Es war meine zweite Woche in der Psychiatrie und ich saß im Esszimmer der Station. Ich stocherte im geschmacklosen Mittagessen herum und versuchte, ein Gespräch mit meiner Tischnachbarin zu beginnen. Ich nenne sie hier Marina. „Und … wie ist dein Tag heute?“, fragte ich.
Marina trug schwarze Kleidung, hatte tiefe Augenringe und schaute mich müde an. Wir waren beide aus demselben Grund in der Klinik und der stand auf der Eingangstür: Depressionsstation. Marina lächelte verunsichert und sagte: „Ich war gerade bei der Elektrokrampftherapie.“
Ob man da Stromstöße bekommt, fragte ich.
„Ja“, sagte sie.
Ich ließ die Gabel fallen. „DAS hilft dir?“
Marina sagte, sie sei ein verlorener Fall. Sie habe alles versucht. Bisher hätte nichts ihre Depressionen gelindert. Keine Psychotherapie und auch keine Psychopharmaka. „Aber die EKT, die bringt echt was. Mir geht es danach ein bisschen besser.“
Niemals würde ich mir Stromschläge verpassen lassen, dachte ich damals. Aber woher kamen meine Vorbehalte? Meinem Zimmernachbarn, nennen wir ihn Roland, ging es ähnlich. Doch er hatte nicht nur Vorbehalte – er hatte Angst.
„Martin … die – die haben … mir…“, stotterte er am nächsten Tag und ließ sich auf sein Bett fallen. „Die wollen, dass ich eine EKT mache!“ Roland holte Luft. „Auf gar keinen Fall lasse ich mich verkabeln und mir Elektroschocks durch den Kopf jagen! Niemals!“
Zwei Tage lang zitterte Roland. Nachts konnte er nicht einschlafen, tagsüber stand er neben sich. Die Angst vor der EKT saß ihm im Nacken und ließ ihn nicht mehr los. Obwohl sein Arzt ihm die Therapie wieder und wieder nahelegte, wollte Roland nicht. Er entschied sich gegen die EKT. Bei mir blieb ein mulmiges Gefühl. Bis heute. Wie kann eine Behandlungsform für Marina die Rettung, aber allein die Vorstellung für Roland der absolute Horror sein?
Ich starte die Recherche – mit eurer Hilfe
Mittlerweile sind drei Jahre vergangen – und ich begebe mich auf die Suche nach Antworten. Nicht als Patient, sondern als Reporter. Und eines weiß ich schon jetzt: Ich bin nicht alleine. Ich bin mir sicher, dass unter meinen Newsletter-Leser:innen Leute sind, die sich schon einmal mit der EKT beschäftigt haben. Die sich ähnliche Fragen stellen. Oder sogar Antworten haben. Ich will wissen: Wie funktioniert die EKT genau? Und warum ist die Angst davor so groß – obwohl sie einigen Patient:innen scheinbar hilft?
Deshalb habe ich euch in einer Ausgabe meines Newsletters aktiv um Mithilfe gebeten – und ein leeres Recherchedokument an über 6.000 Empfänger:innen verschickt. Innerhalb weniger Tage war das Recherchedokument über vier Seiten lang. Ihr könnt es euch hier anschauen. Darin findet ihr Tipps, Studienlinks und viele Hinweise, die mir bei der Recherche sehr geholfen haben. An dieser Stelle: Herzlichen Dank an alle, die sich beteiligt haben!
Der erste Link, auf den ich geklickt habe, führt mich zu einer Dokumentation aus dem Jahr 2020 mit dem Titel „Neustart fürs Gehirn: Wege aus der Depression“. Die Wissenschaftsjournalistin Julia Zipfel berichtet darin über ihre eigenen Depressionen – und macht sich auf den Weg, unterschiedliche Therapieverfahren kennenzulernen und zu prüfen. Ketamin-Nasensprays, Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie – und auch Elektrokonvulsionstherapie, die EKT.
Zipfel besucht die Uniklinik Bonn, die die EKT an Patienten mit schweren Depressionen durchführt und lässt sich verkabeln – vorerst ohne Stromstoß. Eine Ärztin erklärt den Ablauf: „Wir machen das in einer Kurznarkose, wo wir Herz-Kreislauffunktionen die ganze Zeit überwachen können.“ Außerdem würde ein Muskelrelaxans verabreicht werden, das die Muskulatur entspanne, um Schäden zu vermeiden.
Und dann sagt die Ärztin einen Satz, der mich überrascht: „Die EKT-Behandlung ist das Therapieverfahren, das bei schweren Depressionen am schnellsten und zuverlässigsten zu einer Reduktion bis hin zu einer Remission, also einem vollständigen Verschwinden der depressiven Symptome führt.“ Dies könne in dieser Schnelle kein anderes Therapieverfahren schaffen. Ich stoppe das Video.
Ich habe seit meiner Kindheit schwere depressive Episoden, deshalb muss ich im Schnitt alle zweieinhalb Jahre in die Klinik. Es klingt schon fast zu schön, um wahr zu sein: Einfach verkabeln lassen, Vollnarkose, geheilt! Vielleicht bin ich aber auch ganz schön naiv, denke ich. Denn diesen Schluss ziehe ich nur aus zwei Sätzen, die eine Ärztin im Fernsehen sagt. Also steige ich tiefer in die Recherche ein.
So funktioniert die EKT
Der schlechte Ruf der EKT steckt vermutlich schon im Namen. Früher wurde sie Elektrokrampf- oder auch Elektroschocktherapie genannt. Da das nicht unbedingt vertrauensvoll klingt, wird sie heute als Elektrokonvulsionstherapie bezeichnet. Konvulsion wiederum bedeutet eigentlich genau das Gleiche: einen Krampf bekommen.
Die EKT ist eine Methode, die in den 1930ern entwickelt wurde und seither bei Menschen mit Schizophrenie oder Depressionen angewendet wird. Dabei wird das Gehirn durch einen Stromimpuls angeregt, der durch Elektroden an der Kopfhaut verabreicht wird. So wird ein Krampfanfall ausgelöst. Das Nervengewebe wird dabei nicht geschädigt, das konnten zahlreiche Studien bestätigen. Die Krampfanfälle lindern die Symptome der beiden Erkrankungen – das ist unbestritten.
Warum das so ist, wird bis heute erforscht und ist nicht abschließend geklärt. Eine Hypothese ist, dass psychische Erkrankungen eine Störung der neuronalen Netzwerke des Gehirns mit sich bringen und die EKT dem nicht nur entgegenwirkt, sondern auch die Neubildung von Nervenzellen und ihren Verbindungen fördert.
Früher behandelte man Patient:innen ohne Vollnarkose. Heute wird die EKT nicht nur unter Vollnarkose, sondern auch mit einem Muskelrelaxans durchgeführt, was die körperliche Reaktion abmildert. Eine Sitzung dauert kaum mehr als eine Minute. Demzufolge ist die EKT ein sicheres und ungefährliches Verfahren, das in Deutschland an etwa 150 Kliniken durchgeführt wird – also an mehr als einem Drittel der deutschen psychiatrischen Fachkliniken und -abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern.
Trotzdem haben auch heute noch viele Menschen Schwierigkeiten, dem Verfahren zu vertrauen. Ich rufe deshalb Dr. Stephanie Tieden an. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, arbeitet als Oberärztin im Bezirkskrankenhaus Bayreuth und behandelt dort Menschen mit der EKT.
Die EKT hilft der Hälfte aller Patient:innen
Stephanie Tieden kennt die Skepsis sehr gut. „Wenn man weiß, dass Ärzte in den 50ern und 60ern allen, die irgendwie nicht funktioniert haben, eine EKT ohne Narkose und ohne Einverständnis verabreicht haben, ist die Angst durchaus verständlich.“ Dies sei heute aber nicht mehr der Fall. Wenn ein Patient oder eine Patientin große Vorbehalte gegenüber einer EKT habe, würde Tieden diese nicht überreden. Die Autonomie der Patent:innen sei ihr besonders wichtig.
„Die EKT ist nicht für alle Patient:innen das Richtige. Dazu müssen die Voraussetzungen gegeben sein“, so Tieden. Die Diagnose käme zuerst: Depressionen. Und davon auch keine leichten, sondern mindestens mittelschwere, die zuvor mit Antidepressiva und Psychotherapie behandelt wurden.
„Erst wenn all das nicht geholfen hat, die Depression nicht wirklich besser geworden ist und der Patient sehr darunter leidet, bringe ich die EKT ins Spiel“, sagt die Ärztin. Dann könne es eine hochwirksame und gute Methode sein, um akute Symptome schnell zu lindern. „Wir haben dann eine 50-prozentige Chance auf Besserung.“
Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstehe: Wenn die EKT so wirksam ist, warum wird dann so lange gewartet? „Weil die EKT wesentlich invasiver ist als Medikamente und Psychotherapie“, sagt Tieden. Die EKT sei komplizierter und aufwendiger. In der Regel bekämen Patient:innen zwischen zehn und 15 Behandlungen – zwei bis drei pro Woche. Die EKT berge außerdem bestimmte Risiken. Ich ahne, was nun kommt und erinnere mich an das, was meine Mitpatientin Marina sagte.
„Die EKT hat einen Nachteil“, sagte Marina, als wir am Esstisch saßen und verschränkte die Arme. Es schien ihr unangenehm zu sein. Sie habe die EKT an diesem Tag nicht zum ersten Mal bekommen, sagt sie, sondern würde das regelmäßig machen. „Manchmal fehlen mir die Erinnerungen von dem Tag, an dem ich EKT bekommen habe.“
Löst die EKT wirklich Erinnerungslücken aus?
„Einige Patient:innen bemerken Gedächtnisstörungen“, bestätigt Stephanie Tieden. Tieden spricht hier vom Kurzzeitgedächtnis und von den Tagen, an denen die EKT verabreicht wurde. Manche könnten dann nicht mehr sagen, was sie an diesen Tagen mittags gegessen hätten oder ob ihr:e Partner:in einen Tag früher oder später zu Besuch gekommen sei. In ihrer Zeit als Ärztin hätte Tieden auch eine Patientin behandelt, die ihren gesamten Klinikaufenthalt von vier Wochen nicht mehr erinnern könne. „Diese Probleme gibt es, ich möchte da gar nichts beschönigen.“
Doch viele Patient:innen, sagt Tieden, wären damit einverstanden. Sie nehmen die Nebenwirkungen in Kauf. Einige würden sagen, es wäre ihnen lieber, ein paar Dinge zu vergessen, aber eine deutliche Linderung ihrer Krankheit zu spüren, statt weiterhin krank zu bleiben – und alles zu erinnern. Eine weitere Nebenwirkung seien Kopfschmerzen, die durch die Anspannung der Gesichtsmuskulatur beim Krampf durch den unmittelbaren elektrischen Impuls ausgelöst werden.
EKT wird neben Depressionen auch bei Schizophrenie eingesetzt, und Tieden erinnert sich an eine Patientin, die unter massiven Wahngedanken litt. „Diese Frau war mehrere Jahre von ihrer Krankheit geplagt“, so Tieden. Nach drei Behandlungen habe die Patientin schon gemerkt, dass es ihr besser ging. „Und nach zehn Behandlungen waren alle wahnhaften Gedanken weg“, berichtet Tieden. Das hätte die Ärztin sehr beeindruckt.
Die meisten Expert:innen befürworten die EKT
Mich beeindruckt das auch. Die EKT scheint unangenehme Nebenwirkungen mit sich zu bringen, aber insgesamt eine sehr effektive Behandlungsmöglichkeit zu sein. So sehen das auch andere. Bei meiner Recherche begegne ich einer Vielzahl an positiven Stimmen.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) klärt in ihrem Ratgeber über die wichtigsten Fakten auf und sagt „die EKT habe sich über mehrere Jahrzehnte im klinischen Alltag hervorragend bewährt und sei dadurch technisch ausgereift.“ Auch die Bundesärztekammer sprach sich in einer Stellungnahme für die EKT aus – schon 2003. Die EKT sei eines der sichersten Behandlungsverfahren überhaupt. Die Risiken der Behandlung wären im Wesentlichen die Risiken der Narkose.
„Das Mortalitätsrisiko der EKT liegt bei 1:50.000 Einzelbehandlungen“, so die Kammer. Das heißt: Wenn drei Patienten wöchentlich jeweils drei EKT unterzogen werden, ist statistisch alle 100 Jahre mit einer schwerwiegenden Komplikation zu rechnen. „Die immer wieder gezielt in die Öffentlichkeit getragene Darstellung der Elektrokrampftherapie als veraltete, überholte oder gar inhumane und grausame Behandlungsmethode ist falsch und beruht weitgehend auf einer mangelhaften Information“, so die Ärztekammer. Die DGPPN gibt zwar ein etwas höheres Mortalitätsrisiko an, an der Tatsache, dass sie sehr sicher ist, ändert das aber nichts.
Das mag ja alles sein, denke ich, während ich von der EKT immer überzeugter bin. Aber warum gibt es bis heute Menschen, die dem Verfahren misstrauen? Die Angst ist geblieben. Bei Roland. Und trotz all des Wissens ehrlich gesagt auch bei mir.
Das sagen die Kritiker:innen
Auch heute gibt es immer noch Kritiker:innen, die in dem Verfahren viele Nachteile sehen und die damit Vorbehalte von Patient:innen bestärken. Einer dieser Kritiker ist Jann Schlimme, auf dessen Name ich im Community-Recherchedokument aufmerksam geworden bin. Er ist Psychiater und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Berlin. Für ein Gespräch über die EKT rufe ich ihn an.
Schlimme sagt: „Es gibt offensichtlich viele Menschen, die mit der EKT sehr gute Erfahrungen machen und davon profitieren.“ Allerdings gebe es auch andere, die sich nach der Behandlung „insgesamt anders“ fühlen. Schlimme spricht Gedächtnislücken an. Diese könnten seiner Erkenntnis nach auch länger zurückliegende Ereignisse betreffen, nicht nur die aus der Zeit der EKT.
Schlimme zitiert eine britische Übersichtsstudie aus dem Jahr 2003, in der 26 Studien zur EKT miteinander verglichen wurden und die Ansichten der Patient:innen über den Nutzen und den möglichen Gedächtnisverlust durch die EKT ermittelt wurden. Gleich zu Beginn konstatieren die Wissenschaftler:innen: „Mindestens ein Drittel der Patient:innen berichtete über anhaltenden Gedächtnisverlust.“
Anhaltend. Worum geht es hier?
Es geht um die Dauer des Aussetzens von Erinnerungen. Diese bezeichnen Verbände wie der DGPPN so: „Ein Teil der Patienten klagt nach der EKT vorübergehend über sogenannte kognitive Störungen, das heißt gestörte Denkvorgänge, meist in Form von Lern- oder Gedächtnisstörungen.“ Diese würden im Verlauf von Tagen bis wenigen Wochen völlig abklingen und als inselförmige Gedächtnislücken selten längere Zeit überdauern.
Aber: Diese Inseln bleiben, das sagt die Studie, bei manchen Patient:innen nicht vorübergehend, sondern permanent. Das ist ein wichtiger Unterschied. Am Ende der Studie finde ich einen Absatz, der das noch übertrumpft. Ich habe ihn übersetzt und hier leicht gekürzt:
„In einer Studie wurden die Teilnehmer gebeten, die Aussage zu bewerten, dass ‚die Elektrokrampftherapie große Teile des Gedächtnisses dauerhaft auslöscht.‘ Ein Drittel der Personen, die eine Behandlung erhalten hatten, stimmten dieser stark formulierten Aussage zu.“
Zur Beruhigung: Diese Ergebnisse stecken in nur einer Studie, in den anderen 25 ist davon keine Rede. Dennoch: Es kann unter der EKT passieren, dass man für immer vergisst.
Was, wenn ich mich an die Geburt einer meiner Töchter nicht mehr erinnern könnte, bei der ich vor lauter Tränen kaum etwas sehen konnte? An die erste Zigarette im Rauchereck der Realschule? Es gibt Momente in meinem Leben, die möchte ich nicht verlieren, weil sie kleine Schätze auf meinem Lebensweg sind.
Es gibt Kritiker:innen, die die EKT als Folter beschreiben. Das hält Jann Schlimme allerdings für übertrieben: „Die Kritiker:innen meinen, dass die EKT Hirnschäden verursacht – und damit ein primär schadendes Verfahren ist. Aber das konnte nicht nachgewiesen werden.“
Und selbst Schlimme wird am Ende unseres Gesprächs versöhnlich: Mindestens die Hälfte, wenn nicht sogar zwei Drittel seiner Patient:innen würden in den frühen Phasen der Therapie gute Erfahrungen machen. Nur dass diese Wirkung oft nicht lange anhalte. „Obwohl eine dauerhafte Besserung doch das ist, was wir für die Patient:innen erreichen wollen“. Die Behandlung wird dann zu einem Dauerzustand, einer Erhaltungs-EKT, in der die Behandlung über einen langen Zeitraum monatlich wiederholt wird. „Diese Patient:innen fühlen sich mit der Zeit nicht besser, sondern schlechter.“
Wie lange wirkt die EKT?
Ein Problem, das Schlimme identifiziert hat, ist, dass die Kliniken bei einer stationären Behandlung auch unter großem Erwartungsdruck stünden. Bei vielen Patient:innen soll „das Ruder rumgerissen“ werden – und viele Ärzt:innen würden das auch gerne schaffen. Mit Medikamenten und auch der EKT kann man kurzfristig Erfolge verzeichnen. „Aber wie sehen die langfristigen Verläufe aus? Und was macht das alles mit den Betreffenden?“
Ich habe versucht, die Langzeitwirkungen der EKT zu prüfen. Doch nennenswerte Aussagen zu treffen, ist kaum möglich. „Zu den Langzeitwirkungen der EKT gibt es sehr wenige Studien“, bestätigt Stephanie Tieden. „Manche Patient:innen kommen nach drei, vier Monaten wieder, weil es ihnen wieder schlechter geht.“ Bei anderen wiederum habe die EKT den Nebeneffekt, dass ihr Gehirn danach besser auf Medikamente anspreche. In einigen Fällen würde auch Tieden auf die sogenannte Erhaltungs-EKT zurückgreifen, bei der Patient:innen im Vier- bis Sechs-Wochen-Rhythmus zu einer Behandlung teilstationär in die Klinik kämen. „Und die sind dann stabil.“ Die längste Erhaltungs-EKT erstrecke sich an Tiedens Klinik über zwei Jahre.
Halten wir also fest: Die Angst vor der EKT ist zu großen Teilen unbegründet. Die Therapie ist so gut wie ungefährlich für den Körper – kann aber zu Erinnerungslücken führen. Die eigentliche Frage, die man sich als Patient:in stellen sollte, ist, ob man mit diesem Gedächtnisverlust leben und sich vorstellen kann, die Therapie über mehrere Monate oder sogar Jahre hinweg in Anspruch zu nehmen. Denn auch wenn die Wirksamkeit der EKT bewiesen ist, hilft sie vor allem kurzfristig. Sie kann also eine zeitweise Entlastung sein, aber sie ist, wenn man wirklich gesund werden will, auch eine langfristige Verpflichtung.
Warum hält sich die Angst so hartnäckig?
Und doch: Wenn ich mir vorstelle, bei meiner nächsten Depression verkabelt eine Vollnarkose zu bekommen, steigt in mir trotzdem noch dieses Gefühl auf: Gruselig. Nur liegt das vielleicht gar nicht an der EKT, sondern an ihrer Geschichte – und an Hollywood.
Ihr kennt sicherlich diese Fotografie:
Das Bild zeigt den französischen Arzt Guillaume-Benjamin Duchenne, der die Elektrizität seit 1833 als neue medizinische Behandlungsform nutzte und unter anderem mit den Gesichtszügen seiner Patient:innen experimentierte. Diesem Patienten hier sind die Angst und auch der Schmerz wortwörtlich ins Gesicht geschrieben. Das Foto steht sinnbildlich für die Experimente, die Ärzt:innen im 19. und bis ins 20. Jahrhundert mit Strom durchgeführt haben. Ein Ergebnis dieser Experimente ist der elektrische Stuhl, auf dem bis heute unzählige Menschen exekutiert wurden – und der unter anderem in einzelnen Bundesstaaten der USA bis heute als Hinrichtungsmethode genutzt wird. Das ist die eine Seite des Elektroschocks – die dunkle Seite.
Auch das „Milgram-Experiment“ hat nicht gerade dazu beigetragen, dass wir Elektroschocks als Behandlungsmethode vertrauen. In diesem Experiment wurden 1962 Freiwillige an der Yale Universität gebeten, Versuchspersonen vermeintliche Elektroschocks zuzufügen, bis diese sich unter Schmerzen krümmten. Das Experiment war gefaked, die Schocks waren unecht. Doch das Experiment bewies, wie leicht Menschen durch eine Autoritätsperson dazu gebracht werden können, andere Menschen zu misshandeln.
Und dann ist da ja auch noch Hollywood. Erinnert ihr euch an den Film „Einer flog übers Kuckucksnest“? Jack Nicholson spielt darin einen Patienten, der eine EKT ohne Narkose bekommt. Mir haben sich die Bilder ins Gedächtnis gebrannt. Wer den Film gesehen hat, denkt womöglich, dass eine EKT genauso abläuft. Womöglich war es in den 1950er und 60er Jahren auch so, als EKTs in Psychiatrien noch ohne Einwilligung und ohne Vollnarkose vollzogen werden durften. Noch schlimmer war die Zeit davor, denn all das erinnert vor allem Deutsche an die Verbrechen vieler Psychiater:innen im Nationalsozialismus, die 400.000 psychisch Kranke zwangssterilisierten oder ermordeten und uns noch heute glauben lassen, dass es in der Psychiatrie nicht mit rechten Dingen zugeht.
Heute gehört das zum Glück der Vergangenheit an. Doch die Tatsache, dass die Forschung bis jetzt nicht abschließend geklärt hat, wie genau die EKT im Gehirn wirkt, lässt Einzelne an der Methode zweifeln und macht es schwer, den behandelnden Ärzt:innen zu vertrauen. Hinzukommt, dass viele Menschen eine Vollnarkose fürchten. Und auch die Erinnerungslücken bleiben eine Nebenwirkung, die sich nicht ausschließen lässt.
Wenn du dich auch fragst, ob eine EKT das Richtige für dich ist, solltest du das im Hinterkopf behalten. Doch die Frage ist, was wir mit unserer Angst machen. Sie basiert auf Mythen, wirklich schlimmen Geschichten, die der Vergangenheit angehören – und falschen Vorstellungen von einer Elektroschocktherapie, wie sie heute nicht mehr praktiziert wird. Wir erinnern uns, laut der Bundesärztekammer ist die EKT eine der sichersten Behandlungsverfahren überhaupt. Die Möglichkeit, Erlebnisse aus der Zeit der Behandlung zu vergessen, steht der 50-prozentigen Chance gegenüber, eine tatsächliche Besserung zu erfahren.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert