vorher einer 5 oder 6 zu einer 3-, das ist doch super!
Na ja. Die Mental Load zu stemmen, kriege ich jetzt super hin, also als Politikerin und Mutter. Da schaffe ich gut die Balance. Worin ich immer noch nicht so gut bin: Kochen und Sport machen. Das hat aber nichts mit dem politischen Betrieb zu tun, sondern mit meinem inneren Schweinehund.
Was machen Sie heute für Ihre Selbstfürsorge, wenn doch mal alles erledigt und organisiert ist?
Ich brauche Momente des Müßiggangs, zum Beispiel wenn ich morgens mit einer Tasse Kaffee allein im Bett sitze und Zeitung lese. Wenn ich meine Gedanken fließen lassen kann, ungerichtet und kreativ. Ich brauche meine Freunde. Ich fahre gerne in den Wald.
War die Selbstfürsorge schwer zu lernen?
Nein. Das ist ja alles keine Raketenwissenschaft. Ich weiß, was mir gut tut. Und ich beherzige es immer häufiger, gut für mich zu sorgen. Also ausreichend zu schlafen, mich gesund zu ernähren, abends meine digitalen Geräte auszuschalten, regelmäßig zu meditieren.
Wir machen direkt den Test: Wann haben Sie zum letzten Mal meditiert?
Das ist jetzt ein paar Wochen her, zugegeben. Aber ich fühle heute ja auch nicht mehr den Stress in der Form wie vor dem Rücktritt.
Und ihr Handy? Ist das gerade an- oder ausgeschaltet? (Es liegt direkt vor Antje Kapek auf dem Tisch.)
An. Aber ich habe noch kein einziges Mal während unseres Gesprächs draufgeschaut. Früher wäre das ganz anders gewesen.
Fair enough. Würden Sie sagen, dieser Transformationsprozess, den der Rücktritt für Sie persönlich bedeutete, ist mittlerweile abgeschlossen?
Eine Freundin von mir sagte zwei, drei Wochen nach dem Rücktritt zu mir: Wenn man so einen lebensverändernden Schritt geht, muss man durch einen Prozess durch. Für mich war das Schlimmste ganz am Anfang, nicht zu wissen, was die Zukunft bringt. Es gab eine bestimmte Zeit der Orientierungslosigkeit. Wenn man durch solch einen Prozess durch muss, ist das, wie wenn Kinder in einem Abenteuerfilm durch einen Tunnel in einer Höhle durchtauchen, um entweder das Licht am Ende der Höhle zu erreichen oder die Schatzkiste. Diesen Tunnel hindurch zu schwimmen, ist anstrengend und beengend, vielleicht auch beängstigend, aber es ist wichtig. Weil man sonst weder das Licht noch die Schatzkammer erreichen kann.
Sind Sie mittlerweile raus aus dem Tunnel?
„Selbstfürsorge ist ja keine Raketenwissenschaft. Ich weiß, was mir guttut.“
Antje Kapek
Ich bin auf jeden Fall im lichten Bereich. Ich mache heute als verkehrspolitische Sprecherin der Berliner Grünen wieder Politik, in dieser neuen Rolle bin ich angekommen und erfahre dadurch ein neues Level beim Loslassen. Das ist alles anstrengend, aber der Prozess ist auch toll! Weil man sich selbst kennenlernt – und weil die Veränderung ein Schritt zu sich selbst ist. So gesehen ist schon der ganze Prozess ein Akt der Selbstfürsorge.
Was haben Sie durch diesen ganzen Prozess über das Thema Arbeit gelernt, was Sie gerne schon vor zehn oder fünfzehn Jahren gewusst hätten?
Es hat mir an der Stärke gefehlt, ab und zu Stopp zu sagen, auch mal Pause zu machen. Das wäre vielleicht möglich gewesen, wenn ich mich von der Öffentlichkeit und den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft nicht so hätte verrückt machen lassen. Ich glaube übrigens, das passiert Frauen viel schneller als Männern.
Frauen zweifeln auch viel schneller an sich.
Eine gute Übung für Frauen ist diese: Jeden einzelnen Zweifel und jeden einzelnen Grund für ein schlechtes Gewissen auf ein Blatt Papier schreiben, gucken, ob die Liste vollständig ist. Dann das Papier zerknüllen, es wegschmeißen und sich fragen: „So, und was für einen Unterschied macht das jetzt?“ Nämlich gar keinen. Zweifel und schlechtes Gewissen bringen einen Null weiter. Außer, dass andere einen dadurch besser manipulieren können.
Was würden Sie einer Person raten, die sich sehr erschöpft fühlt und sich plagt mit der Frage: aufhören oder weitermachen? Festhalten oder loslassen?
Erstmal krankschreiben lassen. Und vor sich selbst anerkennen, dass man so erschöpft ist, dass man Erholung braucht. Es ist in Ordnung, sich dafür Zeit zu nehmen. Dann aktiv in die Erholung gehen.
Würden Sie sich externe Hilfe holen?
Das kann hilfreich sein, etwa bei der alles entscheidenden Frage im Leben: Was will ich eigentlich? Denn darum geht es. Nicht darum, was man glaubt zu müssen. Sondern darum, was man wirklich will.
Redaktion: Julia Kopatzki, Bildredaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert